Sonntag, 20. Februar 1916 – Marie schreibt ihrer Schwägerin Fanny aus Saint-Maurice

Die Adressatin des Briefes, Fanny Lutz-Giger (geboren 1876), war seit 1911 mit Gebhard Lutz (1870-1946) verheiratet. Die Briefschreiberin und Schwägerin, Marie Lutz (1885-1955), war offenbar aus dem Kloster Menzingen ausgetreten. Sie lebte danach zuerst bei den Familien ihrer Geschwister, wo sie sich mit Handarbeiten und Kinderhüten beschäftigte. Dem nachstehenden Brief nach zu schliessen, war sie im Winter 1916 in Stellung bei einem „Fräulein“ in Saint-Maurice. Später arbeitete sie als Lehrerin in Thal.

St.Maurice, 20. Februar 1916.

Liebe Fanny!

Zu Deinem baldigen Geburtsfeste wünsche ich Dir von ganzem Herzen Glück und Gottes Segen. Als meine liebe Mutter sel. diesen Geburtstag feierte, war ich noch ein gutes Weilchen hinter Gotterbarm.

Als ich gestern Abend vor dem Nachtessen noch auf der „Reise nach Jerusalem“ [Gesellschaftsspiel] war, kam ein Abgesandter von den Fleischtöpfen Ägyptens, eine im ménage beschäftigtes Mädchen mit dem „gediegenen Schweinefleisch“, wofür ich vielmals danke. Das Salsiz war so fein, dass ich es abends 9.30 noch verspeiste. Nur fand ich leider den Klupperlisack [Sack für Wäscheklammern] nicht. Hie u. da kann man ja die Rekreation nach dem Abendessen schon mit Schreiben zubringen, aber für gewöhnlich ist dies doch auch eine gute Gelegenheit zum Sprechen. Die letzte Woche verhinderte das schlechte Wetter auch öfters den gewohnten Spaziergang nach dem Mittagessen.

Dass Du die Zahnoperation so mutig bestanden [hast], erfuhr ich schon am andern Tage durch unsere getreue Berichterstatterin, der es aber scheints auch nicht gelingt, die Herren Gebrüder Lutz etwas zu magnetisieren. Mir ste[h]ts halt nicht an, denn Neutralität u. noch manch‘ anderes ist nicht meine starke Seite. Aber wenn ich Frau Seitz wäre, würde ich die messieurs ein wenig verklagen bei unsern gemeinsamen Eltern. – Dass Du den zärtlichen Papa auf der Bahn gern schon möchtest, begreife ich. Ich beobachtete ihn einmal, wie er von der lb. Kleinen Abschied nahm, als sie im Wägeli auf dem Strässchen war. Dabei paarte sich zur Zärtlichkeit auch noch Schläue, indem er noch einen Blick auf die Fenster des Hauses warf, ist halt auch ein Bruder vom „unvertrauten Gaul“. Wie lange letzterer in St. Maurice bleibt, weiss ich selber nicht. Meine Freundschaft mit dem Mond ist halt auch nicht umsonst, manchmal denke ich so u. dann wieder anders. Wegen der police ist das ewige Wechseln etwas langweilig & auch kostspielig. Auch ist ein Spatz in der Hand sicherer als so auf dem Dache. Auch kann ich mich nicht so gut umtun, obwohl die Briefe ja geschlossen kommen & gehen & die abgehenden kann ich selber einwerfen, wenn wir am Morgen in die Abtei gehen. In den Zeitungsabschnitten lese ich immer nur, dass cuisinière oder Leute, um ein ménage zu führen, gesucht sind. Im grossen ganzen bin ich auch gern hier; dass ich bei 8 Stunden Arbeit auch lieber etwas verdienen würde, ist ja klar, obwohl ich das Frl. von ihrem Standpunkte aus auch begreifen kann. Mein Nähen wiegt Kost & Logis nicht auf, obwohl es anfangs [in der Zwischenzeit] besser geht. Aber allein die Heizung kommt dem „oeuvre“ in einer Woche auf 14-15 frs. zu stehen. – Gewaschen wird recht schön hier, dabei geht es patriarchalisch langsam zu. Vor 3 Wochen gab man sie zum waschen & jetzt bin ich „fangs“ im Besitze der Taschentücher, Handtücher, Handschuhe, Strümpfe & etc. Eine der im „ménage“ beschäftigten Mädchen hatte eben auch etwa 12 Tage Influenza, also eine weniger & alle werden wohl denken: „Was lange währt, wird endlich gut.“ – Morgen geht Monseigneur Marietan für 15 Tage fort; eine Walliserin durfte auch 8 Tage nach Hause, weil die Brüder mobilisi[e]rt wurden. Darum hören wir gewiss so oft die feine Musik, welche gestern Abend den Bernermarsch spielte.

