Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:
Vom Letzispaziergang.
Am Mittwoch Nachmittag machten wir Oberklässlerinnen mit Hrn. u. Frau Bühr u. mit Trudi und Hans den Letzispaziergang. Unser Ziel war Romanshorn. Am Morgen war es neblig. Am Mittag wurde der Nebel von der Sonne verjagt. Um 310 Uhr fuhren wir ab. Als der Zug in Roggwil hielt, begrüssten wir den Bodensee.
Wir ergötzten uns an den Frühlingsblumen u. schönen Bäumen. Später trafen wir einen ehemaligen Zögling, Frl. Bertha Hess, in Neukirch-Egnach. Sie kam auch mit uns. Auf dem Bahnhof in Romanshorn begegneten wir Frau Keller, Marthas Mutter. Sie begleitete uns auf den Friedhof u. zeigte uns das Grab von unserer verstorbenen Mitschülerin, Martha Keller. Sie hat einen sehr schönen Grabstein bekommen. Daran steht ein Mädchen weinend u. ein Sträusschen Blumen in der Hand. Der Spruch heisst: Nicht verloren, nur vorangegangen. Im Beet hat es schöne Blumen. Nachher gingen wir an das Grab von Marthas Schwester Lina. Es hat einen fast gleichen Stein. Beide Gräber gefielen uns sehr gut. Hierauf besuchten wir die protestantische Kirche. Diese ist sehr schön gebaut. Unterwegs sahen wir eine Kaffeehalle. Wir gingen hinein. Wir wurden von Frau Keller u. Frl. Hess eingeladen. Wir genossen Kakao u. Krämli. Es mundete uns. Als wir fertig waren, schauten wir das schöne Städ[t]chen an. Hierauf statten wir noch der katholischen Kirche einen Besuch ab. Wir kamen an den See. Wir sahen die Luftschiffhalle bei Friedrichshafen. Wir gingen über die Brücke der Badanstalt u. wieder zurück. Wir kamen zur Insel. Das ist ein schöner Aussichtspunkt. Die Aussicht war nicht ganz hell. Wir kehrten dann wieder um u. bummelten am Ufer entlang u. kamen zum Hafen. Es hat dort viele Kieshaufen. Einige Personen beschäftigten sich mit Fischfangen. Um halb 7 Uhr mussten wir auf den Bahnhof gehen. Wir fuhren mit dem Schnellzug heim. Wir nahmen noch von Fr. Keller u. Frl. Hess Abschied u. dankten ihnen füre [für] ihre Freundlichkeit. Der Letzispaziergang war ein schöner Abschluss unserer Schulzeit.
Freitag 28. April 1916
Heute sind wir zum letztenmal in die Schule gegangen. Meine Schulzeit ist zu Ende. Ich bin froh, dass ich so manches lernen durfte. Ich will der Anstalt dafür dankbar sein, indem ich mir Mühe gebe, ein tüchtiger, guter Mensch zu sein.
Adiö, liebe Anstalt! Auf Wiedersehen!
Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Tagebuch) sowie A 451/4.2.2-1 (Mädchengruppe mit Efeukränzen) und BTN 1/1.1-042 (Bodensee-Toggenburgbahn: Stationsgebäude Roggwil-Berg, ca. 1910). 1909 feierte die damalige Taubstummenschule Jubiläum. An der Feier führten Schülerinnen einen Reigen auf. Eines der jüngeren Mädchen in der Mädchengruppe könnte Emma Graf, die Tagebuchschreiberin, sein.