Gerichtsbuecher

Dienstag, 15. Mai 1917 – Was zu einem Kino gehört

Am 15. Mai 1917 trafen sich vor der Gerichtskommission des Bezirksgerichts Rorschach die folgenden Parteien: R. Timeus, Elektriker von Rorschach als Kläger und Widerbeklagter sowie die Theatergesellschaft der katholischen Abstinentenliga Rorschach als Beklagte und Wiederklägerin. Der Kläger forderte Fr. 46.95, die Beklagte als Widerklägerin total Fr. 176.75 abzüglich der Fr. 46.95, also netto Fr. 129.80.

Der Hintergrund der Geschichte: Beide Parteien waren gemeinsam Eigentümer eines Kinos (im damaligen Wortgebrauch: einer Kinematographenanlage) im alkoholfreien Restaurant Schäfle-Garten in Rorschach (Bilder dazu: vgl. Beitrag zum 26. November 1916). Sie stritten sich über die Erstellungskosten dieser Einrichtung und hatten bereits durch ein Expertengutachten deren Wert feststellen lassen. Nun ging es noch darum, die Differenzen zu bereinigen. Das Gericht entschied, Zeugen zu befragen, was am 19. Juni und 10. Juli gleichen Jahres geschah.

Die Streitigkeit an sich wäre nicht interessant, wenn das Gerichtsurteil nicht Hinweise enthielte, mit welchen Gegenständen das Kino eingerichtet war. Erwähnt sind zwei Objektive, 2 Filmrollen à 6 frs [sic] und 10 Bilderrahmen à 1.20 sowie ein Ventilator. Dieses Zubehör war von der Gesellschaft Pathé Frères in Paris geliefert worden. Die ganze Einrichtung kostete rund 2500 Fr. Von einem Projektionsapparat, einer Leinwand oder Sitzgelegenheiten für das Publikum ist nicht die Rede.

Warum beteiligte sich ausgerechnet die katholische Abstinentenliga an einem Unternehmen, das den Kontostand einer zeitgenössischen Vereinskasse bei weitem überstieg? Die Abstinenzbewegung bemühte sich stets darum, sich ein modernes Image zu geben. Ein eigenes Kino konnte deshalb dazu dienen, die Mitgliederzahlen des Vereins zu erhöhen. Mit Hilfe von Filmen oder Lichtbildern liess sich Propaganda für ein gesundes, alkoholfreies Leben machen. Indem man moralisch Unbedenkliches zeigte, bot man ärmeren Gesellschaftsschichten geistige Anregung und eine Freizeitbeschäftigung in einem Umfeld ohne Verlockungen durch geistige Getränke.

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, G 2.7.1 (Protokolle Gerichtskommission Rorschach vom 15.05.1917, 19.06.1917, 10.07.1917)

 

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