Mittwoch, 26. Juli 1916 – „[…] es sei nur ein wenig Neurasthenie, und da sei der Dienst ausge-zeichnet.“: Der Psychiater muss ins Militär

Die Frau des Psychiaters und Kunstmalers Franz Beda Riklin (1878-1938) befand sich mit den Kindern in den Ferien auf dem Kühboden bei Unterwasser im Toggenburg. Riklin sollte nachfolgen, wurde aber trotz ärztlichem Dispens in den Militärdienst ins Engadin aufgeboten. Er schrieb seiner Frau:

Küsnacht, 26.VII.16

Allerliebste Frau!

Endlich habe ich das Gutachten auch fertig. Hingegen sind Schwierigkeiten mit dem Militär da. Der Divisionsarzt meinte, es sei nur ein wenig Neurasthenie [neurotische Störung, nervöse Erschöpfung] u. da sei der Dienst ausgezeichnet. (Das Zeugnis von Dr[.] Keller sagte nichts derartiges[.]) Ich habe mich nun kräftig dahinter gesetzt, mit Dr. Keller gesprochen (es ist über alles hinaus ein lautes Geräusch zu hören), telegraphi[e]rt, u. vorgeschlagen, den Div-arzt [Divisionsarzt] persönlich zu sehen, da er ein ganz falsches Bild habe. Ich kann mir das nicht gefallen lassen. So reise ich morgen od. übermorgen ins Engadin; es geht gerade mit Benützung des ersten u. letzten Zuges. Den Zweck werde ich schon erreichen, aber ich bin „wild“ über die Umstände.

Jak. Schaffner möchte uns im Sept. mit seiner neuen Frau besuchen. Ich habe gesagt ja. Und Morbage [?] hat noch gedankt u. geschrieben, es sei vor Verdun passiert.

Der Schweizer Schriftsteller Jakob Schaffner (1875-1944) war ursprünglich Schuhmacher. Er lebte ab 1911 in Deutschland. 1916 verheiratete er sich in zweiter Ehe mit der deutschen Staatsbürgerin Julia Cuno. Später hegte er offen Sympathien für die Nationalsozialisten, ohne aber Parteimitglied zu werden. 1940 trat er der frontistischen Nationalen Bewegung der Schweiz bei.

Franz Beda Riklin fährt in seinem Brief fort:

Die Militärgeschichte hat mich ein wenig aus der Ruhe gebracht, d.h. nimmt einem [sic] mehr in Anspruch, als sie es verdient.

Hier fängts bei dem guten Wetter an schön zu werden. Die Blumen, die frühen wie die späten, blühen jetzt fast alle miteinander; Du wirst aber das Meiste noch sehen. Dahlien, die allerersten Winterastern u.s.f. kommen auch schon; ebenso die Stockrosen u. die Phlox. Schade, dass Du nicht mit mir im Garten bist. Das Bild ist obendurch beinahe fertig; das waren die schwierigern Partien; man sollte jetzt dran arbeiten können an einem Stück. Ist das Papier gut angekommen?

Ich bin etwas müde u. froh, endlich etwas aus der Arbeit zu kommen. Es war doch ziemlich viel Unruhe u. Sorge; jetzt muss ich alles ein wenig loslassen. Ich freue mich ungemein, wieder mit Dir zu sein; denn hier habe ich z.Z. kein Bein u. wandle auch völlig einsam. Ich habe ein kleines chinesisches Bändchen von Frl. Leutert bekommen, ähnlich Lao-Tse, aber mehr in Form von Gleichnissen u. Geschichten. Aber ich mag wenig lesen, und möchte lieber im Schauen aufgehen.

Herzlichste Grüsse von Deinem treuen

Franz

Und viel[e] Grüsse an die Kinder.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Brief) und ZOA 001/8.057 (Soldaten im Engadin im Ersten Weltkrieg. Sie versuchen, ein reiterloses Pferd über ein Hindernis zu scheuchen. Im Hintergrund ist Samedan zu sehen.)

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