Kriegsjahr 1917

Montag, 31. Dezember 1917 – Apfelkuchen zum Silvester, Schweinebraten zum Neujahr

Tagebucheintrag von Johann Baptist Thürlemann, Architekt im Ruhestand, wohnhaft in Oberbüren:

Montag, den 31. Dezember 1917 sehr kalter, theils dunkler, theils heller Tag. Morgens bedeckt & etwas neblig; im Verlaufe des Vormittags leicht aufheiternd; Matter Sonnenschein. Ueber Mittag wieder bedeckt und düster. Nachmittag wieder eine Zeit lang aufhellend – Sonnenschein. Abend düster & bedeckt. Leichter Nebel. Nacht kalt, neblig. matter Mondschein. – Den ganzen Tag scharfer, eindringlicher Nordostwind; in den Höhenlagen Südwestwind. –

Morgens 8h holte Caroline auf der Gemeinderathskanzlei die Rationenkarten für den Monat Januar 1918.

Ich besorgte vormittags schriftliche Arbeiten & sandte einige Neujahrskarten ab.

Nachmittags bereinigte ich das Tagebuch von gestern & besorgte weitere schriftliche Arbeiten.

Abends von ½7 Uhr bis ¾8 Uhrhatte ich Besuch von meinem Neffen [sic] Carl. – Während dieser Zeit holte Caroline den von uns in die Bäckerei Müller dahier zum Backen gegebenen Aepfelfladen mit Rahm. – (:Bäckerlohn: 45 Rp.:)

Später las ich die Zeitungen, schrieb noch eine Neujahrskarte nach Andwyl und begab mich um ½10 Uhr zu Bette. –

Ansichtskarte Frieden

In seinem Eintrag zum 1.  Januar 1918 berichtete Thürlemann über die Neujahrspredigt in der katholischen Kirche Oberbüren zum Text «Erneuert euch aber im Geiste eueres Gemüths!» Ep. Pauli ad Ephes. 4.23. [Brief des Paulus an die Epheser, 4,23]:

Das abgelaufene, blutrauschende Kriegsjahr gehört hinsichtlich seiner völkermordenden Geschehnisse zu den «schlimmen Zeiten«. Die schlimmen Zeiten werden aber nicht allein – wie die guten – von Gott verhängt, sondern auch die Menschen wirken bestimmend darauf ein.

Böse Gedanken; Worte; Thaten verkehren die gottgewollte Ordnung & bringen Noth, Elend und Unfrieden in die Welt.

Um bessere Zeiten zu haben muss vor allem der Mensch besser werden & zwar dadurch, dass er sich umgestaltet im «Geiste seines Gemüthes». Er muss sich erwerben:

1.) ein neues Herz;

2. Eine neue Zunge;

3. Eine neue Hand. –

Ein neues Herz, durch Ablegen aller sündhaften Anschläge, Gedanken & Begierden. Entfernung des Hochmuthes; des Geizes; der Unzucht; des Neides; der Feindschaft & des Hasses und durch Erringung der Demuth, der Freigebigkeit; der Keuschheit, des Wohlwollens, der Friedensliebe und der Versöhnlichkeit das Herz umwandeln.

Eine neue Zunge, welche die reine Wahrheit spricht; die sich scheut vor Verleumdung & Ehrabschneidung; vor schmutzigen, die Unschuld verführenden Reden; vor Flüchen & Gotteslästerungen.

Eine neue Hand, die nichts Unreines berührt; die das Besitzthum des Nächsten achtete & keine Ungerechtigkeit begeht; welche den Nächsten nicht misshandelt & verletzt; welche mit Mass und Gewicht unanfechtbar umgeht.

Würden alle Menschen von nun an streng die Gebete der christlichen Sittenlehre halten, so wäre die soziale Frage bald gelöst, und weder Krieg, noch Theuerung, noch schlechte Zeiten  würden die Menschheit bedrängen & dann würde das Jahr 1918 für uns Alle ein Jahr des Glückes, des Segens & des Heiles. –

Sehr schöne, kurze aber inhaltlich reiche Predigt.

