Mittwoch, 25. März 2020 – Neue Geschichten aus dem Staatsarchiv

Das Staatsarchiv St.Gallen bietet Ihnen neu unter dem Titel «Archivsplitter» immer am Montag, Mittwoch und Freitag kleine Einblicke in die kantonale Vergangenheit, die Inhalte seiner Archivalien und in seine Aufgaben.

Näheres dazu unter folgendem Link:

https://www.sg.ch/kultur/staatsarchiv/uber-uns/historische-einblicke.html%MCEPASTEBIN%

Oder über die Homepage:

https://www.sg.ch/kultur/staatsarchiv.html

 

Donnerstag, 2. Januar 1919 – Abschied

Der Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 gilt als offizielles Ende des Ersten Weltkriegs. Damit war die Welt aber nicht sozusagen von einem Moment auf den anderen wieder «in Ordnung». Der Krieg wirkte noch lange nach, und insofern könnte man diesen History Blog weiterführen. Die Lebensmittelrationierung beispielsweise blieb auch 1919 noch bestehen, wie die folgende Quelle zeigt:

Rationierungskarte

Nach wie vor musste überall gespart werden:

Stempel "Spart Fleisch"

Auch ohne Krieg blieb der Kanton St.Gallen Anfang 1919 nicht von Katastrophen und Unglücksfällen verschont. Am 5. Januar zerstörte ein Wintersturm zahlreiche Gebäude, insbesondere in den Gemeinden Grub und Eggersriet, und am 6. Februar gab es beim Brand im Armenhaus in Wattwil mehrere Todesopfer:

Haus Eggersriet

Armenhaus Wattwil

Wie in den Jahren zuvor liessen sich auch für 1919 Bilder und Texte zu Alltag und Festtag finden, exemplarisch hier der kleine Mann, der im Sommer 1919 auf dem Pizol noch höher hinaus wollte, und der Festumzug in Nesslau:

Karl Stiefel Pizol

Festumzug Nesslau

Noch weiter ins 20. Jahrhundert und seine spezifischen Probleme deutet der Brief des Automobilclubs vom 2. Juni, in dem es um die Staubbelastung durch die neuen Verkehrsmittel ging:

AutomobilclubGleichwohl beenden wir an dieser Stelle den schon weit über das ursprünglich konzipierte Erscheinen hinaus fortgeführten Blog und bedanken uns herzlich für das Interesse an unserem Projekt.

Wer die Beiträge erneut konsultieren möchte, kann dies vorderhand unter der üblichen Adresse https://zeitfenster1916.ch/ oder auf https://twitter.com/Zeitfenster1916/ tun. Wir planen jedoch, den Inhalt des Blogs mittelfristig über die Homepage des Staatsarchivs St.Gallen zu publizieren.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 238/07.04-15 (Festumzug in Nesslau, 1919), W 207/73.3 (Couvert mit Stempel «Spart Fleisch»), W 207/74.1 (Friedensmarken 1919), W 207/89.1 (Kantonales Laboratorium St.Gallen: Rationenausweis für Mehl und Gries, 03.02.1919), ZMA 18/02.10-6 (Eggersriet: Vom Sturm verwüstetes Haus), ZMH 64/722a (Briefkopf: Automobil-Club der Schweiz, Section St.Gallen-Appenzell, 02.06.1919) ZOF 002/08.16 (Karl Stiefel auf einer Pizol-Tour, 1919)

Scherenschnitt Doris Schwarz

Mittwoch, 1. Januar 1919 – Neujahr: Katze im Geigenkasten

Fortsetzung der Tagebucheinträge von Alfred Schwarz (vgl. Beiträge vom 23.-25. und vom 31. Dezember 1918)

