Brief von Marie Fehr-Gsell (1856-1945) an ihre Tochter Gry (Clara Maria Margaretha Bridel-Fehr, geboren 1882). Offenbar hatte Margaretha Bridel-Fehr in der Nacht zuvor ein Mädchen geboren. Ihre beiden älteren Söhne waren bei ihrer Mutter untergebracht. Die Frauen machten sich Sorgen, ob sich die Kinder ein paar Wochen zuvor mit Keuchhusten angesteckt hatten. Diese Krankheit wäre für ein Neugeborenes sehr gefährlich gewesen.
Steinegg, 17.6.16.
Liebstes Gryli! Ist das fein s‘ Kindli da u. ein Meiteli! Von ganzem Herzen gratulieren wir dir u. Gustave zur Erfüllung eures grossen Wunsches! Welche Erleichterung, dass das kleine Wesen angekommen u. alles gut ist, behüte es der liebe Gott u. dich auch liebes neues Mütterli! Die Freude von Bubi ist gross, Ane nahm die Nachricht mit beschaulicher Ruhe auf – und spielte weiter. Bubu träumte heut Nacht, que la petite soeur est venue u. sagte mir das gleich beim erwachen [sic]. Nun ist er fest überzeugt, ein Engel habe ihm das in der Nacht gesagt, weil es so gewesen wie er geträumt u. was er nun doch zuerst erfahren habe, das Telegramm bekamen wir um halb 10 Uhr u. Bubi erzählt den Traum 7 Uhr, gelt, nettes zusammentreffen [sic]! Und gestern um 8 Uhr haben wir noch geschwatzt zusammen u. jetzt die frohe Botschaft, gell wie fühlt man sich doch nah trotz der Entfernung. Was wir um 11 Uhr uns sagen wollten, kommt nun hier schriftlich. Dr. Isler sagt, Ane könnte kommen aber ohne Garantie u. müsste beim ersten Husten sofort fortgebracht werden. Denn nach seiner Erfahrung haben schon 3 Tage alte Kindli den Keuchhusten bekommen, was immer schrecklich sei. Um sicher zu sein, müsse man noch 14 Tage zuwarten, vielleicht bei schönem Wetter auch weniger, wenn Bubi einmal ein paar Tage nicht mehr huste, dann könne er dann gleich reisen, 1 Tag ohne Husten sei noch keine Garantie, Keuchhusten sei eben sehr perfid. Nun haben wir aber schon bald 3 Wochen hinter uns seit d. Ansteckungsgefahr, nun wird sich der Fall bald klären. Selbstverständlich dachte ich[,] dich um Rosa [vermutlich Hausangestellte] zu bitten[,] falls es wirklich Keuchhusten würde, ich glaube aber jetzt noch, wir hauen durch ohne diesen schlimmen Gast und lasse ich es gern so wie es jetzt ist. Und nun dein Herzenswunsch „s’Meiteli“ erfüllt ist, denke ich[,] du schickst dich ruhig u. vernünftig in die längere Trennung u. bist dankbar, dass alles so gut gegangen u. deine Buben ja nicht in fremden Händen sind. Sie sind sehr vergnügt u. haben noch nie 1 Moment Heimweh gehabt u. heute Nacht hat Bubi nie gehustet. Sollte es aber wirklich länger gehen, so könnte ich dich dann mal für ein kurzes Bsüchli [sic, für einen kurzen Besuch] von 2 Tagen besuchen, dass du doch jemand von uns hast, der dir einen warmen Glückwunschkuss geben u. s’Meiteli bewundern kann. Sei jetzt recht brav, schlafe u. iss brav u. freue dich dankbaren Herzens deines Töchterleins u. dass es den Buben verhältnismässig so gut geht. Wenn mir Schwester Luise mal etwas Näheres berichten würde über dein Ergehen, wäre ich sehr dankbar, Herren schreiben ja nicht gern solche Sachen. Leid tut mir, dass ich dir so gar nicht helfen od. Liebes tun kann in diesen Liegetagen für dich. Schwester soll mir aber nur Wünsche von dir sagen, ich kann ja wohl auch Order schriftlich geben[,] dir etwas zu schicken, jedenfalls sollst du die Dunstobstgläser bekommen via Hanneli u. etwas Äpfel, gell. Und nun Bhüeti Gott[,] liebs Kind,[,] liebs neues Enkeli
warmen Mamakuss
Mama
Gest. herzliche Grüsse.
Auch Mary schickt dir viel liebe Grüsse u. die Bueben viele Küsse. Bubi: 1000,000,00 a maman, 280.000.000 a la petite soeur
Papa ist in Zürich.
Jetzt bist ja nicht mehr allein u. kinderlos, freut mich das für dich!
Die kleine neue Erdenbürgerin war die Tochter von Klara-Margaretha und Gustave Bridel-Fehr. Gustave Bridel (1872-1966) hatte in Zürich und Dresden Bauingenieur studiert. Von 1903 bis 1919 war er Instruktionsoffizier der Artillerie. vgl. Biographie Gustave Bridel
Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 112 B 30 (Transkription von Marie Rose v. Sprecher-Bridel) und ZNA 01/0200 (Die Lebensalter in «Mein drittes Schulbuch» [Fibel], um 1914)