Lyon um 1918

Montag, 13. Mai 1918: Nachrichten aus Lyon mit Vorboten der Grippe

Der Psychiater Franz Beda Riklin weilte immer noch in Lyon (vgl. Beitrag zum 7. Mai 1918). Alle zwei bis drei Tage verschickte er einen Brief an seine Ehefrau, zwischendurch auch Ansichtskarten mit teils sehr knappem Inhalt. So hiess es auf einer Karte vom 8. Mai 1918: Bloqué. Vais bien. Mille salut. Franz. Einen Tag später war er guter Hoffnung, bald zurückkehren zu können, weil ein Nachfolger am kommenden Tag eintreffen sollte. Von einem konkreten Rückkehrdatum war in der folgenden Korrespondenz jedoch keine Rede mehr:

Lyon, 10.5.18.

Liebste Frau!

Morgen früh 8 Uhr soll endlich ein Austauschzug ankommen, u. nachmittags auf dem Rückweg in die Schweiz soll dieser Brief mitgehen. Am liebsten käme ich selber mit; denn die Herrlichkeiten u. Emotionen hier sind nicht übertrieben. Eine etwas meridionale Stadt, ohne die Schönheiten von Florenz. Immerhin schöne Parke [sic] u. Plätze. Bisher hatten wir nur zwei Sitzungstage. Seither müssen wir wegen des mangelnden disponiblen Unterkunftraums warten, bis wieder einige hundert Mann abgefahren sind.

Gestern war ich krank, hatte Fieber, Kopf- & Gliederschmerzen, etwas Bronchialkatarrh, u. dazu eine recht öde, gottverlassene Stimmung. Heute ists [sic] schon viel besser; ich habe gestern u. heute möglichst viel im Bett gelegen u. es mir sonst bequem gemacht. Also schon wieder ziemlich gesund. Natürlich konnte ich da in der freien Zeit nichts leisten.

Im Theater hörten wir statt des angesagten Cyrano den Aiglon, immerhin sehr gut gespielt. Die Kameraden sind sehr ordlechi [sich, Schweizerdeutsch für «sehr ordentliche»]; aber gar nicht interessant.*) [Einschub am Rand: *)u. man muss mit ihnen in einem schweizerdeutschfranzösisch conversi[e]ren, dass es einem im Ohr weh tut.] Zu essen bekomme ich viel, mit reichlich Olivenöl.

Wenn man erschöpft ist, so kommt gleich die Traurigkeit u. man meint, überhaupt nichts mehr zu sein u. tun zu können. Aber die Influenza war viel Schuld daran. Wenn’s nur Euch gut geht, lieber Schatz. Und Du mich lieb hast. Das Leben der Kleinigkeiten sieht man hier so drückend-überwältigend, besonders durch die Complication des Kriegs.

Sonntag fahren wir nach St-Pierre …?, 50 km. nach Süden, zu einem schweizer. Fabrikbesitzer, einem Herrn Hegetschwiler. Hoffentlich ist’s schön. Und nach Avignon möchte ich unbedingt für 2 Tage, zur Compensation.

Das Hotel ist recht, natürlich lärmt es sehr auf der Strasse, aber man gewöhnt sich.

Vielleicht kann Dir Dr. [?] Häberlin noch Auskunft geben, wie man rationell Briefe spedi[e]rt. Ich freu  mich sehr auf Nachrichten. Das Buch von Barbusse «Le feu» ist sehr gut geschrieben; Schützengrabenleben; sehr wahr, reich in der Beobachtung, viel reicher als «Lettres d’un soldat». Aber man hat doch bald genug Kriegsliteratur.

Allerherzlichste Grüsse u. Küsse, u. hab Dich lieb. Grüsse u. küsse die Kindlein.

Dein treuer

Franz.

Nach über einer Woche Aufenthalt in Lyon erhielt er erstmals Post von seiner Frau:

Lyon, 13. Mai 1918.

Allerliebste Frau!

Soeben habe ich Deinen ersten lb. Brief erhalten u. bin sehr froh darüber, zu sehen, dass man sich wenigstens berichten kann, u. froh etwas von Dir zu haben. Hier ist ja alles recht u. gut, aber eigentlich langweilig; es erinnert zu sehr an frühere Dienste; interessant ist nicht viel an der ganzen Sache, u. im Herumreisen ist man sehr gehemmt, obwohl (ich möchte fast leider sagen) Zeit genug da wäre.

Vorgestern habe ich mir die Ankunft eines Zuges mit rapatriirten [sic] Internierten angesehen; grosse Zeremonie mit Anwesenheit des kommandi[e]renden Generals von Lyon, Kavallerie, viel Clairons, grosse Rede u.s.f. Die Heimkehrenden u. wa  man von ein paar anwesenden Angehörigen sehen konnte, waren sehr emotioniert [sic]. Ich habe den Kameraden einen Brief für Dich mitgegeben.

Hier sind viele italienische Soldaten. Es sind die, welche uns durchschnittlich am höflichsten grüssen. Ob es ist[,] weil sie unsere Uniform kennen oder weil sie sie sie gerade nicht  kennen? Item. Es sind die freundlichsten.

Heute Nacht kommt ein Austauschzug an u. kehrt mit gewechselter Fracht wieder zurück. Den Brief für Dich gebe ich aber einem Kameraden mit, der sich auf der Durch- & Heimreise befindet.

Der ganze ärztliche Modus der Gefangenenauswahl wird jetzt überholt durch die viel bedeutenderen u. weitern Berner Abmachungen, auf Grund derer gewaltige Zahlen nichtkranker Gefangener ausgewechselt werden kann.