Nach dem Gottesdienst gab es ein vorzügliches Essen: Schweinebraten aus dem benachbarten Restaurant Hirschen.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035a (Nachlass Thürlemann, Tagebücher: Text und Beitragsbild) und W 207 (Joseph Fischer: Album «Aus den Kriegszeiten»: ungebrauchte Rationenkarte für Reis)

Berchtoldstag

Sonntag, 30. Dezember 1917 – Volkskundliches

Die Rorschacher Blätter berichteten in ihrer letzten Ausgabe zum Jahr 1917 in der Rubrik Aus aller Welt:

Bechtelistag. Seit alter Zeit wurden in der Bodenseegegend am Schlusse oder bei Beginn des Jahres von jungen Leuten und Handwerksburschen Umzüge gehalten und von Haus zu Haus Gaben geheischt, was man bechteln oder berchteln nannte. «Bechten» wurde in der Folge gleichbedeutend mit betteln. Der Tag, wo diese Umzüge gehalten wurden, war im Mittelalter der 6. Januar (Dreikönigstag), im Elsass der 30. Dezember, in andern Gegenden der 2. Januar und hiess Berchtentag und die vorangehende Nacht Berchtennacht. Im Kanton Thurgau erhielt sich noch lange der Brauch, am Bechtelistag Kinder, Verwandte und gute Bekannte in gleicher Weise zu beschenken wir anderwärts am St.Nikolaustag oder an Weihnachten.

Vgl. dazu auch den Beitrag im Schweizerischen Idiotikon: https://www.idiotikon.ch/index.php?option=com_content&view=article&id=133&Itemid=223

Dieselbe Ausgabe der Rorschacher Blätter enthielt auch eine Lustige Ecke, in der neben Scherzen über Appenzeller dieser, möglicherweise zeitbedingt sehr aktuelle Witz zu lesen war:

Kritik. Gast: «Tragen Sie beides zurück, Käthe; im Kaffee ist zu viel Gerste und im Bier zu wenig!»

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, P 913A (Rorschacher Blätter, Nr. 12, 1917)

Weihnachtsgedicht

Samstag, 29. Dezember 1917 – Weihnachten im männer-mordenden Krieg

Die monatlich erscheinende Gratisbeilage zur Rorschacher Zeitung war ab Mitte 1917 nicht mehr genau datiert. Da sie Anfang des Jahres jeweils am letzten Wochenende des Monats erschienen ist, ist möglich, dass das auch im Dezember so war. Diese Datierung vorausgesetzt, kam der Beitrag ohne Autorenangabe auf der Titelseite der Ausgabe ein paar Tage zu spät in die Haushalte:

Weihnacht – Weltkrieg.

Wieder ist es Weihnacht geworden. Während draussen die Waffen klirren, die Kanonen donnern, tönt drinnen im Heiligtum die alte, ewig wunderbare Botschaft an die Seele: «Apparuit benignitas et humanitas Salvatoris nostri – Erschienen ist die Güte und Menschenfreundlichkeit unseres Erlösers.»

Die «grosse Freude», welche der Engel Gottes in der Christnacht den Hirten verkündet hat, durchzieht auch heute die ganze Christenheit und alle treuen Christenherzen – trotz des Weltkrieges mit seinem Jammer und Elend. Ja, gerade das Verderben des männermordenden Krieges zeigt das Ereignis der Christnacht in seiner alles Irdische überragenden göttlichen Grösse und himmlischen Freudenfülle. Auf der Erde Nacht, Tod und Zerstörung – im Hirtentale himmlisches Licht, die Herrlichkeit Gottes umleuchtet die armen Schafhirten – Freudenbotschaft aus Engelsmund – Jubellieder, gesungen von den Chören unzähliger Geister des Himmels. Auf Erden bricht der menschliche Stolz, brechen Weltreiche nach jahrhundertelangem Glanze im Qualm der Geschütze, im Strom des Blutes von Hunderttausenden ohnmächtig zusammen – in der Christnacht tönt das Gesetz der Ewigkeit, die einzig wahre Lösung des Menschenglückes, über die schweigenden Fluren: Soli Deo gloria! «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.» – Nur wer Gott allein die Ehre gibt, erringt den wahren Frieden – jenen innern Herzensfrieden, dessen Fundament der «gute Wille» und dessen Krönung der äussere Friede in der Familie, im Staate, unter den Völkern ist.