Herzlichsten Gruss an Alle & nochmals innigsten Segenswunsch zum 24. von Deiner treuen

Marie Lutz.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 289/20-2 (Brief), W 289/23-01.20 (Bild von Marie Lutz als ca. vierjähriges Mädchen)

 

Samstag, 19. Februar 1916 – War das gestern ein Sturm!

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Am Sonntag besuchten Frl. Groth u. Frl. Humbel Luise Dommer. Sie brachten die Nachricht, dass Luise am folgenden Tag aus dem Spital entlassen werde. Am Sonntag hatte Luise den Geburtstag, am Montag durfte sie austreten. Das war ein zufälliges Zusammentreffen. Luise war 16 Wochen im Spital. Als Herr Bühr in Küsnacht war, spazierte er einmal auf der Strasse. Hinter Herrn Bühr kam ein Automobil. Er musste ausweichen. Gewöhnlich schaut er nicht in die Automobile hinein, wer darin hockt. Als das Auto kam, schaute Herr Bühr hinein. Es war General Wille. Das war auch ein Zufall, dass er den General sah.

Am Samstag wurde ein Mädchen von Hätzingen vorgestellt. Es heisst Elsa Brunner. Wir durften allerlei von dem Mädchen fragen. Herr Bühr sagte, er stehe zur Verfügung. Die Reise dauerte nur 3 Stunden. Herr Brunner hatte überall sofortigen Anschluss. Wird Elsa im Frühling aufgenommen? Es ist im Dezember schon 8 Jahre alt. Im Frühling werden nur 5 Betten frei. Also können nur 5 Mädchen eintreten. Herr Bühr sagte, Elsa könne vielleicht nicht eintreten. Er müsse zuerst die St.Galler, dann die Appenzeller u. Thurgauer berücksichtigen. Wenn dann noch Platz frei sei, könne man auch auf die Bündner u. Glarner Rücksicht nehmen.

Am Montag wurde Luise Donner aus dem Spital entlassen. Frieda Näf hat sie abgeholt. Luise kam mit dicken Backen. Sie hat 16 Wochen nichts getan u. ist immer herumgesessen u. hat sich gelangweilt. Sie hat noch ein Heftpflaster auf der Operationswunde. Sie muss noch einigemal Soolbäder [sic] nehmen zur Kräftigung.

Am Abend kam Frl. Alther, Lehrerin aus der Stadt zu Frau Bühr. Als sie in das Wohnzimmer kamen, war Frl. Alther als Bernerin verkleidet. Die Mädchen haben Mund u. Augen aufgerissen. Warum hat Frl. Alther die Tracht von Frau Bühr entlehnt? Nächsten Samstag haben die Lehrerinnen der Stadt eine Abendunterhaltung. Da wird Frl. Alther als Bernerin auftreten u. etwas aufsagen.

Wir bemerkten am Dienstag, dass Seppli in der Schule ein trauriges Gesicht machte. Sie hatte Heimweh. Herr Bühr sagte, sie habe eine Leichenbittermiene aufgesetzt. Wenn jemand auf dem Lande gestorben ist, geht ein Mann oder eine Frau in alle Häuser u. ladet die Leute zur Leiche ein. Der Leichenbitter macht ein trauriges Gesicht. Das ist eine Leichenbittermiene.

