Auszug aus dem Tagebuch von Emma Graf

Samstag, 15. Januar 1916 – Tinte aus Deutschland und Naturärzte im Appenzellerland

Emma Graf war 1900 geboren und Schülerin in der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen). Zwischen 1910 und 1916 führte sie im Rahmen des Unterrichts eine Art Tagebuch. Bei diesen, anfänglich nur kurzen und mit „Wochenbericht“ betitelten Beiträgen handelte es sich um Reinschriften von Aufsätzen. Darin hielt das Mädchen den Schulalltag oder seine Erlebnisse während der Ferien fest. In den Beiträgen von 1916 sind immer auch wieder Kurznachrichten zur weltpolitischen Lage enthalten wie sie den Kindern in der Schule vermittelt wurde, resp. so, wie das Mädchen sie verstand.

Die Texte weisen unterstrichene Begriffe und Wörter auf. Sie waren der Schreiberin vermutlich neu. Mit Hilfe von Beispielen sollten sie gelernt werden.

Am Sonntag bekam ich Besuch von Bertha Michel. Wir durften einwenig durch die Stadt gehen u. dann besuchten wir die Familie Bätscher. In der Stube war noch ein Christbaum. Wir wurden zum Kaffee eingeladen. Am Abend um halb 6 Uhr mussten wir in die Anstalt gehen.

Fast alle Schüler sind wieder aus den Ferien zurückgekehrt; wir sind noch nicht ganz vollzählig. Nur noch eine Schülerin fehlt, nämlich […]. Bald wird sie aus dem Spital entlassen; sie kommt vielleicht Mitte Januar. Man ist nicht zufrieden mit ihr im Spital. Die Schwestern nehmen sie jede Nacht 2 oder 3 mal auf u. doch ist am Morgen das Bett überschwemmt. Fr. Bühr sagt, sie sei ein gleichgültiges Kind. Wenn sie zurückkomme, wolle sie ernsthaft hinter sie gehen.

Letzte Woche hat Frau Bühr alte gestrickte Sachen verkauft, welche wir nicht mehr brauchen. Heute verkauft man alte Kleidungsstücke und Stoffresten, für welche wir keine Verwendung mehr haben. Für das Kilo bekommt man 4 Fr. Ein Herr in der Stadt kauft sie auf u. verkauft sie wieder. Die Resten gehen in die Spinnereien u. dann in die Webereien. Überall herrscht Wollmangel. Das Militär braucht kolossal viel Wolle.

Am Freitag ist ein neues Mädchen eingetreten. Es heiss Lydia Henseler; es kommt von Rorschach. Ihr Vater sitzt den ganzen Tag auf einem Dreibein. Er ist Schuhmacher. Lydia besuchte 2 Jahre die Spezialklasse in Rorschach. Dort konnte sie nicht mitkommen, weil ihr Gehör nicht ganz normal ist. Sie hört zwar ziemlich viel.

Am Sonntag bekam Elsi Brägger einen schönen Brief von Frl. Walder. Das ist eine Freundin von ihrer Mutter sel. Sie wohnt in Vivis [Vevey] am Genfersee. Sie schrieb, Elsi solle einmal nach Genf zu ihr kommen. Hoffentlich erlaubt ihr der Vater die Reise. Er müsste sie bis nach Zürich begleiten u. sie dort in den direkten Genferzug tun. Er müsste sie dem Kondukteur anempfehlen. Alleinreisende Mädchen müssen sehr vorsichtig sein. Auf den grossen Bahnhöfen u. auch in den Eisenbahnen gibt es schlechte Leute, Mädchenhändler– u. [-]händlerinnen. Diese locken junge Mädchen an sich, nehmen sie mit u. verkaufen sie in die grossen Städte, Paris, Konstantinopel u. andere, wo sie als Sklavinnen leben müssen. Sie dürfen weder heimkommen noch Briefe schreiben. Die armen Eltern u. Geschwister wissen dann nicht, wo sie sind u. können sie nicht mehr finden.