«In jener Zeit ging ein Befehl aus vom Kaiser Augustus, den ganzen Erdkreis aufzuschreiben.» So berichtet das Evangelium der ersten Weihnachtsmesse. «In jener Zeit» – welche Zeit ist es an der ehernen Uhr der Weltgeschichte? Wir stehen im eisernen Zeitalter nach dem Propheten Daniel. Mit Blut und Eisen haben die römischen Eroberer ihre Weltmacht aufgerichtet, den grössten Teil der Völker Europas, Asiens und Nordafrikas ihrer Herrschaft unterworfen. Die Sprache der Römer regiert und richtet vom fernen Westen  bis tief ins Morgenland. Auch das auserwählte Volk Gottes ist dienstbar und zinsbar geworden. Einer ist Herrscher – Cäsar Augustus – beide, Heidenvölker und Judenvolk, sind auf ihren Lebenswegen zu einem Punkte gekommen, wo die Sehnsucht nach dem Welterlöser in den Herzen aller mächtig geworden ist. «Die Fülle der Zeit» ist gekommen, das Zepter von Juda gewichen. Jetzt gedenkt Gott der Verheissung, die er einst – vor zweitausend Jahren – dem Patriarchen Jakob gegeben hat: «In deinem SAmen sollen gesegnet werden alle Völker der Erde.»

«Es ging ein Befehl aus vom Kaiser Augustus» – wunderbare Fügung! Augustus, der Mensch, gebietet, und Christus, Gott, gehorcht. Und doch bewährt sich hier in unbeschreiblicher Grösse das Wort: «Der Mensch denkt und Gott lenkt». Denn in Wahrheit ist der mächtigste Mann jenes Zeitalters, Kaiser Augustus, ohne es zu wissen, der Diener dessen, der ihm gehorcht. Er meint, den Entschluss seines Herrscherstolzes zu vollziehen – in Wahrheit aber ist er das Werkzeug der göttlichen Vorsehung zur Verwirklichung des ewigen Ratschlusses der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Jesus muss geboren werden zu Bethlehem in der Stadt Davids, damit die Prophezeiung des Michäas erfüllt werde, damit das Volk Gottes den Messias finden könne in der Stadt seines königlichen Stammvaters. Augustus befiehlt, und die gnadenvolle Jungfrau wandert aus Nazareth nach Bethlehem, damit aus ihr geboren werde Jesus, der genannt wird Christus.

Wir leben in einer Zeit des Werdens und Vergehens aller Völker und grosser Reiche. Gar viele schauen mit bangem Blicke in die Zukunft. WAs soll aus der Kirche werden, wenn aus den Stürmen des Weltkrieges ein Imperium emportaucht, gegen das der Staat der römischen Cäsaren ein Kinderspiel war? Nolite timere! «Fürchtet euch nicht, kleine Herde», sagt der Welterlöser Jesus Christus. In der Hand Gottes sind wir heute, wie im Zeitalter des Augustus, die grössten Weltherrscher lediglich kleine Knechte, welche die Ratschlüsse der göttlichen Vorsehung vollziehen müssen. Das Kind in der Krippe zu Bettlehem führt noch heute, wie vor 1900 Jahren, die Zügel der Weltregierung. Seinem REgimente unterstehen alle Völker. Ein Wink seiner Hand und der stolzeste Herrscherthron sind in den Staub. Das Reich des Kindes zu Bethlehem aber besteht und dauert fort in Ewigkeit. Sein Regierungsprogramm hat schon der Prophet Isaias ausgesprochen: «Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf dessen Schultern die Herrschaft ruht, und sein Name wird heissen: Wunderbarer, Ratgeber, Gott, starker Held, Vater der Zukunft, Friedensfürst».

Auf derselben Seite der Rorschacher Blätter erschien auch ein Gedicht von Jean Bättig:

Heilige Weihnachten 1917.

Weihnacht feiern wir heute wieder / In des Krieges schwerer Zeit; / Es erschallen Freudenlieder / Durch die Welt voll Kampf und Streit.

Schaurig die Kanonen singen / Vor der Stadt Jerusalem, / Engelchöre heut erklingen / Aus dem kleinen Bethlehem.

Jesus Christus ist geboren, / Freud und Friede dieser Welt, / Ach, wir haben ihn verloren, / Dem man Ehrenfeste hält!

