Hof Oberkirch

Mittwoch, 20. Februar 1917 – Wie schön ist doch die Schweiz

Hof Oberkirch: Das Alte Haus, Reproduktion nach einer farbigen Zeichnung von A. Blöchlinger

Brief eines Ehemaligen des Landerziehungsheims Hof Oberkirch, Kaltbrunn, an seine Ausbildungsstätte:

Wien, 20. Februar 1918

Die schönsten Erinnerungen an die Schweiz sind die an meine Reisen, die ich vom Hofe aus in dieses herrliche Land machte: zuerst die Herbstreise an den Bodensee und auf den Hohentwil [Hohentwiel], dann die Frühlingsreise mit Herrn Schlegel an den Genfersee und schliesslich die Bernerreise zur Landesausstellung. Wie schon ist doch die Schweiz immer und überall, am Bodensee ebenso wie am Genfersee! Ueberhaupt die Seen, die schönen Schweizerseen! Am liebsten ist mir immer der kleine Walensee gewesen.

Aber auch am Hofe war es schön. Lustig und fröhlich ging es immer dort zu. Freilich im anfang konnte ich nur mit Mühe den eigentümlichen Schweizer-Dialekt verstehen, aber das dauerte nicht lange, da verstand ich «Schwizerdütsch» ganz gut. Im Anfange hiess ich «der Oestricher», später nannte man mich mit meinen beiden Zimmerkameraden «die drei verrückten Karls». Auf der Terrasse führten wir damals noch wilde Fussballschlachten, wo uns allerdings infolge unseres Eifers bald 4 schöne Gummibälle in den Garten fielen, wo sie Herr Tobler [Direktor des Internats] konfiszierte. Hoffentlich bekomme ich sie wieder, wenn ich auf den Hof komme.

Gerne erinnere ich mich noch unserer Karnevalsunterhaltung, bei der ich aus Türlers Vorrat meine erste Zigarre, zu meinem Erstaunen ohne die prophezeiten fürchterlichen Folgen, rauchte.

Türler war übrigens auch unser Tischoberster und hatte u.a. auch die Pflicht, die süsse Speise auszuteilen, was aber nicht immer genau mit den anwesenden Personen ausging. Der Ueberschuss verfiel zumeist seiner unersättlichen Esslust, indem er meinte, er als Bauer müsse für drei schaffen und daher auch für drei essen.

Noch viele andere Sachen wüsste ich, aber ich will sie lieber für den Althöflertag nach dem Kriege aufheben, wenn wir armen Ausländer auch wieder in die Schweiz dürfen. Sie können mir glauben, dass ich diesen Tag sehnlichst herbeiwünsche.

Mit besten Grüssen Ihr

Karl Scheibe.

Karl Scheibe, Jahrgang 1899, war von 1913 bis 1914 im Hof Oberkirch. Er war zunächst Mitarbeiter und nach dem Tod seines Vaters Leiter der elterlichen Grossbuchbinderei in Wien.

Oskar Türler, Jahrgang 1898, war von 1912 bis 1915 Schüler im Landerziehungsheim. Nach Schulaustritt machte er eine Weiterbildung in einer landwirtschaftlichen Schule, war Knecht und Gehilfe in verschiedenen landwirtschaftlichen Betrieben, in denen Getreide- und Weinbau, Viehzucht und Milchwirtschaft betrieben wurde. Später lebte er zusammen mit seiner Familie als selbstständiger Bauer in Ebersol (Im Moos, Gemeinde Mogelsberg).

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen W 127 (Landerziehungsheim Hof Oberkirch, Hof-Zeitung, Nr. 12, April 1918, Text und Beitragsbild; Nr. 40, Juni 1927, Hinweise zu Karl Scheibe und Karl Türler)

Ansichtskarte "Gruss aus Necker*

Samstag, 2. Februar 1918 – Jung-männerzweifel: Gedanken über die «sittliche Geschlechtsliebe»

Fortsetzung der Liebesgeschichte des Ernst Kind, späterer Rektor der Kantonsschule St.Gallen (vgl. früher erschienene Beiträge):