War das gestern ein Sturm! Auf dem Turnplatz ist ein Vogelbeerbaum von ihm umgeworfen worden. Der Gärtner muss ihn wieder aufrichten u. ihm einen starken Pfahl geben. Vielleicht aber ist der Baum an der Wurzel abgebrochen. Dann kann man ihn nicht mehr brauchen. Man muss einen anderen setzen. Früher war auch einmal ein Vogelbeerbaum von einem Sturm umgerissen worden. Er war verloren. Auch in der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch tobte der Sturm.

Frau Bühr hatte am Mittwoch den Geburtstag. Die Lehrerinnen schenkten ihr einen Blumenstock. Wir Mädchen der Oberklasse hätten Frau Bühr gerne Blumen geschenkt. Wir hätten Frau Bühr eine Freude gemacht, weil sie viel Arbeit u. Mühe mit uns gehabt hat. Wir haben Hr. Bühr durch Lina Tobler fragen lassen, ob wir Frau Bühr unseren Plan ausführen dürfen. Herr Bühr meinte aber, lieber sollen wir ihr eine selbstverfertigte Handarbeit geben, etwa beim Austritt.

Herr Bühr kaufte für die Schulzimmer des Knabenhauses ein Bilderwerk für den Anschauungsunterricht. Es sind 14 schöne Bilder, auf Leinwand aufgezogen, mit Stäben u. Ösen versehen. Ein Bild kostete 3,90 fr. das ganze Werk kostete 54,60 fs. Die Bilder stellen dar: eine Mühle im Winter, die gleiche Mühle im Frühling, Gartenbau, einen Bauernhof, Wild im Winter, der Wald, eine Heuernte, eine Getreideernte, Ackerbau, einen Wimmet, Weihnachtsmarkt, am heiligen Abend im Winter, die Grossstadt.

Herr Bühr hat 2 Gasrechnungen bezahlt. Das Mädchenhaus samt dem Küchenhaus brauchte vom 1. Jan. bis 16. Febr. 355 Kubikmeter, das Knabenhaus 238 Kubikmeter. Der Kubikmeter kostet für die Anstalt 15. Rp. Herr Bühr bezahlte für das Mädchenhaus 53,25 fs., für das Knabenhaus 35,70 fs. Alles zusammen machte 88,95 fs.

Herr Bühr kaufte am Mittwoch für Frau Bühr eine Papeterie mit 25 Trauerbriefbogen u. Kuverten. Er kaufte auch ein ovales Rähmli für ein Bildnis von ihm. Es ist eine Bleistiftzeichnung von einer Kunstmalerin. Herr Bühr unterrichtete vor etwa 10 Jahren einen schwerhörigen Herrn im Ablesen der Sprache vom Mund. Seine Braut war bei den Übungen anwesend. Sie war eine Kunstmalerin. Einmal während Herr Bühr dem Herrn vorsprach, zeichnete sie Herrn Bühr ab. In einer Viertelstunde hatte sie es gemacht. Wir sahen, dass das Bild naturgetreu ist. Die Malerin schenkte es Frau Bühr zum Andenken.

Frau Bühr führte das ganze Mädchenhaus auf den Leim. Sie sagte, Frau Verzal habe den Geburtstag. Wir sollen ihr gratulieren. Herr Bühr, die Lehrerinnen u. alle Mädchen haben ihr gratuliert. Aber es war nicht so. Frau Verzahl hat im Dezember den Geburtstag gehabt. Um 4 Uhr verzehrten wir Russen [wohl ein Gebäck], zusammen 101 Stück.

Diese Woche hat Anton Vogler ein Ellbogengelenk ausgerenkt. Er ist gefallen. Herr Giger hat es wieder eingerenkt. Er ist ein Viertelsdoktor. Er versteht einwenig von der Krankenhilfe. Er ist Sanitäter. Am Mittwoch brachte Herr Thurnheer Anton zu Hrn. Dr. Wenner. Bei der Untersuchung zeigte es sich, dass Anton den Arm gebrochen hat. Hr. Dr. Wenner richtete den Bruch wieder u. legte einen Verband an. So ist Herr Giger ein richtiger Viertelsdoktor.

Turnunterricht Knaben

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Text) und A 451/7.4.01-1 und A 451/7.4.01-2 (Bilder des Mädchen- und Knaben-Turnunterrichts)