Der «Internationale Frauentag» war aus der deutschen Arbeiterbewegung heraus erwachsen und 1911 erstmals in verschiedenen Ländern Europas und in den USA durchgeführt worden. 1916 war er in der Ostschweiz noch kein Thema gewesen, um so mehr wurde er 1917 in der sozialdemokratischen Presse beworben: Warum wird der Frauentag gefeiert? hiess es am 8. März auf der Frontseite der Volksstimme:
Der Frauentag ist ein Festtag des Proletariats. An diesem Tage wird die Macht der neuanwachsenden Kampfesarmee – der Proletarierinnenarmee – demonstriert. Und deshalb ist dieser Tag von so grosser Wichtigkeit für die gesamte Arbeiterklasse – für die Proletarier wie für die Proletarierinnen. An diesem Tag ist das gesamte klassenbewusste Proletariat von einerm brennenden Wunsche beseelt: die Frau von ihrem Sklaventum zu befreien, sie als zielbewusste Kampfesgenossin für den Sozialismus in die Reihen der kämpfenden Arbeiterschaft mithereinzuziehen.
Bitter, kummervoll ist das Leben des Proletariers, noch unerträglicher ist das Los der Proletarierin. Ein dreifaches Joch lastet auf ihren Schultern. Vom Kapitalisten wird sie viel stärker als der Mann ausgebeutet – ihr Arbeitslohn ist niedriger, ihr Arbeitstag länger als derjenige des Mannes. Wenn für den Arbeiter die Stunde des Feierabends schlägt, harrt der erwerbstätigen Frau eine Reihe von Pflichten als Mutter und Hausfrau. Weder zum Lesen, noch über ihre klägliche Lage nachzudenken, bleibt ihr Zeit übrig. Stumpfsinnig wie eine Galeerensklavin, schafft sie Tag und Nacht.
Unwillkürlich denkt man am Frauentag an den verstorbenen grossen Führer der Arbeiterklasse – an August Bebel. Niemand hat so leidenschaftlich für die Befreiung und Gleichstellung der Frau gekämpft wie August Bebel. Niemand bemühte sich in solchem Masse, die Frau dem Sozialismus zuzuführen, als das Bebel sein Leben lang getan hat.
August Bebel, selbst Proletarier, der die Lage der Arbeiterklasse wie noch keiner kannte, hat schon vor Jahrzehnten ganz klar vorausgesehen, was für eine grosse Rolle die Frauenarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft spielen wird. Als Politiker und Führer der Arbeiterklasse, hat er die Bedeutung des möglichst baldigen Heranziehens der Proletarierinnenarmee in die Reihen des kämpfenden Proletariats richtig einzuschätzen verstanden. Für ihn war die sozialistische Frauenbewegung von jeher Teil der gesamten Arbeiterbewegung. Deshalb war Bebel sein Leben lang einer der flammendste Kämpfer für die Freiheit und Gleichheit der erwerbstätigen Frau. Schon im Jahre 1896 hat er im deutschen Reichstag die Forderung der vollen Gleichberechtigung der Frauen aufgestellt. Noch in seinen «Erinnerungen», diesem letzten Buche, das Bebel der kämpfenden Arbeiterklasse geschenkt hat, hielt er es für nötig, mit besonderem Nachdruck hervorzuheben, wie wichtig es für jeen kämpfenden und denkenden Mann ist, in seiner Frau eine Kampfesgenossin zu haben. «Ich wäre lange nicht imstande gewesen, das zu leisten, was ich geleistet habe, wenn meine Frau mich nicht unterstützt hätte,» sagte Bebel. Die Arbeiter aller Länder müssen nun einsehen, dass mit der Heranziehung der Arbeiterinnen in die Reihen des kämpfenden Proletariats diese Reihen sich verdoppeln werden, ihre Widerstandskraft wachsen wird, ihr Kampf siegreicher sein wird.
Wie ist der Frauentag entstanden?
Am Parteitag der sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Jahre 1908 wurde beschlossen, der Organisation der Frauen spezielle Aufmerksamkeit zu schenken. Im Jahre 1910 wurde an der internationalen sozialistischen Konferenz in Kopenhagen beschlossen, den Frauentag zu feiern. Und seit 1911 gibt es kein grösseres Arbeiterzentrum auf der Erde mehr, wo dieser Tag nicht durch Versammlungen oder Demonstrationen gefeiert wird. Nie aber war der Frauentag von solcher Bedeutung für die gesamte Arbeiterklasse, wie gerade jetzt während des Krieges.
32 Monate tobt der Menschenmord. Ungeheuer sind die Opfer, die die Arbeiterklasse für die Interessen der Kapitalisten erbracht hat. Unermesslich ist die Zahl der gemordeten Proletarier, ungeheuer die Zahl der Arbeiter, die zu Krüppeln für ihr ganzes Leben gemacht sind. In Trümmern liegt die Internationale. Enthauptet sei die Hydra, jetzt sind wir die Arbeiterbewegung endlich los – so meinen die Kapitalisten.
