Henne mit Küken, 1916

Ostersamstag, 30. März 1918 – Amtliches zu Hunden, Hühnern, Löwenzahn und Gitterrost

Der Gemeinderat von Wattwil liess folgende Massnahmen gegen Schäden, welche die landwirtschaftliche Produktion bedrohen, publizieren:

a) Hagelversicherung:

Der Regierungsrat hat dieses Jahr wiederum beschlossen, zur Fördreung der Hagelversicherung die sogenannten Nebenkosten (Police und Stempelgebühren) sowie 30% der Versicherungsprämien für Reben und 20% derjenigen für die übrigen Kulturen aus der Staatskasse zu decken. Wir empfehlen daher der Bauernsame, sowie der weitern Ackerbau treibenden Bevölkerung angelegentlichst, sich die vorteilhafte und segensreiche Institution der Schweiz. Hagelversicherung, sowie das Anerbieten des Staates zu Nutzen zu machen, indem sie ihre Kulturen gegen event. Hagelschäden versichern lassen.

b) Schutz gegen gemeinschädliche Pflanzen:

Die Grundbesitzer sind verpflichtet, die Misteln auf den Obstbäumen, den einheimischen Sephibaum (Juniperus sabina [Giftwacholder]) in der Nähe von Birnbäumen, sowie zur wirksamen Bekämfpung des schädlichen Gitterrostes der Birnbäume, die kultivierten Sephibäume und -Sträucher, sobald sie mit dem Rostpilz behaftet sind, als gemeinschädliche Pflanzen zu beseitigen. Nichtbeachtung dieser Vorschriften wird mit Busse bis auf Fr. 20.- bestraft. Das Forstpersonal ist pflichtig, die Entfernung der Misteln von den Waldbäumen anzuordnen.

c) Bekämpfung tierischer Schädlinge:

Als tierische Schädlinge sind zu bezeichnen, Mäuse, Blutläuse, Wespen, Kohlweisslinge e[t]c. Von den Grundbesitzern muss in ihrem eigenen Interesse verlangt werden, dass der Mäusevertilgung mehr als bisher Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im ferneren ist dringend zu empfehlen, dass die Bekämpfung der Wespen und Kohlweisslinge durch frühzeitiges Abfangen an die Hand genommen wird. Wir denken hiebei [sic] namentlich an die Mitwirkung der Schuljugend.

Die Lebensmittelfürsorgekommission der Gemeinde Wattwil erliess ein Verbot betr. das Halten von Hunden:

Die Fürsorgekommission hat in ihrer letzten Sitzung beschlossen: Es sei denjenigen Personen, welche die billigeren Lebensmittel beziehen, das Halten von Hunden verboten, bezw. es sei die Abgabe billigerer Lebensmittel zu verweigern, event. zu entziehen. Zuwiderhandlungen gegen vorstehenden Beschluss ersucht die Fürsorgekommission ihr schriftlich mitzuteilen.

Gleichzeitig liessen die Gemeinderäte des Bezirks Neutoggenburg zweisprachig folgendes Verbot veröffentlichen:

Es wird neuerdings zur Kenntnis gebracht, dass es unberechtigte Betreten von Gärten, Wiesen und Fluren, um Blumen zu pflücken, Futter für Kaninchen zu sammeln oder Löwenzahn auszustechen, wie auch das Laufenlassen von Ferdervieh auf fremdem Grund und Boden verboten ist. Zuwiderhandlungen werden nach den bestehenden Strafgesetzen unnachsichtlich geahndet. Für Minderjährige sind deren Eltern resp. Vormünder verantwortlich. Lichtensteig, den 20. März 1918. Die Gemeinderäte des Bezirks Neutoggenburg.