1.I.1919. (Neujahr. – Mittwoch.) – Mit T[h]eo im Bett geschwätzt. – Dann bald aufgestanden (9h). – Allerlei mit den Kindern gespielt. – Ankunft von Doris [Schwarz, Schwester von Alfred Schwarz]! – Mittagessen. – Gemeinsamer Spaziergang auf den Zürchberg (Fluntern, neue Kirche!), resp. seinen Anfang . – Jause. – – Dann mit Doris fort (ca. 5h) & zu Hugi in die Gemeindestrasse. – von Hugi & seiner Schwester Margrit sehr nett & gemütlich empfangen & in ihrer «Bude» ein vergnügtes Tee-Plauderstündchen verbracht! – Von dort direkt zu Hugs zum Nachtessen! x [Zeichen für Einschub resp. Nachtrag, s. unten] – Nach dem Nachtessen geplaudert (im Weih. Zimmer natürlich!) & nocheinmal den Christbaum angezündet! – Doris schildert das tägliche Wiener «Menu» (Rübensuppe & Sauerkraut oder umgekehrt!) – «Loos»-Theorie vom «Sitzen» wird von Hans, Evi & mir «ausprobiert»! – Während die anderen im Musikzimmer musizieren & zuhören, erzählt Evi bei Christbaumbeleuchtung von ihrem Genfer Leben! Dann geht auch Hans ins Musikzimmer & wir zwei warten noch das Abbrennen der letzten Kerze ab & gehen dann auch hinüber! – Hier wird noch gegeigt, & zw. von Onkel Ad. auf einer alten Meistergeige aus dem Geschäft (Wert Fr. 60000.-!) jedoch dann bald Schluss gemacht. Katze im Geigenkasten! – Noch ein wenig im Weih.Zimmer gelesen & geplaudert. Dann Aufbruch & Heimweg zu Baumanns! Theo wieder nicht aufgewacht! – Nachtrag: x Von Doris Wiener Geschenke & «Guetsli [Plätzchen] von Zuhause» erhalten!

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/140.07-07 (Tagebuch Alfred Schwarz für die Weihnachts- und Neujahrstage 1917 und 1918) und W 054/144.03.06-18 (Scherenschnitt Doris Schwarz, 1920)

kompagniecoiffeur beim Raiseren, 1916

Dienstag, 31. Dezember 1918 – Silvesterabend im Freundeskreis

Fortsetzung der Tagebucheinträge von Alfred Schwarz (vgl. Beiträge vom 23.-25. Dezember 1918)

Alfred Schwarz reiste für Silvester und Neujahr erneut von Winterthur, wo er arbeitete, nach Zürich. Er übernachtete diesmal aber nicht bei seinen Verwandten, sondern bei Bekannten:

30. XII. (Montag.) – Dorises Brief aus – Zürich! – («Ausladung» für d. Neujahrstage bei Hugs, resp. «Umladung» zu Lily Baumann!) –

Doris Schwarz (1886-1976) war die ältere Schwester von Alfred Schwarz. Sie arbeitete als Sekretärin.

31. XII (Dienstag). – Mittags: Packen & Beförderung des Koffers zum Bahnhof. – In Hetz noch zum Coiffeur! – Abends: Von der Loki [Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik Winterthur] zum 5 03 h Zug. – Nach Zürich gedampft. – Dort direkt zu Buamanns gefahren. – Kinder mit Frau Baumann («Grossmama») beim Quartett. Umziehen. – Nachtessen. – Um ¾ 9 h Weggang zu Hugs. – Doris begrüsst & dann die ganze Tischgesellschaft (ca. 26 Personen!). – Nette Tischkarten von Welti. – Mein Glück! (2seitige Bemalung!) – Die restlichen Gäste erscheinen. – («Bräutigam cherum!» – Sein Lenzgesicht bei der Vorstellerei!) – Aufführung im Rauchzimmer: «Beim Coiffeur Schwyzer»! (Hans! unter Mitwirkung von Adölfli (Tochter Erna), Rolf (Gast), Rudi Welti (2. Kunde Herr von Orelli!) & mir (Gehilfe). – Rolf wird «täuschend naturgetreu» geschnitten beim Rasieren! – – Dann: Auftreten von Rolf als «Tänzerin» unter Musikbegleitung von Hans! Interessante «Schminke, Kleidung & Bewegungen»! – Bald darauf beginnt das erste Glockenläuten! Doris, Ruth, Rolf, Rudi Welti, Hans, Adölfli & ich übersiedeln in den Erker! Fenster öffnen!  – Punsch! – Es schlägt! – Prosit Neujahr! – Hin- & Her! – Das Brautpaar erscheint nach längerem Ausbleiben – erneutes Anstossen! – Wieder Glockengeläute! – Bleigiessen! – Kerzenbeleuchtung! – Ruth sagt einiges (Gedichte & Prosa: Hoffmannstal [eigentlich: Hofmannsthal] etc.) auf! — Experimente beim Bleigiessen unter Rolfs «Führung»! – Dann allgemeiner Aufbruch! – Auch ich sage adieu! – Heimweg bis zum Steinwiesplatz mit Ruth Langnese. – Nach dem Casinoplatz noch «Wolfensbergers» eingeholt & mit diesen bis zur Sophienstrasse gewandert. – Hier, ohne Teo zu wecken, ca. um 2 Uhr ins Bett & ausgelöscht.! –