Lieber Schatz, es ist mir nicht sehr wohl hier, eben weill ich weiss, wie Du Dich inzwischen abhundest, u. weil anderes Wichtiges zu tun wäre. Ich gebe heute auch einen Brief an Claparède mit.

Meine «Krankheit» ist vorüber; als Rest bleibt nur noch ein Rifenbart [?] von ziemlicher Ausdehnung. Ein bis zwei Tage war es misslich, besonders die Stimmung. Übrigens hats die andern teilweise auch gepackt; es muss eine Grippeinfection im Hôtel genistet haben.

Einer der Collegen ist ein Dr. Barry, ursprüngl. u. in s. Wesen ein Landschaftler [sic, eigentlich «Landschäftler», d.h. aus  dem Kanton Baselland], war lange Jahre in Vitznau, jetzt zeitweilig Hotelarzt in St.Moritz. Dein Vater war Hausarzt der Familie u. hat ihn auch behandelt.

Sturzenegger ist viel eintöniger als ich mir gedacht habe. Überhaupt ist nicht viel los mit den Herrschaften. Brunner ist noch der beweglichste.

Ja, geh doch ein paar Tage ausruhen irgendwo. Diese Putzerei beängstigt mich wirklich, dazu die ungelöste Hausfrage, u. die Beobachtung, dass Dir der Auszug auch schwer fällt. Aber wir wollen mutig sein. Und ich sage Dir, wir leben doch ein interessanteres Leben als viele, u. reicher. Ich will alles herausschlagen, was ich aus mir herausholen kann, u. wir wollen durchkommen, so oder so.

Barbusse «Le feu» ist eigentlich doch furchtbar; d.h. der Krieg ist furchtbar, grauenhaft in seinem eintönigen Dreck u. Zerstörung. Und ich habe für lange genug von der Kriegsliteratur.

Bald geht der Zug ab, und ich muss schliessen. Es ist nicht weit nach Hause, u. doch gehen sehnsüchtige Wünsche mit diesem Brieflein. Ich hoffe, es gehe alles gut, u. Du tragest etwas Sorge für Dich.

Schreibe mir ein paar Warenpreise auf für Wolle, Seife u. ähnl., damit ich weiss, ob ich Dir hier kaufen soll. (10 [Zeichen für: Pfund] Marseillerseife kosten hier z.B. ca 14 Schweizerfranken, 1 kg Wolle ca 8 Schweizerfranken).

Tausend herzlichste Küsse u. viele Grüsse an die lieben Kindlein.

Ich komme sobald als möglich, u. jedenfalls allerspätestens nach dem Ablauf von 6 Wochen; es ist nun schon mehr als eine vorüber.

Auf Wiedersehen.

Dein treuer

Franz.

Wieder zwei Tage später schrieb Franz Beda Riklin, die ersten paar Zeilen in schwarzer, danach in blauer Tinte:

Lyon 15.5.18.

Allerliebste Frau!

Es geht wieder ein College in die Schweiz zurück, u. ich gebe ihm ein Brieflein für Dich mit. Von Dir habe ich bisher zwei Briefe bekommen, den ersten direkt, nach 4-5 Tagen, den zweiten mit dem Austauschzug am 2. Tage nach Deinem Datum. Ich bin wirklich etwas in Sorge wegen Deiner Gesundheit u. möchte Dich sehr bitten, Dich lieber zu schonen. Ich habe 5 kg Marseillerseife gekauft, zu frs 18.75 cts französ. Geld, macht etwa 14 frs Schweizergeld. Soll ich Wolle kaufen, das [Zeichen für Pfund] (od kg?) zwischen 7 u. 11 frs französ Geld (5 bis 8 frs Schweizergeld)?

Das Leben hier ist wirklich nicht sehr interessant. Eine grosse Krämerstadt. Und die Collegen hier bieten furchtbar wenig. Mon dieu! Einer der letzthin zurückkam, ein Welscher, war wenigstens auf dem Himalaja, kurz vor dem Herzog der Abruzzen, u. wusste mir sehr viel Interessantes davon zu berichten.

Die Arbeit ist natürlich monoton. Mit den französ. Kameraden ist auch nicht sehr viel anzufangen. Entweder sind es Militairs, die in ihren Bureaus sehr viel Arbeit erledigen müssen, od. vielbeschäftigte Professoren der Fakultät von hier. Die haben alle zu tun u. sind in ihrem Tramp u. haben keine Zeit. Sonst sind sie alle sehr recht und nett.

Man fühlt doch überall sehr die Mühseligkeiten u. Einschränkungen des Kriegs; alle sind Bestandteile der Maschine, u. wir auch. Man speist vor allem das.

Lyon hat einige interessante Bauten, einige römische Reste, einen schönen Park, u. zwei Flüsse; sonst alles[,] alles Kramläden, Fabriken. Die Läden erinnern an Italien. Es ist alles teuer. Unsere Verpflegung täglich kommt, abgesehen vom Zimmer, auf etwa 20 frs. pro Kopf, ohne etwas ganz Ausserordentliches zu bieten, da auch Einschränkungen sind.

So freue ich mich vor allem auf die Rückkehr. Vielleicht kann ich noch, mit spez. Erlaubnissen, noch etwas von der Landschaft sehen.

Im Strassenbild ist sehr viel Militair [sic] aller Art, darunter ein starkes Kontingent Italiener, dann viel Krüppel und Spitäler, indem Lyon ein besonderes Spitalzentrum ist. Es geht alles etwas bescheidener zu als in England.

Allerherzlichste Grüsse u. Küsse, auch für die Kindlein.

Von Deinem treuen

Franz.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin-Fiechter; Beitragsbild: Ansichtskarte, verschickt am 16.06.1918)

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