Si avverte di nuovo il publico che senza autorizzazione è vietato l’entrata in giardini, prati e campi alle scopo di cogliere fiori, raccogliere pascole per i conigli e cavare dente di leone. In pari mode è severamente proibito il lasciar correre il pollame sopra terreni alieni. Le contravvenzioni verrano ineserabilmente punite secondo le leggi penali in vigore. Per i minori sono responsabili i lore genitori e tutori. Lichtensteig, il 20. Marzo 1918. Le minicipalite del distretto.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 970 (Bezirks-Anzeiger für Neutoggenburg, Amtliches obligatorisches Publikationsmittel für die Gemeinden Wattwil, Lichtensteig, Krinau, Oberhelfenschwil[,] Brunnadern, St.Peterzell und Hemberg, Nr. 13, 30.03.1918) und W 054/69B.19.15 (Fotoalbum von Theresa Schläpfer: Hühnerhof in Salerno, ca. 1916)

Freitag, 1. März 1918 – Erziehung von Galgenstricken

Emil Nüesch (1877-1959), Lehrer in St.Gallen, berichtete Im Rorschacher Neujahrsblatt 1918 unter dem Titel Galgenstricke über die Erziehung heranwachsender Knaben:

Der Vater meines Schülers Walter Baldauf spricht vor meiner Schultüre vor, um sich, wie er sich selber ausdrückt, nach seinem «Galgenstricke» zu erkundigen. Ja, es ist ein eigenes, nicht uninteressantes Kapitel, das Kapitel der Galgenstricke. –

Wo es sich um Spitzbubenstücklein, ums Lärmen auf den Gassen, ums Radaus[s]chlagen und Raufen handelt, da ist der allzeit unternehmende Bursche aktiv beteiligt. Kriegsspiele anordnen, polternd und lärmend durch die Gassen toben und dabei behäbigen Passanten fast den Bauch einrennen, allerlei verwegene Bubenstreiche inszenieren, Kehrichtgefässe übers Trottoir werfen, warnende und schimpfende Frauen mit Grimassen und foppenden Gelächtern ärgern, – das ist so ganz seine Sache.

Das Stillsitzen in der Schule fällt ihm schwer. Für die meisten Schulfächer bekundet er wenig Interesse und auch wenig Verständnis. Während der Sprachlehre gähnt er, und das Bruchrechnen scheint auch gar nicht nach seinem Geschmacke zu sein. –

Wer ihn nicht besser kennt, wird ihn nach dem Massstabe der positiven Leistungen in den obligatorischen Schulfächern zu den Dummen zählen. Aber der Kerl ist durchaus nicht dumm! Er lässt sich für die vaterländische Geschichte begeistern wie kein zweiter. Wenn von den Heldentaten der Eidgenossen die Rede ist, dann sieht er mich mit gorssen Augen an, stützt die Ellbogen auf den Tisch, hält die Fäuste an die Schläfen und hört mit gespanntester Aufmerksamkeit zu. Dass sich die Schweiz im gegenwärtigen Kriege nicht auch zum Dreinhauen entschliessen kann, will er nicht begreifen.

Kein Schüler bringt mir so viele Pflanzen, Käfer und Schmetterlinge in die Schule wie er. Für die Natur interessiert sich der junge Baldauf lebhaft. Jüngst sagte er mir, er wisse alle Krähennester im Kapfwalde. Wenn ich mit den Schülern spazieren gehe, muss ich ihm besondere Aufmerksamkeit schenken, denn er hat immer etwas zu fragen und will jeden Felsen erklettern.

Trotz seines rohen Benehmens entbehrt er keineswegs der Zärtlichkeit. Die harte Schale birgt einen weichen Kern. Gefühlswarme Erzählungen machen sichtlichen Eindruck auf ihn. als er vor einigen Wochen wegen eines Spitzbubenstreiches in der Patsche sass, liess er eine empfindliche Strafe ruhig über sich ergehen. Ich erfuhr erst nachträglich durch Unbeteiligte, dass bei jenem Streiche drei Klassengenossen mitschuldig waren. Seine Freundestreue gebot ihm, dies zu verschweigen und die Strafe mit heroischem Mute allein zu ertragen. In der Pause teilt er nicht selten sein Stück Brot mit den Kameraden. Im letzten Jahrmarktsbericht schrieb er, er habe 25 Rappen Taschengeld zur Verfügung gehabt. Für 20 Rp. habe er ein rotes Teufelchen an einer langen Stecknadel gekauft, um es beim Räuberlis machen als Abzeichen des Räuberhauptmanns auf dem Hute zu tragen, und 5 Rappen habe er einem invaliden Bettler gegeben. Ein Mitschüler bestätigte die Tatsache.

