Aus der Herbstsession des Grossen Rates:
Das Präsidium [gibt] dem Rate Kenntnis vom Eingang folgender, von Herrn Kantonsrat Dr. Lehmann und 40 weiteren Ratsmitgliedern eingereichten Motion, lautend:
„Der Regierungsrat wird eingeladen, die Frage zu prüfen und dem Grossen Rate darüber Bericht und Antrag vorzulegen, ob nicht im Kanton St.Gallen ein Verwaltungsgericht einzuführen sei.“
Die Motion wird auf die Tagesordnung gesetzt.
Der Regierungsrat beriet die Motion erstmals im folgenden Frühling, freilich ohne erkennbare – oder zumindest ohne protokollierte – Stossrichtung. Im November 1917 erkundigte sich das Justizdepartement deshalb beim Regierungsrat, welche Haltung er einzunehmen gedenke. Der Regierungsrat beschied dem sachthematisch zuständigen Justizdepartement, dass man dessen Auffassung teile: Die Motion sei „in wohlwollendem Sinne zur Prüfung entgegen zu nehmen“, „immerhin nicht ohne gleichzeitige Betonung der Bedenken, welche durch die mit der Verwirklichung der Motion verbundene, weitgehende Zersplitterung und Verteuerung der Rechtspflege hervorgerufen werden, und unter Hinweisung auf die Möglichkeit, auf dem Wege der Spezialgesetzgebung über die in Frage kommenden einzelnen Verwaltungsgebiete den Bestrebungen der Motion teilweise Rechnung zu tragen.“
Der etwas lustlose Eindruck täuscht nicht: Fortan wird das Geschäft auf der Pendenzenliste des Regierungsrates bis in den Mai 1924 mitgeschleppt. Dann beantragt das Justizdepartement die Streichung der Motion von der Tagesordnung des Parlaments. Der Regierungsrat beschliesst, diesem Antrag zu folgen und beim Parlament die Streichung zu beantragen. Der Grosse Rat folgt der Regierung in der Frühjahrssession ohne nennenswerte Opposition. Als Grund für die Streichung nennt das Ratsprotokoll die bevorstehende Errichtung eines eidgenössischen Verwaltungsgerichts und die „mangelnde Dringlichkeit eines bezüglichen gesetzgeberischen Erlasses“.
Ein St.Galler Verwaltungsgericht wurde schliesslich erst 1965 geschaffen; Mitte 1966 nahm es seine Amtstätigkeit auf. Seither ist es vorwiegend als Beschwerdeinstanz gegenüber der Regierung und der Verwaltung tätig. Als Teil der sogenannten dritten Staatsgewalt (Judikative) ist es unabhängig von der Regierung und der Verwaltung. Beim Verwaltungsgericht angefochten werden können Verfügungen und Entscheide der Regierung und anderer Verwaltungsbehörden (Erziehungsrat, Universitätsrat, Gesundheitsrat, Verwaltungskommission der Gebäudeversicherungsanstalt, Rat der pädagogischen Fachhochschule Rorschach), aber auch Rekursentscheide der kantonalen Departemente.
Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZA 005 (gedrucktes Protokoll des Grossen Rates) und ZMH 64/877.020.1 (Büromöbel-Verkauf in St.Gallen, zwischen 1909 und 1913, Foto: Otto Rietmann, St.Gallen)