Möcht ein heilig Feuer brennen / Hier auf Erden, fern und nah, / Und bald alle Welt erkennen, / Was zu Bethlehem geschah!

Möchte leuchten dieser Erde / Bald des Friedens schönstes Bild, / Dass zum Paradiese werde / Dieses Lebens Kampfgefild.

Schönster Stern erscheine wieder / In dem schönsten Gnadenschein, / Von dem Euphrat schallts hernieder, / Leucht in jedes Herz hinein!

Friede muss ës wieder werden / Bei den Völkern nah und fern, / Und dann leuchtet hier auf Erden / Christus als der Morgenstern.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 913A (Text: Rorschacher Blätter zur Unterhaltung und Belehrung, Gratisbeilage zur Rorschacher Zeitung, Nr. 12, 1917, 29.12.1917) und

Weihnachten Hof Oberkirch

Samstag, 22. Dezember 1917 – Weihnachtsvorfreude in Hof Oberkirch

Die Schulchronik des reformpädagogisch geführten Landerziehungsheims Hof Oberkirch bei Kaltbrunn vermerkt für den 21. und den 22. Dezember 1917:

21. Dez. 1917. Die Weihnachtsferien vor Augen wurden die Koffern von dem Dachboden heruntergschaf[f]t und ein eifrig freudiges Packen begann. Auch noch Vorbereitungen für die bevorstehende Weihnachtsfeiher [sic] mussten getroffen wergen [sic]. So war denn reger Betrieb.

Mit den 5 Uhr Zügen trafen wie erwartet die wenigen Gäste ein. Vielen Eltern war es involge [sic] schlechter Zugverbindungen verunmöglicht zu kommen. Dem entsprechend feiherten [sic] wir unsere Weihnachten.

Unser Programm enthielt einige Chorgesänge. Auch sangen Fräulein Irmgard Weber sowie Herr Mäder solo. Die Höflermusiker produzierten sich mit [(mit) gestrichen] ihren gut eingeübten Künsten, worunter sich besonders Paul Tobler auszeichnete. Als wohltuende Abwechslung des Programms rezitierte Ernst Schmidheinz eine Weihnachtsgeschichte und Herr Tobler las was passendes vor. Schlicht jedoch stimmungsvoll, wozu der mit Äpfeln und brennenden Kerzen geschmückte Christbaum beitrug, schloss der Abend mit dem Liede

O du fröhliche …

Doch für uns ging der Bummel erst recht los. Mit Höflerappetit macht man sich anden Weihnachtsfras[s], der trotz des Krieges nichts zu wünschen übrig liess. Nur der Rahm blieb aus, er wurde jedoch durch Früchte u. Torte ersetzt.

Wer erbarmte sich nicht der vollen Bäuche, die vor lachen [sic] fast zerplatzten, denn die Giftspritzer hatten ihr erbarmungsloses Handwerk begonnen. Blass, dann immer röter werdend, steht Einer nach dem Andern vorn, umringt von der, vor Schadenfreude jubelnden Menge. Nach dieser Beschehrung wurden noch verschiedene andere gediegene Sachen gebracht[,]  unter anderm [sic] hielt Welti einem [sic] Festrede.

Inzwischen 12 Uhr geworden, gings dann ins Bett.

22. Dez. 17. Trotz des langen aufbleibens [sic] begann schon früh reges Leben. Jeder machte sich reisefertig. Fieberhaft ass man zu Morgen, denn kaum fassbar erschienen die Ferien. Erst im dahienfahrenden [sic] Zuge kann man es richtig erfassen:

«Hurra Ferien»!

