Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat, Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung.
Scherrer befand sich immer noch in Flüeli in der Innerschweiz, wo er zusammen mit einem Kollegen einige Tage Ferien verbrachte.
Der Regen hat aufgehört! Wie lange wohl. Man muss immer vom Wetter schreiben. Die Nebel schleichen in schweren hellen Mahden den Bergen entlang. Doch in der Ferne gegen den Brünig blinkt ein kleines Stück blauer Himmel. Man sollte es fotografieren. Der Tag wird wirklich wunderbar. Wir gehen dann auch trotz dem nassen Grund und Boden auf die Tour. Am schönen frischen Morgen geht es in den Ranft, wo die Klause des heiligen Bruder Klaus steht. Zwei Kapellen sind im Ranft, die eine, wo Bruder Klausens Zelle steht, die andere, wo ihm die Mutter Gottes erschienen ist. Es ist eine friedliche Einsamkeit drunten im Ranft.
Erdbeeren, Bild aus dem Viertklasslesebuch der Primarschulen des Kantons St.Gallen, herausgegeben vom Erziehungsrat 1916
Wir ziehen dann der Melchaa nach gegen das Melchtal. Wir sehen die Erdbeeren gemäht. Ein Bauer hatte die Erdbeeren weggemäht, wir konnten sie in den Mahden zusammen nehmen. Schliesslich steige ich und Kollege Bruggmann hinauf zur Kapelle des Einsiedler Ulrich, der dem Rate des Bruder Klaus folgend unter einem grossen Stein wohnte. Es ist dann von Ulrich wahrscheinlich die Kapelle, die sich neben dem Stein erhebt, geweiht worden. Von dieser einsamen Kapelle geht es weiter aufwärts nach St.Niklausen. In der Höhe, am steilen Waldesrand erhebt sich von Waldesdunkel ein nettes Kirchlein ab, St.Niklausen. Die Kirche ist interessant durch ihre Deckenmalerei, wo nebst verschiedenen Episoden aus der heiligen Schrift zahlreiche Heilige die Kirchendecke zieren. Die Rückkehr erfolgt über den Ranft in unser Flüeli. Die Schuhe und die Hosen sind zwar nass, aber es war doch ein herrlicher
Morgenspaziergang. Nur eines fehlte, mein treues liebes Weibchen! Am Nachmittag gehen wir im Verein mit Vater Anathasius von Sarnen, Ingenieur Becker wiederum nach St. Niklausen. In der dortigen Kaplaneiwirtschaft wird tüchtig gevespert und ein guter Käse mag einen guten Stradella und Bari aushalten. Die Kaplanei wird von dem dortigen Kaplan bewirtschaftet. Kaplan Bucher ist seit 42 Jahren auf der Kaplanei, ein solider und ganz seriöser Wirt. Da gibt es keinen Schnaps und keinen Senf. Wer etwa schon zu viel hat, der bekommt nichts mehr. Der gute alte Herr wird seiner Originalität wegen oft gefragt. – Der Tag lohnte sich und ich wünsche nur[,] meine Gattin auch bald hier zu haben, denn geteilte Freude ist doppelte Freude.
Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) sowie W 238/08.02-19 (Auszug aus Ansichtskarte, um 1910; typische Wanderausrüstung zur Zeit des Ersten Weltkriegs mit Rucksack, Stock, Feldflasche, Nagelschuhen und Feldstecher) und ZNA 01/0205 (Lesebuch für das vierte Schuljahr der Primarschulen des Kantons St.Gallen, hg. vom Erziehungsrat, St.Gallen 1916, S. 10)