Ruth Langnese verheiratete sich 1930 mit dem Bildreporter und Drehbuchautor Richard Schweizer, vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9240.php.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/140.07-07 (Tagebuch Alfred Schwarz für die Weihnachts- und Neujahrstage 1917 und 1918) und W 132/2-269 (Gebirgsschützenbataillon 8, Aktivdienst im Münstertal, Kompagniecoiffeur beim Rasieren unter freiem Himmel, 1916)

Alfred Schwarz

Mittwoch, 25. Dezember 1918 – Feiertage

Fortsetzung der Tagebucheinträge von Alfred Schwarz (vgl. Beiträge vom 23. und 24. Dezember 1918)

Was macht man an Feiertagen bei Tante und Onkel – ohne Fernsehen und ohne Radio?

25. XII. (Mittwoch) Ausgeschlafen bis 11 ¼ h. – Als letzter des «faulen Kleeblattes» (Hans, Evi & ich) im Weihnachtszimmer erschienen (nach ½ 12 h!). – Welti kommt! – Gleich darauf, auf dem Weg ins Esszimmer, entdeckt T. Martha «en Passant» im Musikzimmer «die strahlende Beleuchtung», so, wie wir sie am Weihnachtsabend zurückliessen!! – Nach dem Essen wieder im Christkindzimmer. – Schach mit T. Martha! – Welti kibitzt; Das Brautpaar geht spazieren, da das sonnige Wetter (mit Schneeluft!) dazu einlädt! – Mein Schachsieg! – Nun machen O. Ad., Hans & ich uns auf die Beine & fliegen ebenfalls aus. – Spaziergang an die Sihl, Kurfirstenstrasse (neue Villen) etc. – Bald nach unserer Rückkehr kommt auch das Brautpaar zurück. – Musizieren im Musikzimmer. Welti singt (Schubert: «Wanderer» etc.) – Dann Tante Martha! – Nochmaliges Vorspielen des Weihnachtsstücks von Hans! – etc. – Nachtessen. – Wieder im Weihnachtszimmer. – Plaudern, lesen etc. Nach Weltis Weggang auch bald allgemeines «Gute Nacht!» –

Beim Brautpaar handelt es sich um Eva Hug und Albert Jakob Welti. Sie heirateten 1920.

26. XII. (Donnerstag.) Um 10 Uhr beim Frühstück! – Dann wieder im Weih. Zimmer. – «Onkel Hans » (Langnese) kommt auf Besuch. (Ansehen der «Widmann-Bilder»!) – Schach mit Hans! – Mittagessen. – Wieder Schach. – Um ½ 3h Abmarsch von O. Ad., Hans & mir zur «Besteigung des Ütliberges.» – – Interessanter, «weicher» Aufstieg unter O. Ad. Führung. Hansens Fluchen! – Oben herrliche Aussicht! – Soldaten. – Noch interessanterer Abstieg! Glatteis! – Nirgends ein Halt! – Geländer – letzte Rettung! – Vergnügte Heimkehr um 6h. – T. Martha, Adölfli & Welti im Musikzimmer. – Musiziert! – Evi kommt heim. – Nachtessen. – Wieder im Weih. Zimmer. – Christbaum angezündet. – Punsch! (Evi’s interessante Frage punkto Zubereitung!) – Witze-Erzählen! (Shoking!) Verschiedene Spiele gemacht, Pfänder auflösen, etc. – Brissago [Zigarre] von Welti! – – Nachdem er aufgebrochen & adieu gesagt, kurz darauf: «Tableau!» (Wirkung!) – Dann ins Bett! –

Der im Text genannte «Onkel Hans» (Langnese) war der Schwiegersohn von Arnold Hug (1866-1905). Er leitete seit dem Tod seines Schwiegervaters die Leipziger Filiale des Musikhauses Hug, vgl. https://www.musikhug.ch/ueber-uns/geschichte/