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 127 (Hofchronik 1915-1921; Beitragsbild: Linolschnitt von Paul Tobler in der Hof-Zeitung, Nr. 9, April 1917)

Freitag, 21. Dezember 1917 – Ein Tag der romantischen Ironie

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Student mit St.Galler Wurzeln:

Heute hatte ich wieder einen merkwürdigen Tag. Ich möchte ihn einen Tag der «romantischen Ironie» nennen: Ich habe mit Margrit P. eine ganz komische Begegnung gehabt, und der Grund davon ist jämmerlich banal gewesen. In den 10 Wochen der Rekrutenschule habe ich sie nie gesehen, wohl aber immer im Gedächtnis gehabt. Ich habe ihr Haus vom Kasernenfenster aus (allerdings vergeblich) gesucht, ich habe es vom Albisgütli aus beinahe gesehen und bin auf dem Rückweg vom grossen Ausmarsch ganz nahe daran vorbeigekommen. Immer habe ich an sie denken müssen. Jetzt nach der Rekrutenschule, freute ich mich auf dem Weg in die Universität hinauf, denn er brachte grössere Begegnungsmöglichkeit als früher der in die Kantonsschule. Tatsächlich habe ich sie in den 2 Wochen seit meiner Zivilwerdung bis heute, da die Weihnachtsferien beginnen, 3 mal gesehen, nur so über die Strasse hin. Was bedeutet das aber, ein Gruss über die Strasse, wenn die Gesichter beinahe unkenntlich in den Krägen stecken? – Heute abends 5 Uhr war die letzte Vorlesung, der letzte Heimweg vor den Ferien, als die letzte Begegnungsmöglichkeit. Ich dachte natürlich schon von oben an wieder an sie. Da stand sie beim Pfauen mit 2 andern Mädchen. Ich wollte im Vorbeigehen grüssen; in diesem Augenblick sprang sie plötzlich, sobald sie mich gesehen hatte, über die Strasse auf mich zu. Nun, das erkannte ich ja gleich, dass es irgend eine unwichtige Frage sein werde, in der sie mich interpellieren würde, vielleicht eine Erkundigung nach Doris, die ja schon 3 Wochen daheim sein muss. Was sie aber wissen wollte, stellte mich wenigstens plötzlich wieder auf einen sehr nüchternen kalten Boden zurück, nachdem mir vorher doch eine kleine Hitze in den Kopf gefahren war. Sie wollte wissen, wie unsere bündnerischen Spezialitätswürste für Neujahr heissen! Natürlich Beinwürste, am besten bei Domenig in Chur zu bestellen! Das sagte ich auch, und dann war das Gespräch mit einer sehr freundlichen Verabschiedung zu Ende. –

Immerhin hat es doch gewiss etwas zu bedeuten, dass gerade sie mich fragte, während die beiden andern ruhig auf der anderen Strassenseite blieben. Das heisst für mich, sie hat das Gefühl, mich doch etwas besser zu kennen, mit mir doch eher bekannt zu sein, als es die andern sind, die doch auch in der Tanzstunde waren.

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897). Das Tagebuch war mit einem Schloss abschliessbar (vgl. Abbildung).

 

Aerztemission

Donnerstag, 13. Dezember 1917 – Schweizer Aerztemission in Eng-land: Kiss the children

Vom 17. September bis zum 25. Oktober unternahm eine schweizerische militärärztliche Kommission für Austausch und Internierung der Kriegsgefangenen eine Reise nach England. Mitglied dieser Kommission war auch der Psychiater Franz Beda Riklin, der in früheren Blogbeiträgen unter anderem aus seiner Zeit als Militärarzt im Welschland berichtet hatte (vgl. Beitrag vom 17. August 1917).

In einer Broschüre, die 1918 erschien, schilderte Riklin seine Eindrücke, unter anderem von der Furcht vor Luftangriffen (Air-Raids). Auch die Lithographie für die Titelseite stammt von ihm (Ausschnitt daraus im Beitragsbild). Möglich ist, dass er, noch unter dem Eindruck der Reise, seine Erlebnisse in der Vorweihnachtszeit festhielt und an dieser Abbildung arbeitete. Bereits zuvor hatte er in verschiedenen Briefen an seine Frau über die Reise berichtet. Er schrieb in etwas holprigem Englisch, weil die Korrespondenz die Zensur passieren musste.

Grosvenor

Aus dem Grosvenor Hotel in London berichtete er am 10. Oktober 1917 nach Hause: My dear, Today we leave London, going back to Stafford. We will have quite hard work for some days and see about 1200 men again. Few and few the time approaches where we will be once more happily together. When you get this letter, we will already be travelling in France. Possibly Dr. Vischer [Leiter der Delegation?] is sending you a special enveloppe, but I don’t know if it reaches you before my return. Yesterday I visited Mrs Rider, Mr. McCormicks friend. She is a very nice and interesting American woman; I will see her the day we stop in London on our backway. She told me quite openly her opinion about the McCormicks. Don’t write mor[e] after getting this letter. I hope you to be still in good conditions. I have learned here a lot how to meet people. It gets cold, without heating, so in the evening I begin to get cold feet. I am in best health. Few and few I get enough about this sejour and will be very glad to work again at home, and very happy to continue the life with you together again. With best regards to mother and all people interested to us. Kiss the dear babys. Sincerely Yours Franz.

