„Berg frei“ ist der traditionelle Gruss der Naturfreunde, die ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung haben. Im Gegensatz dazu steht „Berg heil“ der bürgerlich orientierten Alpenvereine. 1912 entstand am Säntis die erste Naturfreundehütte der Schweiz.
Tourenbericht vom 2. Juli 1916. „Säntis-Altmann“.
I. Grau der Himmel schon seit Wochen, Sonne kennt man fast nicht mehr, // Ständig kommen angekrochen, düstre Wolken regenschwer. // Ein’ge wetterfeste Knaben, trotzdem sich entschlossen haben, // Die Berge zu ersteigen, um Petrus mal zu zeigen; // Dass er trotz Regen und Hagelschauern, // Uns nicht die Laune kann versauern.
II. Per Dampfross sie nach Urnäsch ziehn, // Im Abendglanz die Berg‘ erglühn. // Und Kessler voran, macht Riesenschritte, // Am Rossfall vorbei, jetzt hat man die Mitte // Von Urnäsch bis Krätzerli erreicht, // Wie wird uns das Herze so leicht.
III. Im Krätzerli gabs feinen Fladen, // Auch Milch und Wein kann man da haben, // Nachdem wir den Magen Tribut gebracht, // Haben vom Himmel die Sterne gelacht.
IV. Und weiter zieht es uns mächtig, auf Schwägalp, wie prächtig, V/ om Säntis treu bewacht, in milder Sternennacht, // Fanden wir unsere Hütte wieder, // Wo wir geruht die müden Glieder.
V. Früh morgens eh die Hähne krähn, // Und alles noch in süsser Ruh, // Giebts kein lang Besinnen mehr, // Freund Schweizer ruft uns zu, // Auf auf Kamerade, heraus aus dem Heu, // Das Frühstück verzehrt, den Rucksack herbei, // Und schon in kurzer Zeit, war alles marschbereit. // Er zählt die Häupter seiner Lieben, // Und sie[he], statt sechse warens sieben.
VI. D’rauf ganz bedächtig, im Morgenrot prächtig, // Geht es bergan, zur „Tierwies“ dann. // Dort gabs einen Schnaps, und weiter gabs, // Zu bewundern die herrliche Alpenwelt, // Ein armer Tropf dem das nicht gefällt.
VII. Der Säntis-Gipfel war bald erklommen, // Von der Sonne soeben wach geküsst. // Die Aussicht war herrlich u. wenig verschwommen, // Ihr stolzen Berge seid uns gegrüsst.
VIII. Was kann man doch alles hier oben erleben, D// a sahen wir ein Dämchen soeben, // Mit Lackstiefelchen angetan ganz fein, // Für ein Schuhgeschäft Reclame laufen, // Mögt alle ihr eure Bergschuh dort kaufen.
IX. An stolze Felswand, am Liesengrad [Lisengrat], // Ein Plätzchen wir fanden, das gefallen uns hat, // Und aus des Rucksacks tiefsten Gründen, // Kamen die schönsten Sachen ans Licht, // Um gleich im Magen zu verschwinden, // Dem Wettergott gefiel das nicht. // ER gab uns seinen Morgensegen // Vom Weg mit auf den Liesengrad, // Aus Himmels-Schläusen [sic] strömt der Regen, // Uns wenig, das genieren tat.
X. Über Fels und Stein, // Immer hoch das Bein, // Sind wir geklettert. // In kühnem Schwung den Schnee hinab, // Und immer weiter, bergauf, bergab.
XI. Sei uns gegrüsst, stolzer Altmann, // Auch Du musst heute noch glauben dran, // „Es wird uns schon gelingen, // Auch Dich noch zu bezwingen. // Von der Stirne heiss, rinnen muss der Schweiss, // Soll das Werk den Meister loben; // In kurzer Zeit schon sind wir oben.
XII. Der Himmel hat sich aufgehellt, // Ringsum, so schön, mit Worten nicht zu sagen, // Erstrahlen Firn u. Gletscherwelt, // Bis wo die Gipfel in den Himmel ragen. // Ja, die Natur so göttlich schön, // So einzig wahr und rein. // Warum kann denn die Menschheit nicht // In Frieden einig sein?
XIII. Der Säntis zieht inzwischen, die Nebelhaube an, // Nun heisst es abwärts wieder, hübsch langsam, Mann für Mann. // Am Ostgrad [Ostgrat] vorbei, im Schaffhauser Kamin, // Über Schründe u. Spalten mit frohem Sinn. // Freund Minder hat sich ein Liedchen gepfiffen, // Vor lauter Freude, wir haben’s begriffen. // Zu Tal manch helle Jodler schallen, // Die von den Bergen wiederhallen.
XIV. Am End‘ vom Kamin, im Schnee ein Rutsch, // Auf einmal war Freund Pickert futsch. // Mit Beinen und Armen, dass Gott erbarmen // Fährt er in der Luft herum, Ach das war auch gar zu dumm. // Vom Kessler die Hose aus gutem Loden, hat schwer gelitten an ihrem Boden, // Darauf folgt Minder im lockigen Haar, die Schneebrillen raus, sonst lauft ihr Gefahr.