27. XII. (Freitag) – Wecker auf 6 ¼h; Aufstehen, Packen & Abfahrt nach Winterthur um 7h.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/140.07-07 (Tagebuch Alfred Schwarz für die Weihnachts- und Neujahrstage 1917 und 1918) und W 054/144.03.10-02 (Alfred Schwarz, 1916)

Musik Hug

Dienstag, 24. Dezember 1918 – Weihnachten im Familien- und Freundeskreis

Fortsetzung der Tagebucheinträge von Alfred Schwarz (vgl. Beitrag vom 23. Dezember 1918)

Alfred Schwarz durfte die Weihnachtsfeiertage in Zürich bei Tante und Onkel mütterlicherseits, Martha und Adolf Hug-Schläpfer, verbringen. Adolf Hug leitete die Zürcher Hauptniederlassung des Musikhauses Hug, Eva und Hans Hug waren seine Cousins:

24. XII. (Dienstag) Morgens Koffer zum Teil gepackt! Mittags fertig gepackt & Koffer zur Bahn Garderobe [sic] gebracht. – Dann noch in Eile zum Coiffeur & dort den Kopf waschen lassen (1/4 St. & dann in die Loki. – Abends gleich nach dem Pfeifen (¾ 5 Uhr!) zur Bahn gefahren Billet gelöst. Dann in Hetz noch «Weihnachts-Telegramm» nach Wien aufgegeben! – Mit dem ellenlangen, vollgepfropften Zug (5[.]03h) nach Zürich abgedampft, dort angelangt & in Eile in der Bahnhofstrasse noch ein «Kurt Wolff Buch» für T. Martha als Geschenk gekauft. Darauf in die Kirchgasse gefahren & hier ca. 7h bei Hugs gelandet. Von Hans begrüsst! – Im Spielzimmer umgezogen! – Von Evi «Pack-Material» für die Weih. Geschenke erhalten, «Päkli» [sic] gemacht mit Hilfe von Seline! – Hierauf ins Musikzimmer gegangen, wo Hans sein Weih. Stück vorspielte & schon alle (Albert Welti inbegriffen!) versammelt waren. – Pian [sic] (von Welti)! – Weihnachtslieder gesungen, während O. Adolf & Hans den Baum anzünden! – Läuten! – Langes Ansehen des Christbaumes! – Geschenke angesehen. – Evis Bild von Welti! – Adölflis Wetterkarte. – etc. –

Zum Nachtessen! (Halt!) – Schön geschmückter Tisch, von 7 Kerzen (3 grossen & 4 kleinen) beleuchtet! Kerzenbeleuchtung während des ganzen Essens! –  Wieder ins Weihnachts-Zimmer! – alte Kirchenbilder von Evi gemeinsam angesehen, dann Photos aus Spanien von Welti, & seinen Erklärungen zugehört, sowie ein wenig gelesen. Nach seinem (Weltis) Weggehen bald allgemeines «Insbettgehen»! –

Mit «Welti» ist der Maler und spätere Schriftsteller Albert Jakob Welti (1894-1965) gemeint, vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D12391.php

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/140.07-07 (Tagebuch Alfred Schwarz für die Weihnachts- und Neujahrstage 1917 und 1918) und ZMH 64/934b (Beitragsbild: Rechnung Musik Hug, St.Gallen, 1910)

SCherenschnitt Alfred Schwarz

Montag, 23. Dezember 1918 – Junggeselle bei Weihnachtsvorbereitungen

Alfred Schwarz war am 24. August 1896 in Littai im ehemaligen Herzogtum Krain in Österreich (heute: Slowenien) geboren worden. Seine Eltern waren Julius und Stefanie (Fanny) Schwarz-Schlaepfer, Besitzer einer Baumwollspinnerei. Um 1909 zog die Familie nach Wien um, später nach Zürich. Alfred Schwarz arbeitete von Ende 1916 bis April 1920 in der Buchhaltungsabteilung und im Korrespondenzbüro der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik in Winterthur. Später war er Journalist.

