Die Chronik für das Landerziehungsheim Hof Oberkirch vermerkt für den 5. Oktober ein Erntefest. Die Schüler verbrachten den Tag mit einem Ausflug. Im Wald entspann sich eine Tannzapfenschlacht, und später spielte man Räuberlis. Einige suchten auch Pilze, welche die Köchin der Schule abends zubereitete. Sie war auch für die ausserhäusliche Verpflegung an diesem Tag verantwortlich, es gab eine kräftige Knorrsuppe, Käse, Brot und Äpfel. Auch Brombeeren fand man viele.
Vorangegangen waren diesem Erntefest strenge und andauernde Gartenarbeiten während des ganzen Sommers, zu denen man die Schüler angehalten hatte. Ende September konnte der Segen ausgegraben werden:
Das strenge Arbeiten im Grabacker brachte eine reichliche Ernte: Mehr als das Zwölffache der Saatkartoffeln wurde geerntet. Im Ganzen 50 q. [Zentner] Auch der Mais[,] Kabis und Kohl gedieh gut. Wohl den Hauptverdienst haben die Sechser [6. Klasse, entsprach in dieser Schule den Fünfzehnjährigen], die es nicht scheuten, alle Tage früher als die Andern aufzustehen[,] um im Garten zu arbeiten. Als die Verordnung kam, dass die Gemeinde Kaltbrunn die Äcker am Grabacker zur Anpflanzung von Getreide bis 1. Oktober haben müsse, gab’s richtiger Kriegsbetrieb. Die ganze Schule machte sich ans Ernten, und bald war alles eingeheimst.
Die Schüler selber waren nicht immer beglückt ob des täglichen Einsatzes im Garten, insbesondere das Düngen war unbeliebt, wie sie in ihren Aufsätzen festhielten:
Es läutet zur Gartenarbeit. Weil es heute Dienstag ist, muss ich wohl oder übel auch gehen. Aber es ist wenigstens schönes Wetter und ziemlich warm. Wenn ich dann noch eine anständige Arbeit bekomme, so ist es auszuhalten. Unter anständigen Arbeiten verstehe ich solche, die mir gut gefallen, z.B. Spaten, Obst ablesen, Bäume fällen oder gar bei den Nachbarn heuen. Letzteres hat noch eine besonders gute Seite. Man wird dabei herausgefüttert.
Zwischen den Häusern steht Herr Tobler [Direktor] und macht Antreten.
«Wer will nach Uznach?»
«Ich! ich!» rufen viele Stimmen, denn der Auserwählte kann im Vorbeigehen noch schnell zur «Tante» [im Einkaufslädeli]. Der Kriesi darf gehen; er hat ein Velo.
«Du, Kriesi, bing mit 10 Chocoladensäckli.»
«Und mir für einen 20er Zeltli.» Er wird ganz mit Aufträgen überhäuft.
Nun heisst’s «Spaten». Sofort melde ich mich, denn jetzt im Herbst ist das eine der schönsten Arbeiten. Im Frühling ist’s nicht so angenehm, besonders bei ganz trockenem oder regnerischem Wetter; dann gibt es so grosse Klötze.
Wie ich zum Holzschopf gehe, höre ich noch, wie Herr Tobler zu Nänny sagt: «Du kannst mit 2 Kleineren Birnen schütteln.» Natürlich, der bekommt immer die angenehmsten Arbeiten, wenn er nicht im Büro faulenzt. Hinter uns kommt der Kuhn und holt eine Hacke; er muss jäten. Ich wünsche ihm viel Vergnügen, denn das ist meiner Ansicht nach die langweiligste Arbeit. Nur das Himbeerenaufbinden kommt ihm gleich. Während wir arbeiten, kommt mit grossem Gepolter der Huber mit der «Güllkanone» angefahren. Er hat sich geopfert. Niemand ist besonderer Freund dieser Beschäftigung. Herr Mäder kommt mit den Achtern zum Aufräumen.
Schon nach einer halben Stunde sind wir mit dem uns aufgetragenen Stück fertig. Nun sollen wir in den Johannisbeeren spaten. Danke für Obst!
Diesen Sommer hatten wir auch am Morgen Gartenarbeit [anstelle des sonst praktizierten täglichen Frühturnens]. Das war einmal eine Abwechslung; aber schon nach kurzer Zeit hätte ich lieber wieder Turnen gehabt. Nur zum Beerenablesen war ich dabei; viele verschwanden aber in meinem Magen.
Ein anderer schrieb, wie er auch für seine Familie zu Hause Gemüse zog, eine Möglichkeit, welche die Landschule während der Kriegszeiten anbieten konnte: […] Am Allerliebsten arbeite ich aber doch in meinem eigenen Acker, wo ich jedes Pflänzchen kenne. Und dann das Ernten! Das ist besonders schön, das ist gar keine Arbeit mehr, nur noch Vergnügen. Mama findet zwar, sie habe noch nie so teures Gemüse gehabt; doch – das gehört schon nicht mehr hierher. Die Bemerkung zum teuren Gemüse hatte ihren Hintergrund wohl darin, dass der Erntesegen nach Hause geschickt werden musste, vermutlich per Bahn, wodurch Frachtspesen anfielen.