Am Mittwoch ging Hansli Bühr wieder in den Kindergarten. Er hätte schon am 6. Jan. gehen sollen. Er war aber nicht recht wohl. Er hatte die vierte Krankheit.[1] Das ist eine ganz neue Krankheit, welche man früher nicht gehabt hat. Sie sieht aus wie Scharlach, Masern oder Röteln, aber es ist keine von diesen Krankheiten. Die neue Krankheit kommt vom Darm. Auch in der Stadt u. auf dem Rosenberg haben die Kinder diese Krankheit.

Briefkopf von 1914 der Papeterie Ritter & Co. in St.Gallen, wo die Schülerinnen Papier und Schreibwaren einkaufen gingen.
Briefkopf von 1914 der Papeterie Ritter & Co. in St.Gallen, wo die Schülerinnen Papier und Schreibwaren einkaufen gingen.

Josephina Braun ging in Gesellschaft von Emma Schmid zu Ritter u. Co. Dort holte Seppli [Josephina Braun] ein Buch Musterpapier. Die Papeteriehandlung gehört einem Herrn Ritter u. andern Herren. Ein Buch Musterpapier kostet 75 Rp. Wenn man viel kauft, ist es billiger, als wenn man nur einen Bogen kauft. Es gibt grosse Geschäfte, welche ihre Waren waggonweise kaufen. Das ist vorteilhaft. Wenn die kleinen Geschäfte ihre Waren waggonweise kaufen würden, würden sie zu Grunde gehen. Sie können die Waren nicht so schnell absetzen. Das wäre für sie nachteilig.

Am Donnerstag kam Liseli Spengler Besuch von ihrer Tante. Warum hat sie jetzt schon wieder Besuch bekommen? Sie war doch vor nicht langer Zeit daheim. Die Tante ist zur Zeit in Horn auf Besuch. Sie benützte die günstige Gelegenheit, Liseli einen Besuch abzustatten.

Seit November hatten wir schlechtes Wetter. Man ruft aus: Ist das ein Gestöber! Bei solchem Wetter jagt man keinen Hund hinaus! Man hätte Mittleid [sic] mit ihm. Da bleibt man gerne in der Stube.

Herr u. Fr. Bühr gingen gestern Abend zu Ritter & Co. Sie holten dort eine Flasche Kopiertinte. Es ist eine andere, als wir benützen. Herr Bühr braucht sie zum Kopieren. Die Kopiertinte kostete 2,50 fs. [Fr.] Sie hat gewaltig aufgeschlagen. In Deutschland gibt es viele chemische Fabriken. Wir beziehen fast alle Tinte von Deutschland. Jetzt braucht Deutschland diese Fabriken für den Krieg. Herr u. Fr. Bühr wollten einen Bekannten besuchen, der an einem Ausschlag erkrankt ist. Als sie in das Zimmer kamen, war der Vogel schon ausgeflogen. Seine Mutter hat ihn in das Appenzellerland zu einem Naturarzt gebracht. Im Appenzellerland gibt es viele Naturärzte; diese wollen die Kranken durch natürliche Mittel heilen, durch Bewegung, durch gute Luft, durch allerlei Bäder, durch Kräuterthee [sic]. Im Kt. St.Gallen dürfen keine Naturärzte arbeiten, nur Mediziner. Die Mediziner haben an der Universität studiert, die Naturärzte nicht. Es gibt tüchtige und untüchtige Naturärzte; die letzteren sind Kurpfuscher u. Quacksalber. In St.Gallen sagt man im Scherz, im Appenzellerland habe es immer gute Luft, weil die Appenzeller die Fenster nie aufmachen.

Wilhelm Bühr (1870-1930) war zunächst Lehrer und ab 1904 Vorsteher der Sprachheilschule St.Gallen. Zusammen mit seiner Ehefrau, Lina Bühr (1879-1964), leitete er auch das Mädchenhaus der Anstalt. Lina Bühr blieb nach dem Tod ihres Mannes noch bis 1935 Hausmutter und Verantwortliche für die Küche der Schule.

[1] Sog. Vierte Krankheit: atypisch verlaufende Scharlach- oder Röteln-Infektion oder Hauttoxikose bei Säuglingen und Kleinkindern, wird heute nicht mehr als eigenes Krankheitsbild beschrieben (Quelle: Wikipedia, Exanthem, eingesehen am: 09.07.2015).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Text) und ZMH 64/467 (Briefkopf)

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