In seinen Tagebucheinträgen für die Jahre 1917/1918 und 1918/1919 für Weihnachten und Neujahr ist ersichtlich, wie man damals in familiärem Kreis die Feiertage verbrachte. Arnold Schwarz genoss offenbar ein paar Tage Ferien:

21. XII. (Samstag) Nachmittags gelesen (Zeitungen) & dann Büchergeschenke herausgesucht, währen die «Kollegen von der Materialverwaltung» (Loki [Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik]) Überzeit schafften!

22. XII. (Sonntag) Nach einer stürmischen Nacht am Morgen bei Schneegestöber aufgewacht, & alles ist schon mit einer dicken, weissen Schneedecke bedeckt! Nach einem späten Frühstück nach 11h noch in Eile per Tram zum Reitweg gefahren & Herrn Dr. Wilh. Züblin & Familie besucht. Da gerade auch «Direktor Hardmeyers» bei ihnen auf Besuch waren, wurde ich zuerst nur kurz von Herrn Dr. Zübling empfanen & mit Lesestoff (N.Z.Z.) versehen & sodann von Frl. Züblin unterhalten, bis nach Fortgehen des anderen Besuches Herr Z. wieder erschien & mir seine Frau vorstellte. Nach Übersiedlung ins Wohnzimmer noch gemütlich zu Viert geplaudert, dann wieder verabschiedet! – Mittagessen. – Lesen – Wieder Studium & Nachdenken wegen der Weihnachtsgeschenke. – Kurz vor Ladenschluss (6h abends, Gold. Sonntag!) noch eine Ladung Bücher zur Ansicht geholt! – Nachtessen im Erlenhof. – Brief an Grete [seine Schwester, 1893-1967]. –

 23. XII. (Montag) Aller Schnee wieder fort! – Mittags & abends: Weihnachts-Besorgungen! – Nach dem Nachtessen (Erlenhof) nach Hause geschrieben & diverses [sic] vorbereitet etc. – Sehr spät ins Bett!

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/140.07-07 (Tagebuch Alfred Schwarz für die Weihnachts- und Neujahrstage 1917 und 1918) und W 054/144.03.06-18 (Scherenschnitt Alfred Schwarz, ca. 1920)

Hertig Erfindung

Freitag, 20. Dezember 1918 – Schicksal eines Erfinders

Weder Rakete noch Lippenstift, sondern ein Taschenfeuerzeug:

Dasselbe besitzt gemäss der Erfindung einen zur Aufnahme von Brennstoff dienenden Behälter, mit dessen Oberseite ein mit einer haarfeinen axialen Längsöffnung versehener Pfropfen verschraubt, und über welchen Behälter eine Hülse gestülpt ist, die sich an der Oberseite stufenförmig verjüngt, auf welchen Stufen ein mit Feuerstein versehener Deckel, sowie eine Hülse ruht, welch letzere eine Kante aufweist, um beim Bestreichen derselben mit Feuerstein Funken zu erzeugen, so dass ein vorstehender Docht entflammt wird.

So lautete die von Ernst Hertig aus Altstätten im Kanton St.Gallen am 20. Dezember 1918 beim Schweizerischen Amt für Geistiges Eigentum eingereichte Beschreibung seiner Erfindung. Ergänzend hiess es weiter unten in der Schrift noch: Durch vorstehend beschriebenes Taschenfeuerzeug wird eine geruchlose Flamme erzeugt, und da dieses Feuerzug rund gestaltet ist, kann es zum Stopfen von Pfeifen verwendet werden.

Innenansicht Feuerzeug

Unter der Voraussetzung, dass zur selben Zeit in Altstätten nur eine Person unter diesem Namen wohnte, kann man im Staatsarchiv St.Gallen zur Person des Erfinders ein paar Informationen herausfinden, die ihn als etwas schillernde Figur kennzeichnen: Ernst Hertig, 1887 geboren und im Haus zum Sonnenhof wohnend, taucht kurz nach Einreichung seines Patentanspruchs mehrfach in Gerichtsdossiers auf, zunächst 1919 als Beklagter in einem Streit um den Verkauf von Torf, ein Jahr später als Kläger auf Ehescheidung und schliesslich 1921 in einem Konkursprotokoll. Die von ihm geführte Autogarage in Altstätten war offenbar nicht rentabel gewesen.

