Sonntag, 19. November 1916 – Eine „ausgesprochene Diebsnatur“ stiehlt Milchgeld und Damenuhr

Kurzlebenslauf und Straftat eines Zuchthaussträflings, in die Strafanstalt St.Jakob in St.Gallen eingetreten am 22. Juli 1915, ausgetreten am 19. November 1916, verurteilt wegen Diebstahls im Rückfall.

Der Gefängnisdirektor hielt in den sogenannten Stammbüchern neben einem allgemeinen Signalement, den Vermögensverhältnissen, dem Gesundheitszustand und der Art des Verbrechens u.a. auch die Lebensgeschichte eines jeden Häftlings fest:

Leg. [legitim, d.h. ehelich] geboren, den 15. Febr. 1877 in Seengen. Die Eltern sind gestorben, der Vater […], Sticker 1892 & die Mutter […] 1902. Er hat eine verheiratete Schwester. Die Erziehung soll recht gewesen sein.

In Münchwilen, wo er die Primarschule mit ordentlichem Erfolg besucht hatte, arbeitete er 2 Jahre in der Spinnerei & kam dann für ebensolange nach Winterthur zu einem Bäcker in die Lehre. Hierauf betätigte er sich in den Kantonen Zürich & Thurgau als Geselle & 1900 absolvierte er in der Winterthurer Lokomotivfabrik einen Heizerkurs.

Nun liess er sich für die Linie Mannheim-Rotterdam als Schiffsheizer engagieren & zwischenhinein hielt er sich vorübergehend wieder als Tagelöhner in der Schweiz auf. Im Frühjahr 1914 habe er die Heizerstelle verlassen & sei mit dem Zirkus Malfi in Deutschland herumgewandert.

Anlässlich der allgemeinen Mobilmachung trat er am 5. August 1914 in den Militärdienst & am 29. gl. Mts. erfolgte am Hauenstein seine Verhaftung. Nach Verbüssung der 8½monatlichen Freiheitsstrafe in Tobel [Kanton Thurgau] wurde er am 22. Juni 1915 dem Bezirksamt Alttoggenburg zugeführt.

Vorstrafen: […]

Anklage: Geständigermassen hat […], eine laut Leumundszeugnis ausgesprochene Diebsnatur, am 8. Aug. 1913 vormittags aus dem Hause seines frühern Dienstherrn, des Landwirts […] in Unterbatzenheid, bei dem er während der Heu- und Emdernte 1913 helfend, Kost & Logis gehabt hatte, 910 Fr. in bar & eine silberne Damenuhr samt Kette im Werte von 37 Fr. entwendet.

Er hatte es speziell auf das Milchgeld abgesehen, das […] am Morgen des Entlassungstages ausbezahlt erhielt und im Sekretär der Stubenkammer versorgte, was der noch anwesende […] hörte, worauf er draussen wartete, bis die Eheleute […] das Haus verliessen. Da ihm der Aufbewahrungsort der Schlüssel bekannt war, öffnete er mit dem im angebauten Abtritt [WC] hängenden [Schlüssel] die Haustüre & dann mit dem in einem im Nebenzimmer stehenden Kinderwagen unter dem Spreusack liegenden [Schlüssel] die Stubenkammer & zuletzt den Sekretär mit demjenigen, der darauf lag.

In einigen Minuten hatte er dem Sekretär das Geld & einer unverschlossenen Kastenschublade in der Küche Uhr & Kette entnommen; dann verliess er das Haus & machte sich flüchtig. Infolge des unmittelbar vor der Tat gelösten Vertrauensverhältnisses ist der Diebstahl zwar nicht ein im Sinne von Art. 5q lit. b qualifizierter, aber die Benützung der dank desselben erworbenen Kenntnisse bei der Ausführung des Delikts wirkt straferschwerend, ebenso der Umstand, dass der Beklagte ein typischer Gewohnheitsdieb ist & sich im 9. Rückfalle befindet.

Verhandlung der Strafkammer des Kantonsgerichts, am 22. Juli 1915 und Verurteilung […], als des Diebstahls im Rückfalle schuldig, in Anwendung von Art. 58, 56 Ziff. 4, 39, 35 & 36 Abs. 2 Str.G. zu einer

Zuchthausstrafe von 1 Jahr & 4 Monaten.

Im Stammbuch wurde auch das Betragen während der Haft festgehalten. Der Verurteilte wurde als Heizergehilfe beschäftigt. Arbeitsleistung und Betragen seien angehend.

Buch

Das Leben in der Strafanstalt war sehr monoton, es gab nur wenig Abwechslung. Lesen beispielsweise, war nur zu bestimmten Zeitpunkten erlaubt, und die Lektüre war thematisch stark eingeschränkt. Wer im Zuchthaus wenigstens geistige Höhenflüge machen wollte, konnte sich das 108seitige Büchlein über die Ballonfahrten von Eduard Spelterini ausleihen. Ob er allerdings das schöne Titelblatt sehen konnte – das Büchlein ist nicht illustriert – bleibt dahingestellt. Wie Klebespuren auf der Innenseite des Einbandes belegen, war es nämlich zum Schutz mit einem blauen Papier eingefasst.

Umschlag

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.86 B 5, Band 1912-1919 (Stammkontrolle Strafanstalt St.Gallen) und op. coll. 1696 (Buch aus der Gefangenen-Bibliothek)

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