Samstag, 1. April 1916 – Hottentottenpotentaten-tantenattentäter in der Sprachheilschule

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Herr Bühr hat uns ein neues Wort gelehrt. Es heisst: Hottentottenpotentatentantenattentäter. Das ist eine gute Übung für die Zunge.

Am Sonntag machte ich Besuch in Lachen. Ich brachte ein Sträusschen Märzensternen [sic] heim. In Stein im Kt. Appenzell hat es viele Märzensterne auf den Wiesen. Wenn der März kommt, ziehen die Leute in Scharen nach Stein, um Märzensterne zu grasen. Wir haben auf dem Spaziergang wahrgenommen, dass 3 Kinder einen Haufen Märzensterne abgegrast hatten. Das ist eine Versündigung an der Natur. In einigen Jahren hat es in Stein keine Märzensterne mehr. Früher gab es in St. Gallen in den Wäldern eine sehr schöne Blume, Frauenschuh. Sie wurde von den Leuten ausgerottet. Jetzt gibt es gar keine mehr. Früher gab es in der Schweiz viele alte, dicke Bäume. Sie wurden umgehauen u. dann verkauft. Es ist schade um die schönen Bäume. In den Alpen lebten viele Adler, Hirsche, Steinböcke, Rehe, Gemsen u. andere Geschöpfe. Sie sind von den Jägern niedergeknallt worden. Viele alte, schöne Häuser wurden niedergerissen. Die Leute sagten, sie seien Verkehrshindernisse. Darum gründete man einen Naturschutzverein. Dann werden die Natur u. die Heimat geschützt vor den Naturräubern. Herr Bühr zeigte uns viele Bilder von den alten, schönen Häusern von St.Gallen.

Fr. Groth bekam eine Nachricht von Frl. Scherrer. Morgen kommt sie nach St. Gallen. Sie lässt sich bei Hrn. Dr. Bärlocher untersuchen. Bei dieser Gelegenheit macht sie in der Anstalt einen Besuch. Wir freuten uns auf das Wiedersehen. Es nimmt uns wunder, wie es [sic] Frl. Scherrer aussieht. Ich glaube, sie wurde von der Sonne gebräunt. Sie musste in Davos viel an der Sonne liegen. Die Sonne heilt die Lungen. Die Bündner haben eine besondere Sonne. Sie ist nocht [sic] so verschämt, wie die St.Galler. In St.Gallen scheint die Sonne nicht oft. Sie versteckt sich oft hinter den Wolken.

Heute u. morgen finden die Examen in der Stadt statt. Nachher beginnen die Ferien.

Familie Bühr hat jetzt einen Gast. Als Frau Bühr von Mattstetten zurückkehrte, brachte sie eine Nichte mit. Sie sieht Trudi Bühr ähnlich, nur ist diese am Gesicht u. am Körper schmäler, ihre Cousine breiter u. fester. Die Cousine spielt allein. Sie darf bald mit den Kindern spielen u. herumtollen.

Gestern hatten wir Sturm. Er hat in den Schlafsäälen [sic] Decken u. Kopfkissen auf den Boden geworfen. In Frl. Groths Alkoven hat er übel gehaust. Er hat 3 Bilder von den Wänden gerissen u. zertrümmert. Das war ein toller Geselle.

Am Donnerstag holte Willi Bühr eine Kiste auf dem Expressgut. Darin waren 4 Kaninchen, 3 weisse u. ein graues. Onkel Fritz in Mattstetten, der Vater von Trudi Gfeller, schenkte sie den Kindern, dass sie etwas zu tun haben. Willi u. Hans konnten die Sendung fast nicht erwarten. Willi fragte in den letzten Tagen hundert- u. aberhundertmal, ob sie jetzt bald kommen. Er reckte sich fast den Hals aus nach dem Bahnfuhrwerk. Er glaubte, das Bahnfuhrwerk bringe sie. Diese Woche musste Anton Vogler in den Spital gebracht werden. Sein Arm ist steif. Er kann ihn fast nicht biegen. Er wird im Spital geübt. Eine Schwester muss ihn so lange mit Gewalt zurückbiegen, bis er die Beweglichkeit erlangt hat. Er wird narkotisiert, damit er die Schmerzen nicht spürt. Diese Woche wurde er mit Röntgenstrahlen photographiert. Die Ärzte finden nicht recht heraus, wo es fehlt.

Wir haben heute eine Schülerin weniger in unserer Klasse. Gestern Abend ging Seppli mit der Mutter heim. Ihre Schwester Vreneli ist endlich von ihrem Leiden erlöst worden. Die Mutter nimmt die Leiche nach Rheineck. Sie will das Kind dort begraben lassen, damit sie das Grab öfters besuchen kann. Wenn Vreneli in St. Gallen begraben würde, so könnten die Angehörigen das Grab nicht so oft besuchen. Auch wäre jeder Besuch mit Kosten verknüpft.

Wir haben im Mädchenuaus wieder eine neue Patientin, Frl. Baur. Sie ist zum zweitenmal an Influenza erkrankt. Wahrscheinlich ist sie nach dem erstenmal zu früh aufgestanden u. zu früh an die Arbeit gegangen. Die Influenza ist eine heimtückische Krankheit.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Text) und W 238/06.09-36 (Ansichtskarte von 1910, Verlag und Lithograph: Artist Atelier H. Guggenheim & Co., Editeurs, Zürich, No. 6920 Dép.)

 

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