Hertig Autogarage

Aus den Akten geht ausserdem hervor, dass er bereits während des Ersten Weltkriegs vom Landgericht Kempten im Allgäu mehrfach in Strafuntersuchungen verwickelt gewesen war. Man hatte damals im Zusammenhang mit Sachhehlerei, Verkehrs-, Lebens- und Futtermittelvergehen sowie mit Vergehen gegen das Süssstoffgesetz gegen ihn ermittelt.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZW 2 O/95-081661 (Patentschrift, eingereicht von Ernst Hertig, Altstätten) und ZMH 02/038 (Briefkopf, Autogarage Hertig in Altstätten); GA 008/1919.05, GA 008/1920.04a und GA 022/351 (Gerichtsdossiers zu Ernst Hertig)

Textilfachschule Klasse 1916

Donnerstag, 19. Dezember 1918 – Exkursion nach Bütschwil in die grösste Weberei der Schweiz

Unter den Fachschul-Nachrichten der Mitteilungen über Textil-Industrie, Ausgabe Dezember 1918, findet sich folgende Notiz:

Die Webschule Wattwil  unternahm am Donnerstag vor Weihnachten noch eine Exkursion nach Bütschwil, um die Weberei der Firma Wirth & Co. zu besichtigen. Im Verlaufe der letzten zwei Jahre wurde die dort bestehende Webereianlage, welche vorher bekanntlich der Firma Birnstiel, Lanz & Co. A.-G. gehörte, durch einen modernen Neubau erweitert. In demselben kamen nur Steinen-Rüti-Automaten zur Aufstellung. Inzwischen sind auch die früher mit Buntwebstühlen und Mousselinewebstühlen bestellten Websäle geräumt worden, um ebenfalls Automaten Platz zu machen. Bis jetzt sind bereits 560 Automaten in Betrieb und 200 solcher werden im nächsten Jahre noch dazu kommen, sodass Bürschwil die grösste Weberei ihrer Art in der Schweiz sein wird. Wenn alles wie vorgedacht fertig ist, dürfte diese Weberei aber auch eine der schönsten im Lande sein.

Es wird mit Gruppenantrieb gearbeitet, soweit nicht Einzelantrieb für gewisse Maschinen notwendig war. Die nötige Elektrizität für die Motoren erzeugt die eigene Wasserkraft, denn auch die Turbinenanlage hat eine Umgestaltung erfahren. Letztere ist dadurch besonders interessant, dass eine Turbine mit einer Bergtransmission in Verbindung steht, welche die Kraft nach der etwa 40 Meter höher liegenden Weberei überträgt. Man nimmt unwillkürlich an, dass dadurch viel Energie verloren geht; aber die Anlage ist ganz vorzüglich ausgeführt, sodass sie mit einem Nutzeffekt von 98 Prozent arbeitet.

Sowohl für die Lehrer, wie für die Schüler war der Besuch dieses Etablissements sehr instruktiv und führte zur Ueberzeugung, dass hier ein Industrieller seinen Reichtum wieder in eine Quelle des Verdienstes für Hunderte von Leuten verwandelt hat. Auch durch den nachfolgenden Rundgang durch die Zwirnerei Dietfurt, und durch den Blick in die neugeschaffenen Betriebsmaschinen-Räume wurde eine Grusszügigkeit offenbart, die sich nur mit reichen Mitteln vereinbaren lässt. Jedenfalls wird auch die Spinnerei noch diesem Zuge folgen in den nächsten Jahren, obgleich eigentlich schon längst viele innere Erneuerungen durchgeführt wurden. Es ist ungemein erfreulich, ein solches Werk der Textilindustrie der Neuzeit entsprechend umgestalten und entwickeln zu sehen. Darum möchten wir Herrn Wirth auch durch diese Zeilen unseren Dank zum Ausdruck bringen.

A. Fr.

Auf dem Beitragsbild ist die Klasse von 1916 der Webschule Wattwil zu sehen, zusammen mit dem langjährigen Direktor Andreas Frohmader (1870-1973, Direktor von 1902-1943).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 310/15-13 (Mitteilungen über Textil-Industrie, 25. Jg., Nr. 23/24, Dezember 1918; Einfügung zusätzlicher Absätze der besseren Lesbarkeit wegen) und W 310/19-6.2 (Beitragsbild)

 

Musterbeispiel

Mittwoch, 18. Dezember 1918 – Folgen der Grippe

Fraefel & Co. mit Hauptsitz in St.Gallen war 1883 gegründet worden.  Die «Anstalt für kirchliche Kunst» stellte (s. Beitragsbild), bei weitem nicht nur Artikel für den liturgischen Gebrauch her. Bereits 1888 exportierte sie Produkte nach Deutschland und in die USA. Von 1912 bis 1929 besass sie Niederlassungen in Toledo (Ohio, USA), Chicago und New York.

