Der Beitrag mit oben genanntem Titel war zwar bereits am Samstag, dem 10. März, in der sozialdemokratischen Volksstimme erschienen. Nicht wenige Leser (und erst recht Leserinnen) der Zeitung dürften aber wohl erst am Sonntag Zeit gehabt haben, ihn zu lesen. Ausserdem wurden an diesem Sonntag die Veranstaltungen zum Internationalen Frauentag 1917 durchgeführt (vgl. Beitrag zum 8. März 1917), da passt der Artikel:
Gross ist die Not in der jetzigen Zeit. Sie wächst von Tag zu Tag, und wird um so schlimmer, je schwieriger die Situation in unserer Stickereiindustrie sich gestaltet. Kummer und Sorge sind die ständigen Gäste der arbeitenden Bevölkerung. Wer in dieser traurigen Periode des unheilvollen Weltkrieges mit offenen Augen Beobachtungen in den Wohnungen der Arbeiterfamilien anstellt, der muss leider wahrnehmen, wie diese der Unterernährung ausgeliefert sind, der kann besonders ein wirkliches Elend des Frauendaseins konstatieren.
Kaum öffnet die Hausfrau morgens die Augen, so verfällt ihr ganzes Denken der Sorge ums liebe Brot. Die reichen Leute leiden trotz der ständigen Verteuerung der Lebenshaltung nicht unter Nahrungsmittelsorgen. Zum Teil haben sie sich mit allem Möglichen versorgt, und sodann können sie sich mit ihrem Geld den Unterhalt noch ganz wohl und nach Belieben verschaffen. Anders beim armen Schlucker. Gewiss schafft ihnen die Abgabe billiger Lebensmittel einige Erleichterung, besonders wenn die Behörden sich zuu einer bessern Organisation verstehen, die nach den Erfahrungen der letzten Verkäufe sehr notwendig ist. Aber gleichwohl greifen Sorgen und Not in den Arbeiterfamilien weiter um sich und es gehört heute gar nicht viel soziales Verständnis dazu, um das Elend der Arbeiterhausfrauen in seiner ganzen Tragweite zu erfassen.
Die Not des Lebens, die innerhalb der Arbeiterklasse zur treibenden Kraft für die Vermehrung der Frauenarbeit wurde, hat die Frau immer mehr in die Erwerbsarbeit, in den Dienst des Kapitals getrieben, Hunderte und Tausende müssen schwere Lohnarbeit verrichten, weil sonst gar keine Möglichkeit besteht, die Familie durchzubringen. Hat dann die Arbeiterin ihre lange Arbeitszeit hinter sich, dann ist sie nicht fertig, der Feierabend winkt ihr nicht, soweit sie verheiratet ist. Denn nun beginnt für sie erst die notwendige Hausarbeit. Alles lastet auf den Schultern dieser schon abgerackerten, müden Lohnarbeiterin. Viele Stunden müssen für die Besorgung des Haushaltes verwendet werden, und für den Schlaf bleibt nur eine kurze Zeit übrig.
Ein paar Stunden Schlaf! Ja wenn diese für ruhigen Schlaf zur Verfügung ständen. Aber die verheiratete Arbeiterin und Hausfrau muss auch die Kinder besorgen und manchmal recht viele. Nur wer selbst solche hat und recht erzieht, wird ermessen, welche Arbeit hier zu tun übrig bleibt. Noch dazu, wenn es sich um kleine Kinder handelt. Diese Mühe und Arbeit ist sehr gross. Wenn man solche Frauen sich betätigen sieht, wie sie mit den Kindern verfahren, so ist in ihnen eine unheimliche Ruhe zu beobachten. Sie arbeiten wie ein Automat, werden vollkommen zur Maschine. Die Seele scheitn nach und nach zu vertrocknen. Wie viele solcher Frauen gibt es, die nicht mehr lachen, ja kaum mehr weinen können. Die Seele, das Gefühl stumpft ab.