Im Schulrechnen ist er unbeholfen. Aber draussen auf dem Spielplatze beherrscht er alle und weiss als schlau berechnender Kopf seine Vorteile zu wahren und seine Spielgefährten zu übertölpeln. Dort ist er erfinderisch und ein geriebener Gauner. Es ist auch bezeichnend, das seine Spielgenossen ihn beim Räuber- und Poli-Spiel regelmässig zum Räuberhauptmann wählen. Da kennt er die Schliche und leistet Hervorragendes. Ein Dummer taugt nicht zum Räuberhauptmann!

Galgenstrick hat ihn sein Vater genannt. – Was soll das heissen? – Walter Balddauf ist ein temperamentvolles, lebenssprühendes, urwüchsig gesundes Naturkind von feuriger, lebhafter Phantasie und triebsgesunder Impulsivität, ein unbändiger Springinsfeld, ein munteres Füllen, das freudig wiehernd über die grüne Weide rennt und gelegentlich im Uebermute ausschlägt, ein Widerspenstiger, dem Ordnung und Sitte oft lästig erscheinen, der Schulweisheit und Schulordnung als unnötigen Ballast empfindet, dagegen mit schöpferischer Vorstellungskraft und viel willensstarker Initiative sich in die Romantik ungezügelten Gaunerlebens hineinphantasiert und dabei glücklich ist.

Selbstverständlich kann man ihn nicht frei schalten und walten lassen. Aber man muss den Galgenstrick zu verstehen suchen, sonst tut man ihm unrecht, schwer unrecht! Das feurige, junge Triebleben, die plastisch darstellende Phantasie, der impulsive Entfaltungsdrang, die Unsumme jugendfrischer Gestaltungskraft, die machen in ihrer Unbändigkeit und inneren, sittenpolizeilichen Zensurfreiheit das Wesen des Galgenstrickes aus. Galgenstricke zu erziehen ist eine Kunst, die ferne von jeglicher Schablone in verständnisvoller Individualisierung sich des Zöglings liebevoll annimmt und in zielbewusster, feiner Führung der Libido den jungen, werdenden Menschen seinen persönlichen Anlagen gemäss erzieht und veredelt. –

Wer da jeden Streich jugendlichen Mutwillens als den Ausfluss böswilliger Ueberlegung oder verdorbenenen Gemütes betrachten wollte und weiter nichts zu tun weiss, als mit Jammern und Schimpfen und Drohen und Schlagen zu «bändigen» und zu «züchtigen», der ist psychologisch falsch orientiert und versteht sich auf den erzieherischen Kompass schlecht. Besinnen wir uns darauf, der flammenden Lebenskraft und dem starken Entfaltungsdrange zweckmässige Betätigungs- und Entfaltungsgelegenheiten zu bieten! Nicht im «Bändigen» und «Züchtigen», Hemmen und Lähmen, sondern im Führen und Richtung geben liegt positiver Erziehungswert.

Ich jammere nicht über einen Galgenstrick,, so gerne ihn mancher verärgerte, ungeschickte Erzieher in der Perspektive des Rütliliedes – «Von Ferne sei herzlich gegrüsset» – betrachten möchte, denn ich weiss, dass Galgenstricke meistens tüchtiges, geeignetes Holz zu guten Pfeifen liefern. Der Fehler liegt nicht immer am Holz, er kann auch am Schnitzler liegen. Aber klagen möchte ich über jene Eltern und Erzieher, deren Erziehungskunst sich in langweiliger, gefährlich einschüchternder, moralingesättigter Prügeltaktik erschöpft. Es tut einem in der Seele weh, beobachten zu müssen, wie so viele Eltern in ausgesprochenem Missverständnis der kindlichen Seele und jugendfröhlichen Gebahrens Disziplinarvergehen als persönliche Beleidigungen auffassen, sich ärgern und rächen. Sie bekunden damit ihr erzieherisches Unvermögen und ihre Unfähigkeit, in aller Ruhe und Gelassenheit von der hohen Warte eines überlegenen geistigen Führers aus zielbewusst die jugendliche Libido zu lenken und zu veredeln.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, P 744 (Rorschacher Neujahrsblatt 1918, S. 21f.; zusätzliche Absätze in den Text eingefügt durch Regula Zürcher)