Einige suchten sich vor der Arbeit zu drücken und erfanden verschiedene Strategien: […] Da kommt der Marcel aus dem Haus und murmelt so schnell, dass man es kaum verstehen kann: «Herr Tobler ich abe eine böse Fuss, kann ich Studin macha?» […] Schnell will ich mich noch umziehen. Leider ist es schon zu spät; ich will es probieren und trete in meinen Schulkleidern an. Herr Tobler hats aber schon gesehen und ich muss mich – gern oder ungern – umkleiden. Droben auf der Terrasse steht Hermes um uns zu fuxen, denn er kann ja cheffreien Nachmittag machen. Andere machens viel schlauer; die kommen überhaupt nicht zum Antreten und wenn es Herr Tobler merkt, haben sie immer noch eine gute Ausrede. […] Für Unterhaltung während der Arbeit muss ich nicht sorgen, denn im Garten nebenan arbeitet oder besser faulenzt der C. und verführt einen solchen Lärm, wie sämtliche Wäscherinnen der ganzen Gegend. […] Langsam schleicht die Zeit vorbei und noch langsamer wird meine Arbeit fertig. Ich schleiche in meine Bude. Ich habe herausgefunden, dass es so am vorteilhaftesten ist.
Ein anderer Schüler beschrieb noch weitere Versuche, um die Arbeit herumzukommen: […] Dann hat der Eine wunde Zehen, der Andere einen geschwollenen Finger, dieser an 7 Orten Eissen [Furunkel, Eiteransammlung], oder Latein. Sch. muss um 3 Uhr in die Uebungsstunde und findet es deshalb kaum mehr nötig anzufangen. (Wir wissen aber, dass seine Stunde erst um 4 beginnt – er ist ein Drückeberger.) […]
Die Buben aus den jüngeren Klassen waren ebenfalls nicht immer motiviert und hatten ihre eigenen Strategien:
Am liebsten tu ich Laub oder sonst was zusammenrechen. Man muss dann nicht zuviel schaffen, da man sagen kann, dass der Wind das Laub immer wieder fortnimmt, oder neues Laub vom Baume falle. Dann kann man sich auch sehr gut drücken, indem man sagt, dass man auf den Abort oder einen andern Besen suchen müsse.
Jetzt wird die Arbeit verteilt. Ich durfte zum Apfellesen gehen. Wir sackten dann viele Aepfel ein. Uns wurden oft kleine Steine nachgeworfen, denn wir warfen den andern faule Aepfel an. Das war sehr lustig. Mancher sagt dann, er müsse auf den Abort. Er ging dann schauen[,] wie spät es ist. Das machte ich oft nach. Andere Knaben mussten dann üben. Sie gingen dann eine viertel Stunde vor der Zeit weg, es war ihnen nur deshalb pressant.
Wenn es mir langweilig wirt [sic]. Schaue ich[,] ob nicht ein Lehrer in der Nähe sei[,] wen[n] ich ni[e]mand sehe[,] gehe ich fort und schaue[,] war für Zeit es war[,] wen[n] es etwa halb vier Uhr war[,] dan[n] ging ich zu den Beerensammlern und half[,] bis es leutete [sic] udn füllte meinen Becher und ass es im geheimen. Manchmal ging ich in das Haus und las in einem Buch[,] bis es leutete[.] ich [sic] freute mich immer[,] wenn es Leutete [sic]. (Ohne Korrektur, von einem Kleinen.)
Der Direktor war sich dieser Verhaltensweisen wohl bewusst und beurteilte sie als Erzieher der Knaben folgendermassen: Dieses Grosse [sich der Zeitlage ohne viel Murren und Schimpfen anzupassen] möchten wir auch unsere Jugend spüren lassen. Den Gedanken hat sie, wenn gefragt, wohl erfasst, sie schafft auch willig mit. Dass sie aber dabei im Alltäglichen die sorglose Jugend bleibt, das ist ihr Vorrecht.
Dass Schüler derart frei, vertrauensvoll und offen beschrieben, wie sie versuchten, Anweisungen der Erwachsenen zu umgehen, zeugt vom speziellen Geist, der in diesen reformpädagogischen Landerziehungsheimen herrschte.
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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Hofchronik 1915-1921 sowie Bericht des Direktors zu «Die Gartenarbeit» und Aufsätze in: Hof-Zeitung, Nr. 11, Dezember 1917: Texte) und P 909 (St.Galler Tagblatt, 24.03.1917, Abendblatt)