Der im nachstehenden Brief angesprochene und hier abgebildete, 1888 geborene Gallus Fraefel war in die USA ausgewandert und lebte in Toledo (Ohio):

Gallus Fraefel

St.Gallen, den 18. Dez. 18.

Lieber Gallus!

Bestätige dankend Deine beiden Briefe v. 18. Okt. & 16[.] Nov. Diese Briefe sind etw. spät eingetroffen. Den Brief an Wellauer adressiert habe ich erhalten & brauchst keine Sorge darüber zu haben. Dass ich Deine Briefe nicht sofort beantwortete[,] war Schuld meiner Krankheit (Grippe)[.] War im Spital[,] hernach in der unteren [sic] Waid b. Mörschwil & bin hoffentl. wieder auskuriert. Doch muss ich noch sehr vorsichtig sein & bin auch noch sehr müde & schwach[.] Deine 5 Photos habe ich auch erhalten[.] [Es] Erfreut mich Dein guter Gesundheitszustand. Die geschäftl. Lage hier in St.G. ist allerdings kritisch, immerhin ist[‹]s noch zum aushalten [sic,] da wir jetzt doch den Frieden vor uns haben[.]

Alfons Fraefel

Mit Alfons [s. Bild nebenan] ist es nun so: Wegen Krankheit v. ihm selbst & nachträgl. seinen Stickerinnen kam sein Geschäft in grosse Stockung[,] was ihn finanziel[l] derart hernahm[,] dass er alle Hoffnung aufgab. Er entlies[s] seine Arbeitskräfte & war in Schulden[.] Dagegen machte er den grossen Fehler, dass er Vater zwingen wollte[,] den Erbteil der Mutter auszuhändigen & steckte das alles hinter einen Advokaten. Das ist natürlich ganz unschön v. ihm & Vater hatte viel verdruss [sic]. Ich stand letzterem bei & ging dann n. Zürich[,] um Alfons ins Gebet zu nehmen. Mit Mühe gelang es uns[,] einig zu werden & Vater hat ihm 1000 fr. gegeben mit der schriftl. Verpflichtung, dass Alf. auf diesen Erbteil verzichte. Für was sich Vater aber weiterhin verpflichtet hat, das muss ich erst noch fragen. War eben in letzter Zeit wegen d. Grippe von allem weg & konnte keine Aktionen übernehmen[.] Gegenwärtig (vor Weihnachten) hat Alf. sehr viel Arbeit & wie es nachher dann wieder wird, weiss ich nicht. Es wird auch gehen. Einzig das war gar nicht recht, dass er es mit Vater so gemacht hat. (Vater war gestern wieder da & hatte keine Grippe.[)] Schädler & Wellauer haben wohl auch eine Krisis[.] Sie sind freundl. mit mir & ersterer hat mir nach dem Rummel erzählt[,] wie es damals ging. Schädler ist ja ziehml. [sic] vernünftig, dagegen Wellauer war die Triebfeder & der Grobian.

Nun Schluss f. heute & hoffe[,] Du bleibest gesund & stellst Dich finanziell auch bald wieder besser. Mache[,] dass Du gros[s] & fest wirst & spare kein Essen in dieser Zeit, wenn man presentieren [sic] will.

Mit herzl[.] Gruss Dein Bruder Willy.

Auch zum Absender des Briefs gibt es im Familien- und Firmenarchiv Fraefel, das sich im Staatsarchiv St.Gallen befindet, Fotos:

Willy Fraefel

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 318/2.1 (Korrespondenz Willy Fraefel, 1914-1924) sowie W 318/2.2-11.7 (Willy Fraefel, geb. 1890), W 318/2.2-11.10-02 (Gallus Fraefel, geb. 1888), W 318/2.2-11.8  (Alfons Fraefel, geb. 1891, Bild von 1905) und W 318/1.2-05 (Beitragsbild, Vereinsfahne, hergestellt von der Firma Fraefel)