Montag, 6. November 1916 – Die „vom Gallusklima ungünstig beeinflusste Gesundheit“ des Herrn Professor und die auch im Schweizerland verdiente Ehren-stellung der Frauentätigkeit

Brief von Joseph Polin (1862-1931), Professor für russische Sprache und Literatur, an den Schulrat der HSG:

Leysin, den 6. November 1916

Tit. Schulrat der Handelshochschule

St.Gallen

Im Besitze der w. [werten] Mitteilung des h. [hohen] Schulrates vom 3. [unlesbar] verdanke ich den Beschluss über Ausrichtung meines vollen Gehaltes bis Ende März 1917 aufs Beste und bitte für die daran geknüpften Wünsche voller Genesung meinen wärmsten Dank entgegenzunehmen.

Mit vorzüglicher Hochschätzung

Ihr sehr ergebener

Professor JPolin

Professor Polin war wegen einer chronischen Kniegelenkentzündung krankgeschrieben worden. Er befand sich in Leysin zur Kur, wie er in einem früheren Brief vom 7. Oktober 1916 ausführlich beschrieben hatte:

Herrn Dr. H. Wartmann, Erziehungsrat

St.Gallen

Sehr geehrter Herr Doktor!

Wie die Herren St.Galler Mediziner Dr. Hausmann und Dr. Feurer es übrigens vermutet hatten, bin ich mit meiner Kur in Leysin leider noch nicht an das ersehnte Ende gelangt. So erfreulich die ausgezeichneten Fortschritte und so sicher die Aussicht auf vollständige Heilung auch sind, – vor Weihnachten dürfte ich mein Krankenlager kaum verlassen können. In durch hier gesammelte Erfahrung gewitzigt, muss ich meine Erwartungen noch etwas mehr einschränken und wohl damit rechnen, dass, wenn anders die ganze Kur durch vorzeitiges Abbrechen nicht gefährdet werden solle, es wohl bis Ostern 1917 dauern könnte. Der Chefarzt, Dr. Rollier, ist von den Ferien noch nicht zurück, daher mein etwas verspäteter Bericht, dem ich die ärztliche Bescheinigung erst nächstens werde folgen lassen können.

Inzwischen erlaube ich mir anzunehmen und bitte ich auch höflichst darum, dass der h. Schulrat in wohlwollender Berücksichtigung meines ernsten, aber keinesfalls aussichtslosen Knieleidens auch über die Reglementsfrist von sechs Aktivmonaten, d.h. über den Monat Dezember hinaus bis zum Beginn des Sommersemesters 1917, mir den vollen Gehalt zubilligen möge.

Meine Frau u. elfjähriges Töchterchen – von meinem jüngsten Sohn, der nach der Rekrutenschule im Frühling Ende Oktober nun wieder zum Grenzdienst einrücken muss, sehe ich hier ab, – weilen noch immer in St.Gallen und wäre es mir bei eventuell geschmälertem Gehalt direkt unmöglich, meinen Kur- und Familiennotwendigkeiten zu genügen. Namentlich darf ich in diesem Zusammenhange nicht ausser Acht lassen, dass wegen eingetretener Krankheit sowie erheblich gestiegener Lebensteuerung, die den Realwert meiner Besoldung bedenklich nach unten gedrückt hat, ich sowieso schon genötigt war, pekuniäre Mehrverpflichtungen einzugehen. Ja es wäre mit Rücksicht auf letztern Umstand vielleicht neue Auffassung der Billigkeit, wenn die mir gütig geleisteten Vorschüsse zu Gunsten bisheriger Besoldung verrechnet werden würden.

Infolge materieller Gebundenheit war es mir in früheren Jahren eben nicht gut möglich, meiner vom Gallusklima ungünstig beeinflussten Gesundheit zeit- und zweckmässige Beachtung zu schenken. Nun hat mich die Folge unfreiwilligen Gehenlassens zwar nicht am Kragen, wohl aber am Knie gepackt, was vielleicht gnädiger ist, und nun muss ich mich in das seit dem 8. Juni ununterbrochene Bettliegen schicken. Glücklicherweise winkt mir nahe Erlösung und darf ich vielleicht hoffen, dass der h. Schulrat in Würdigung der Sachlage diese Aussicht nicht wird beeinträchtigen wollen.

Was meinen eventuell vorübergehenden Ersatz anbelangt, so liegt es mir sehr am Herzen, dass der russische Sprachunterricht in St.Gallen nicht unter ungeeigneter Führung leide. Da nun für das noch immer in die Kriegszeit fallende Wintersemester – vielleicht auch infolge meiner Abwesenheit – höchstens [nach] einem Anfängerkurs gerufen werden dürfte, so empfehle ich in Ermangelung jeder andern geeigneten Kraft auf dem Platze St.Gallen, Frau Dr. [med. Louba] Sennhauser-Aleinikoff [1879-1968] (St.Gallen, Tempelackerstr, 52), die diplomierte Medizinerin der Universität Lausanne und Absolventin eines Gymnasiums in Grossrussischer Provinz ist. Sie spricht tadellos russisch, verfügt über eine schöne Aussprache, was vor allem zu berücksichtigen ist, und wird in bezeichnetem Umfange mich ganz gut ersetzen können. Bei der verdienten Ehrenstellung, welche die Frauentätigkeit auch im Schweizerland sich erworben hat, nehme ich an, dass der h. Schulrat, dem ihn beseelenden Geiste getreu, meine Empfehlung in freundliche Erwägung ziehen würde.

Mit der ergebensten Bitte wohlwollenden Entscheides in Sachen meiner Besoldung sowie in Erwartung gefl. Berichtsgewährung zeichne ich mit vorzüglicher Hochschätzung

Ihr ganz ergebener

Professor JPolin

Leysin-Village, Bellevue

den 7. Oktober 1916

Die Russin Louba Sennhauser-Aleinikoff war mit dem St.Galler Juristen Adolf Sennhauser verheiratet. Sie hatte Medizin studiert, durfte in der Schweiz aber nicht praktizieren, weil ihr die schweizerische Matura fehlte. Während des Ersten Weltkriegs war sie Präsidentin der Sozialdemokratischen Frauengruppe St.Gallen. Im Zweiten Weltkrieg engagierte sie sich in der Flüchtlingshilfe (vgl. Alexa Lindner Margadant: Temperamentvoll für Frieden und Gerechtigkeit. In: blütenweiss bis rabenschwarz. St.Galler Frauen – 200 Porträts, Zürich 2003, S. 362).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Universitätsarchiv, HSG 210/360 (Briefe) und HSGH 022/001595 (Professor Polin mit Studenten der Handelshochschule St.Gallen, ca. 1910)

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