Nein – erwidert die klassenbewusste Arbeiterschaft -, wir sind geschwächt, aber nicht besiegt. Aus den Ruinen wird ein neues Leben aufblühen.. Unsere getöteten Brüder werden durch neue Kämpfer ersetzt werden. Eine neue Armee ist entstanden: Die Proletarierinnenarmee.
Sieben bis acht Millionen neue Arbeiterinnen sind während des Krieges in die Fabriken und Werkstätten eingezogen. Sie sind dreifach unterdrückt und dreifach ausgebeutet. Ihre Leiden und Entbehrungen sind unbeschreiblich. Aber sie werden zur sozialistischen Partei kommen, sie müssen zu Kämpferinnen werden.
Die Frauen haben gezeigt, dass sie imstande sind, Kanonen und Gewehre, Granaten und Bomben zu produzieren, mit denen die Arbeiter eines Landes ihre Brüder aus dem anderen Lande für die Interessen der Kapitalisten niedergemetzelt haben. Die Arbeiterfrauen müssen jetzt zeigen, dass sei auch verstehen, ihren Brüdern im revolutionären Kampfe für den Frieden, für den Sturz der bürgerlichen Regierungen, für den Sozialismus tatkräftig beiseite zu stehen.
Es lebe der Frauentag, es lebe der Kampf für den Sozialismus! Mit diesen Worten wenden sich heute die aufgeklärten Arbeiter aller Länder an die Arbeiterfrauen. Sie reichen ihnen die Bruderhand zum Kampfe für die Befreiung der Welt. In diese Bruderhand müssen wir einschlagen, Genossinnen.
Zina
Die gleiche Ausgabe der Volksstimme enthielt einen Auszug aus dem Referentenverzeichnis zum Frauentag, das der Zentralvorstand des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes zusammengestellt hatte. Da der 8. März 1917 auf einen Donnerstag, einen Werktag, fiel, waren die meisten Veranstaltungen auf Sonntagnachmittag, den 11. März, anberaumt. Die Vorträge behandelten die Fragen: «Warum können die Frauen nicht länger die politische Gleichberechtigung entbehren? Wie kann unser Kampf gegen Militarismus und Teuerung wirksamer entfaltet werden?»
Im Kanton St.Gallen referierten gemäss dieser Liste: der Jurist und Politiker Johannes Huber-Blumberg aus Rorschach in Henau, Emil Küng aus Zürich in Rapperswil, Marie Meier-Zähndler aus Herisau in Rorschach, die Frauenrechtlerin und Journalistin Dr. Angelica Balabanoff aus Zürich in St.Gallen und der Politiker Oskar Schneeberger aus Bern in Uzwil. Die Feministin Rosa Bloch aus Zürich war auf einer kleinen Ostschweiz-Tour: Am Abend des 10. März sprach sie in Davos, am Folgetag in Chur und am 18. März schliesslich noch in Arbon. Auch Angelica Balabanoff war ein zweites Mal zu hören, so am Abend des 11. März in Herisau. In Frauenfeld referierte Lehrer O. Kunz aus Wila, und in Weinfelden trugen Julie Halmer und der Präsident der Arbeiterunion, Moses Mandel aus Zürich, vor.
So prominent die Volksstimme im Vorfeld für den Frauentag geworben hatte, so bescheiden war hinterher ihre Berichterstattung darüber. Ein einziger, 17-zeiliger Beitrag über das Referat von Angelica Balabanoff in St.Gallen erschien am 12. März: Die Referentin […] verstand es vortrefflich, mit ihren zu Herzen gehenden Worten die Zuhörer an sich zu fesseln[,] und ihr mit grossem Beifall aufgenommenes Referat tendierte dahin: Frauen und Töchter, schliesst euch der Organisation an, kämpft gegen den Kapitalismus und Militarismus, kämpft für das gleiche Wahlrecht und helft mit, die heutige verkehrte Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Die vorgelegte Resolution, die sich speziell auf die Verbesserung der ökonomischen Lage der Frauen bezieht, fand einstimmige Annahme. Der Arbeitermännerchor verschönerte die Feier mit einigen passenden Liedervorträgen.
Nächster Beitrag: 10. März 1917 (erscheint am 10. März 2017)
Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P908 (Die Volksstimme, Sozialdemokratisches Tagblatt für die Kantone St.Gallen, Appenzell, Graubünden und Glarus, 08.03.1917, Text; das Beitragsbild mit dem Aufruf zur Teilnahme findet sich in den Ausgaben vom 09.03.1917 und 10.03.1917)