Zwei Tage später (12. Oktober 1917) notierte er in Stafford: My dear love, Since yesterday, we are once more here to work in the camp near here. A lot of work. I like the moore-country where we go everyday. The weather begins to get bad. Since I am here, I have a certain feeling of awakening, so I make the constatation that in London I was not quite «awaken», without feeling it. I hope to get of your news tomorrow or Sunday. We have to work here in every case until Thursday evening, and still two or three days in two other camps; so we will [be] back in London about at the end of the week, and stop in London for two days. So we will be travelling back, leaving London about the 15th; when we go to the front, it will take about another week, so that you will expect me about the 22th, I hope really not later. I am very anxious to get of your news the next days. Kiss the children. All my best wishes and  kindest regards. Yours truly Franz.

Erneut zwei Tage später war er immer noch in Stafford. Der Brief vom 14. Oktober ist der letzte überlieferte aus der Ehekorrespondenz zwischen Franz Beda Riklin und seiner Ehefrau aus dem Jahr 1917: My dear love, This morning I got your letter; it is very agreable every times [sic] to know that all is in order – except this vagabond which [sic] went in the Chalet at Laui-Alp [?]. It is rather peculiar that it happenes [sic] the first time after nine years. Don’t Forget to advertise the insurance compagny [sic]; Schlumpf at Alt-St. Johann is the Agent. Took this vagabonds the silver? Ugly people! Here all is well; I like so much this moor-country near here. – In ten days I hope to be at home; I will telegraph you when I arrive at Geneva; it is useless before; the telegramme would reach you to[o] late. Here we are well-nursed [?], about like children, exceedingly carefully. I got as cadeau «The first hundred thousand», which you shall write. I am rather inclined to write down some charactaristical [sic] impressions and thoughts; I tried such a sketsch [sic], and I think it is not too bad. The next place we stop is Derby, the last before returning. The weather is not unpleasant; autumn indeed, and the motordriving every morning and evening wonderful. Kiss the babys all together. Kindest regards. Yours Franz.

Nächster Beitrag: 21. Dezember 1917 (erscheint am 21. Dezember 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin) und Riklin, Franz: Impressionen aus England, Zürich 1918 (Beitragsbild und erstes Zitat)

Brotkarten

Samstag, 1. Dezember 1917 – Lebensmittel-rationierung: Brotkarte für Kinder unter 2 Jahren

Ab Dezember 1917 wurden für Kinder unter zwei Jahren spezifische Brotkarten ausgegeben. Die Ration betrug pro Tag nur 150g Brot und pro Monat 500g Mehl.

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Es gab noch weitere spezifische Brotkarten, so eine Brotkarte für Truppen, die Geldverpflegung erhalten mit Tagesrationen von 400g und 500g. Ausserdem wurde eine Militär-Brotkarte für Urlaubgänger (resp. eine Brotkarte für beurlaubte Militärs, die bis zu fünf Tage gültig war) ausgegeben: Für die länger als 3 Tage dauernden Urlaube hat der Urlaubgänger, der sich nach Hause begibt, diese Karte gegen die gewöhnliche Monatskarte umzutauschen. Kehrt ein Urlaubgänger vor Ablauf des Urlaubs zur Truppe zurück, so hat er die nicht benützten Urlaubs-Brotkarten zurückzugeben. Abschnitte dürfen nur vom Verkäufer entfernt werden.

Ausserdem gab es zwei Tage gültige, kurzfristige Brotkarten, die zum Bezug von 450g, 500g oder 600g berechtigten. Sie wurden an Reisende ausgegeben:

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Zum Thema Rationierung: vgl. den Beitrag vom 1. Oktober 1917

Nächster Beitrag: 13. Dezember 1917 (erscheint am: 13. Dezember 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 200/61