Auch bei seinem Aufenthalt in St.Gallen denkt der Kantonsschüler Ernst Kind unentwegt an seine Tanzstundenbekanntschaft:
(St.Gallen.)
Fern von der Liebsten bin ich jetzt
Und denke Stund um Stunde nur an sie,
Die Augen tränenfeucht, im Herzen süsse Furcht
Und hilflos wie ein Kind, das nach der Mutter weint.
–
In tiefem Sehnen liegt mein Sinn,
Mein Geist ist wach und sieht doch einen Traum,
Denn wach und träumend seh die eine ich allein,
Die meinen Geist erweckt und Liebe mich gelehrt.
–
Ich glaube, schon lange ist mit mir keine so starke Veränderung vorgegangen wie jetzt, seit ich Margrit Peter kenne. Ich bin überhaupt in allem anders; ich erkenne in mir einen andern Menschen als vorher. Ohne Pause trage ich denselben Gedanken mit mir herum und lebe nur noch für diesen Gedanken. War ich früher so leidenschaftlich? Jetzt bin ich es.
Und ich, den sie «Cato» nennen und der als Mädchenverächter bekannt ist, gerate wegen einem Mädchen in diesen kuriosen Traumzustand; ich fange sogar an zu dichten; ich möchte immer nur von diesem Mädchen reden und wage es doch nicht; ich spüre, wie ich tiefrot werde, wenn ihr Name einmal über meine Lippen kommt; ich betrachte auf dem kleinen Bild, das ich von unserer Tanzgesellschaft habe, nur dieses einzige Gesicht und (am merkwürdigsten bei meinem schlechten Gedächtnis) ich erinnere mich an jedes Wort, das sie zu mir sprach, an jedes kleine Ferienerlebnis, das sie mir erzählte; ich erfahre von ihr, dass sie diese Frühlingsferien in Peseux ob Neuenburg sein wird, und sofort steht mein Plan fest, meine Velotour nicht nur bis Solothurn, sondern weiter bis zum Neuenburgersee auszudehnen und einen kleinen Abstecher auf gut Glück eines zufälligen Begegnens nach Peseux hinauf zu machen. –
(Margrit P. ist gar nicht etwa hübsch zum Ansehen. Aber sie hat ein liebes Gesicht und ihre Art ist natürlich und vertrauend.)
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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)