2. Februar 1918. Heute habe ich einen Vortrag von Prof. Ludwig Köhler über «Sittliche u. natürliche Geschlechtsliebe» gehört. Seine klaren u. in ihrer tiefen Menschlichkeit so reinen, vornehmen Auseinandersetzungen haben mich tief berührt. Die Begründung einer sittlichen Geschlechtsliebe, die sich mit der natürlichen verbinden muss, steht auf dem erlösenden u. beglückenden Satz, hinter dem er mit seiner festen Überzeugung steht: Für jeden jungen Menschen wächst irgendwo in der Welt ein junges Mädchen auf, das ihm bestimmt ist, und er ist diesem Mädchen bestimmt. Ihre Bahnen werden zusammenlaufen; zur rechten Zeit werden sie sich begegnen, und beide werden einander erkennen als die Richtigen. Nur diese beiden können miteinander glücklich werden. Weil das aber so ist, so muss der junge Mensch seinen sinnlichen Trieb in der Faust halten, dass er sich rein erhalte [um seinetwillen und] um des ihm bestimmten Mädchen willen. Denn das Mädchen muss sich ganz an den Geliebten anlehnen können, muss an ihm Halt und Schutz haben. – Dass sich ein junger Mensch leicht verlieben kann, ist Natur, denn sein Trieb wird von der Schönheit des Weibes gezeigt; weil aber der Mensch gerade in der Liebe seinen «Menschen» gegenüber dem «Tier» zeigen muss, wird er solchen Reizen sich widersetzen. Das Tier muss, der Mensch will. Die Unterscheidung zwischen Liebe u. Verliebtheit ist leicht. Köhler drückt es ganz drastisch in mathematischer Formel aus: Liebe wächst mit dem Quadrate der Entfernung! Bei der Verliebtheit ist es umgekehrt. Verliebtheit muss zeitlich vor der Liebe kommen; das ist klar. Denn Verliebtheit, die doch das Objekt oft wechselt, ist einfach das Zeichen, dass man infolge des Geschlechtstriebes einfach begehrt, was weiblich ist. Aber das Ziel dieses Kampfes ist das, dass die Begehrlichkeit ganz persönlich wird, dass man die Richtige findet und dann mit seiner ganzen Kraft liebt. Das höchste Glück kann man nur so erlangen, wenn man in der Geliebten den Kameraden erkannt hat.

Auch das Sinnliche der Liebe wird etwas Heiliges. Denn die 2 Menschen, die sich als die besten Freunde erkannt haben, vereinigen sich miteinander[,] neues Leben zu erwecken und dieses heilige Gut der Menschheit weiterzugeben. Die Frau gibt dem Mann alles, ihren Körper u. ihre Seele; sie muss deshalb ganz in seinem unbedingten Schutz stehen; er muss geradezu ein Vater seiner Frau sein. Immer aber muss der Mann trotzdem fast vor seiner Frau knien können; sie lebt nur von seiner Achtung; denn jedes schwache Wesen lebt nur, wenn man ihm Achtung schenkt; sie sich zu verschaffen, ist es meist zu schwach.

Ich liebe Margrit Peter; das weiss ich sicher. Ich glaube, es kann nicht Verliebtheit sein; ist es denn nicht gewachsen mit dem Quadrat der Entfernung?! [5. April 1917.] Doch merke ich, dass ich viel leeres Geschwätz in dieses Buch geschrieben habe über diese Liebe. Warum mich aber doch der Zweifel plagt, ob sie wirklich die Rechte sei, das kommt daher, dass ich sie noch so wenig kenne. Bewahre mich der Himmel, dass nicht auch meine Liebe nur eine Halbheit ist wie sonst alles andere.

Der nächste Eintrag im Tagebuch Kind trägt das Datum vom 31. Oktober 1918, in der Zwischenzeit leistete er Militärdienst.

Die Zweifel, ob sie wirklich die Rechte sei, hatten offenbar ihre Berechtigung: Ernst Kind verheiratete sich schliesslich 1932 mit Wanda Bolter (1908-1995).

Ludwig Köhler (1880-1956) war Theologieprofessor an der Universität Zürich, vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10710.php

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/7.2 (Tagebuch Ernst Kind) und W 238/08.12-24 (Beitragsbild mit Vergissmeinnicht, Veilchen und Rosen: Auszug aus Ansichtskarte «Gruss aus Necker!», 1903)