XV. Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp // Zu rutschen das lange Schneefeld hinab? // Schweizer als erster saust schon hinunter, // Und wieder folgt einer frisch und munter, // Bis alle wir unten gelandet sind // Auch Masel die Sprache wiederfindt. // „Schneidig“ sagt er „watt?“ // „Donnerwetter abjerutscht“ // Minder darob lacht und hat // Sich die Brille abgeputzt.
Die Gruppe nach der Rutschpartie am unteren Ende des sogenannten Schaffhauser Kamins (Foto im Tourenbuch).
XVI. Am Fählensee in friedlichem Vereine, Männlein u. Weiblein, Arme u. Beine // Von sich gestreckt in süsser Ruh, // Und vom Himmel die Sonne lacht dazu. // Gengis [?] nebst Damen, im schönen Rahmen // Begrüssten wir da, so wunderbar. // „Berg frei“ erschallt es aus aller Munde, // Miteinander verbrachte man eine Stunde. // Die Loreley macht Toilett, als käm sie grad erst aus dem Bett, // Sie wäscht sich mit dem Kamme, u. kämmt sich mit dem Schwamme, // Und Max singt ein Lied dabei, von wunderbarer Melodei.
XVII. Darauf sind sie hinweg marschiert, u. haben uns unten avisiert, // Im Weissbad treffen wir uns wieder, inzwischen lebt wohl Touristenbrüder // Wir aber sind noch liegen geblieben, und haben uns dazu entschieden // Noch einmal abzukochen zünftig, ich glaube das war sehr vernünftig. // Da hört man es brodeln, bei Minder giebts [sic] Nudeln, // Zwar versalzen sie sind, aber dafür nicht lind. // Max trinkt, ach herje, „Halleluja-Tee“ // Und Pickert behauptet steif u. fest, Hafersuppe sei das Best. // Was steht bei Schweizer auf dem Küchenzettel heut? // Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit, // Und Kessler meint, weil die Sonne scheint, // Braucht keinen Sprit man zu verbrennen, // Ich will ein praktisches Mittel euch nennen. // Mit dem Bauch in die Sonne legt er sich drauf, // Und wärmt sich das Morgenessen auf.
XVIII. Dann nach beendigtem Schmause haben, // Wir leere Conservenbüchsen vergraben. // Mit den Nudeln die Fische im See wir beglücken, // Mögen sie sich daran erquicken. // Dankbaren Herzens haben wir dann, ein Opferfeuer gezündet an, // Und schafften somit zu gleicher Zeit, // Alle Papierresten auf die Seit. // Schnell noch dem Kessler die Hose geflickt, // Nachher haben auch wir uns gedrückt. // Sind dann den Stiefel hinab getrollt, // Die Beine haben nicht recht mehr gewollt. // Auf einmal sah man, es war zum lachen [sic], // Freund Willy `nen schwungvollen Salto machen. // Die Feldflasch in schönem Bogen, ist zu Tal geflogen. // Max hat sie schnell noch aufgefangen // Und somit war alles gut gegangen; // Denn die Fische umfing mit ihrer Hülle // Kühlen See in grosser Fülle, // Der soll uns noch laben, wenn Durst wir haben; // Denn der Weg bis ins Weissbad ist noch lang, // Da lernt man schätzen solch edlen Trank.
XIX. Auf Platten, am Weg, steht ein Häuschen gebaut, // Von schattigen Bäumen gar lieblich belaubt. // Da tät’s uns gefallen, da zieht es uns hin, // Doch fort muss der Wandrer, muss heimwärts ziehn.
XX. Im Restaurant zum Weissbad, da kehrten durstig ein, // Die fröhlichen Gesellen, und fanden bei Saft und Wein // Die Staubern-Kraxler wieder, drum liessen sie sich nieder, // Verzehrten, was Gutes die Wirtin bot, // Saft, Bier und Wein, auch Wurst und Brot.
XXI. Bis Appenzell das kurze Stück, // Legt man noch recht gemütlich zurück, // Mit fröhlichem Gesang, und Schnörregiege [Mundharmonika] Klang. // Zum Schluss noch ein schönes Regenbad // Uns sauber abgewaschen hat.
XXII. Leider müssen wir heimwärts gehen, // Ihr Berge lebt wohl, auf Wiedersehn, // Mit Dankbarkeit im Herzen, und Frieden in der Brust, // Was die Natur uns bot, wir sind es uns bewusst. // Am Himmel zucken Blitze, und ferner Donner kracht, // Ade ihr Berggenossen, für heute
„Gute Nacht“
W. Pickert[,] 2. Juli 1916.
Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 285/2.06.1-1 (Touristenverein Naturfreunde St.Gallen (TNV), Sektion St.Gallen, Tourenbericht) und W 285/2.06.1-2 (Bilder)