Was hat diese Frauen dahin gebracht? Die unendliche Last der Arbeit, welche die Kräfte vom frühesten Morgen bis spät in die Nachtstunden in Atem hält und keinen ruhigen, erquickenden Schlummer gewährt. Der ewige Schacher mit Rappen, der ständige Kampf mit den Tücken des täglichen Lebens zermürbt die armen Frauen. Es ist ein tragisches Geschick, das auf denselben latete, die unter dem Doppelberuf als Arbeiterin, Hausfrau und Mutter zu leben haben. Und so vielfach werden sie verkannt, wird ihnen zu wenig soziales Verständnis entgegengebracht, wie wir letzthin wieder bei einer bürgerlichen Dame wahrnehmen mussten, die noch eine gewisse Rolle in der sozialen Fürsorge spielen will. Diese Leute können eben nicht aus ihrer Haut heraus; sie schliessen von sich aus auf andere und die Vergleiche sind in den meisten Fällen nicht zutreffend. Sie begreifen nicht, wie unsäglich schwer der Kampf all dieser geplagten Frauen ist, dass es mit Worten kaum gesagt werden kann. Das Zuviel an Arbeit knickt den Frühling der Arbeiterin, es beugt ihren Rücken und verlöscht den Glanz ihrer Augen, frühzeitig gräbt es die Runzeln des Alters und der Sorge in ihr Antlitz, es gefährdet ihre Gesundheit und fortwirkend die des Kindes, das sie gebäret [sic], die Ueberbürdung zerstört das Familien- und das Innenleben, hemmt die geistige Weiterentwicklung und lässt den Gedanken an Kampf und Widerstand gar nicht mehr aufkommen, sondern macht die Frau zur müden Arbeitssklavin.
Das alles ist trostlos und zwar um so mehr, weil eine Besserung der Situation für lange nicht zu erwarten, im Gegenteil zu befürchten ist, dass infolge Arbeits- und Verdienstlosigkeit eine noch schlimmere Periode anbreche. Mit tiefer Trauer erfüllt es den Menschenfreund, wenn er in die Verhältnisse der Arbeiterfamilien hineinsieht und wahrnehmen muss, wie Mann und Frau unter der Misere des Tages zugrunde gehen, langsam aber sicher. Wie gerne würde man da helfend eingreifen, die Leute herausheben aus dem Jammer, der sie umgibt. Aber wenn man ihnen klar machen will, dass es doch einen Weg gebe, indem man sich aufraffe, zur Wehre setze, den Klassengenossen anzuschliessen [sic], dann stösst man vielfach auf Verständnislosigkeit und Gleichgültigkeit, weildiese Frauen ihr Los als unabwendbares Schicksal betrachten und dasselbe mit der dem weiblichen Geschlecht eigenen Duldsamkeit tragen.
Und doch ist es möglich, die vermeintliche Schwäche dieser Armen in Stärke umzuwandeln. Es ist der Zusammenschluss, die Eingliederung in die Reihen aller derjenigen Frauen, welche am morgigen Frauentag als Gleichverpflichtete auch Gleichberechtigung mit dem Manne verlangen, das Frauenwahlrecht, durch das sie im eigenen und im Interesse ihrer Klasse Reformen zu erzwingen vermögen, die notwendig sind, um ihnen und den Ihrigen das Leben zu erhellen und zu erleichtern, sie kampffähig zu machen gegen kapitalistische Ausbeutung, sie zu stärken für ihren wirtschaftlichen, geistigen und moralischen Aufstieg, und ihnen ein Mittel zur Erweckung, Sammlung und Schulung der Indifferenten zu geben.
Da geht der Ruf an all die geknechteten Frauen in der heutigen Gesellschaft, die nicht das mindeste Mitspracherecht im Wirtschaftsleben, im Staate, in der Gemeinde haben, sich vor Augen zu führen, dass gegen die bestehende und wachsende Unterdrückung und Rechtlosigkeit nur die gewerkschaftliche und politische Organisation erfolgreich ankämpfen kann. Sie stellt hinter Eure Schwäche als Einzelne die Kraft der Vielheit und dieselbe ringt erfolgreich um bessere Daseinsbedingungen für Euch alle. Begreift das, ihr geplagten Frauen, kommt zu uns in unsere Organisationen, den Arbeiterinnenverein, die Gewerkschaften. Da werdet Ihr Verständnis, Unterstützung, Hilfe finden, Trost und neue Hoffnung, warme Lebenskraft, in der Erkenntnis, dass die Welt nicht so bleiben, sondern umgestaltet werden muss, damit auch die Arbeiterfrauen ein menschenwürdiges Dasein erhalten.
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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P908 (Die Volksstimme, Sozialdemokratisches Tagblatt für die Kantone St.Gallen, Appenzell, Graubünden und Glarus, 10.03.1917, Text) und W 054/5.1.38 (Bild aus: Roberto Wenner (Hg.): Manifatture Cotoniere Meridionali Roberto Wenner e C. / Industrie Tessili Napoletane, Neapel 1917)