Am Sonntag war Marie Francesconi auf Besuch. Sie brachte ein Paar Schuhe, die ihr zu klein sind u. ein Paar Finken [Hausschuhe], die ganz zerrissen sind. Herr Bühr fragte sie, ob alle Mädchen im Fürsorgeheim mitgeholfen haben, sie zu zerreissen. Herr Bühr fragte das, weil die Finken so schnell kaput[t] gegangen sind. Maria wurde am Mittag im Scherz zum schwarzen Kaffee eingeladen. Sie fasste den Scherz als Ernst auf u. setzte sich an den Kaffeetisch. Als sie den schwarzen Kaffee ausgetrunken hatte, schicke Herr Bühr sie zu den Mädchen. Da machte Maria verwunderte Augen. Sie wäre lieber am Lehrertisch geblieben. Herr Bühr fragte sie, ob ihr Bruder jetzt in Italien sei. Maria bejahte es u. sagte: „an der Löwengasse.“ Ihr Bruder ist gegenwärtig in St. Gallen an der Löwengasse. Er ist 18 Jahre alt. Er musste auch in den Militärdienst einrücken nach Italien. Nach einigen Wochen war er plötzlich wieder in der Schweiz. Er sagte, er habe den Militärarzt angeschwindelt, er sei nicht ganz gesund, dann sei er frei geworden. Das will Herr Bühr aber nicht glauben. Er ist vielleicht geflohen. Das wäre gefährlich gewesen. Wäre er in Italien erwischt worden, so wäre er erschossen worden wegen Fahnenflucht.
Am Montag Abend während des Nachtessens wurde Herr Bühr hinausgerufen. Herr Gemperle war da. Er brachte die Entscheidung. Herr Bühr hatte ihm geschrieben, Johann könne in seiner Klasse nicht mehr mitmachen; was er lieber wolle, dass Johann im Frühling austrete oder dass er in eine Spezialklasse für Schwachbegabte ersetzt werde. Er hatte es daheim überlegt. Er hat sich entschieden, er wolle Johann im Frühling zu Hause behalten. Er sagte, die Mutter könne ihn gut brauchen zum Gaumen [Hüten] der jüngeren Geschwister. Als Herr Bühr wieder in das Speisezimmer kam, sagte er zu Lina Tobler, sie solle hinausgehen, ihr Bruder sei draussen. Da freute sie sich auf die Schokolade u. ging hinaus. Nachher kam sie wieder herein. Sie war richtig auf den Leim gegangen. Am nächsten Tag war sie immer noch taub [verärgert], so sagte Herr Bühr. Das ist ein Dialektausdruck für böse.
Am Samstag hat Herr Bühr einen Bücherkasten der Oberklasse durchstöbert. Er hat die alten Bücher, die man nicht mehr braucht, herausgenommen. Sie werden auf die oberste Bühne in eine Kiste versorgt. Dort werden sie einen huntertjährigen [sic] Schlaf halten.
Diese Woche ist der Winter noch einmal richtig gekommen. Er ist wie im letzten Jahr. Da hatte er um diese Zeit auch noch einmal einen grossen Schnee geworfen. Ich kann mich noch daran erinnern.
Am Dienstag gingen 5 Mädchen in die Schuhhandlung Bischoff. Vor dem Haus trafen wir mit Hrn. u. Frau Bühr zusammen. Es war ein Zufall, dass keine Partei warten musste. Elsi Brügger und ich bekamen feinere Schuhe für die Konfirmation, Frieda Meier u. Magdalena Zäch gröbere. Meine Schuhe kosteten 16,85 fs. Mein Vater schickte mir 20 fs; darum konnte ich sie bezahlen. (Die neuen Schuhe sind nicht die Hauptsache für die Konfirmation. Sie spielen gar keine Rolle. Die gute Gesinnung ist die Hauptsache). Die gröberen Schuhe von Frieda u. Magdalena nennt man Strapazierschuhe. Vor 2 Jahren machten wir einen dreitägigen Ausflug, da wir haben viele Strapazen gut ausgehalten. Seppli hätte diese Strapazen nicht ausgehalten. Sie wäre schnell müde geworden. Sie hatte einen starken Herzfehler.
Am Donnerstag sind 2 Mädchen an der vierten Krankheit erkrankt. Am Dienstag Abend war Hr. Dr. Wenner da. Er wünschte, man solle ihm sofort berichten, wenn wieder ein neuer Fall von vierter Krankheit [atypisch verlaufende Scharlach- oder Röteln-Infektion] eingetreten sei. Er möchte sofort kommen u. das Kind anschauen. Er hat gesagt, in der Stadt gebe es Fälle, wo die Patienten ganz blau seien. Das ist eine rätselhafte Krankheit. Die Ärzte wissen noch nicht, wie man sie behandeln muss.
Herr Bühr hat diese Woche eines Abends im Tagblatt gelesen, man solle die alten Zeitungen u. Bücher nicht auf die oberste Bühne oder in einen anderen Winkel versorgen. Sonst werden sie von Motten zerfressen. Die schweizerischen Papierfabriken schreiben, man solle sie an die Lumpensammler verkaufen. Diese verkaufen sie weiter an die Papierfabriken. Dort werden sie eingestampft. Aus der Masse macht man neues Papier u. Karton. Die Papierfabriken leiden an Rohrmaterialmangel [sic]. Die kriegführenden Länder brauchen sehr viel Holz für militärische Zwecke. Viele Zeitungen sind eingegangen. (Sie werden nicht mehr gedruckt; sie erscheinen nicht mehr.)
Am Montag kaufte Frau Bühr schwarzen Stoff zu einem Konfirmationskleid. Es ist die Letzi für ein Patenkind. Frau Wildi im Stoffmagazin erzählte, in einigen Wochen bekomme man keinen schwarzen Stoff mehr. Die schwarze Farbe beziehen wir meistens vom Ausland. Die kriegführenden Länder brauchen die Farben selbst für militärische Zwecke. Am Dienstag Nachmittag kam Willi Bühr vorzeitig aus der Schule. Sein Kamerad Philipp Lafont stützte ihn. Er war beim Turnen gefallen. Sie übten Weitsprung. Als Willi 2,45m sprang, fühlte er plötzlich im Kreuz einen heftigen Schmerz. Er konnte fast nicht mehr atmen. Der Lehrer schickte ihn nach Hause. Willi musste zu Bett gehen u. ruhig liegen. Jetzt geht es ihm wieder besser. Am Sonntag war Klara Schwarz da auf Besuch. Diese erzählte, dass ihr Bruder im Krieg schwer verwundet sei. Man habe ihm ein Bein abnehmen müssen. Der Bruder musste im vergangenen Oktober einrücken. Er war erst 18 Jahre alt. Gestern hat man in der Ostschweiz gelesen, dass er gestorben sei.
Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Text) und P 907, 23.02.1916, Morgenblatt der Zeitung «Die Ostschweiz» (Todesanzeige für den Bruder einer ehemaligen Schülerin (?) der Taubstummenanstalt St.Gallen)