Kronbergtour, Spiel

Sonntag, 23. Juni 1918 – Damen-tour auf den Kronberg

Der Schweizer Alpenclub SAC war lange Zeit eine reine Männerangelegenheit. Seit 1918 gab es zwar den Schweizerischen Frauenalpenclub, eine Fusion der beiden Gruppierungen fand jedoch erst 1980 nach intensiven Diskussionen statt. (vgl. u.a. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16457.php)

 

 

 

 

 

 

 

 

Der SAC St.Gallen führte für die Ehefrauen und Töchter der Clubmitglieder unter dem Titel «Damentour» jährlich eine leichtere Bergtour durch. Am Sonntag, 9.  Juni 1918, war man gemeinsam auf den Kronberg gewandert. Am Mittag hatte die Gruppe auf offenem Feuer gekocht (der den Männern aus dem Militär bekannte «eidgenössische Spatz»), danach getanzt und musiziert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Staatsarchiv St.Gallen ist momentan dabei, das Archiv des SAC St.Gallen aufzuarbeiten. Dabei sind auch Glasdiapositive zum Vorschein gekommen, welche die Tour dokumentieren. Im Gegensatz zu den digitalen Bildern von heute, die auf Knopfdruck sichtbar sind, mussten Negative früher erst entwickelt werden. Deshalb wird dieser Beitrag erst vierzehn Tage nach dem eigentlichen Ereignisdatum publiziert.

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 312/11.2.22.013 bis W 312/11.2.22.029 (Bestand SAC St.Gallen, Bilder der Damentour auf den Kronberg)

 

 

 

Naturfreunde

Sonntag, 9. Juni 1918 – Koch-touristen statt Hochtouristen: Dreigangmenu auf der Hundwilerhöhe

Noch ein Tourenbericht der Naturfreunde St.Gallen, diesmal mit falscher Datierung. Geht man davon aus, dass die Tour wie beschrieben am Sonntag stattfand, müsste sie auf den 9. Juni datiert sein, nicht auf den 7. Juni:

Bummel-Tour nach Hundwilerhöhe 7/6.1918

Um den Hochtouristen, al [?] pardon Kochtouristen Gelegenheit zu geben[,] sich wieder mal tüchtig in ihrem Fache zu produzieren[,] hatte sich eine kleine Schar entschliessen können, Sonntag den 7. Juni nach der Hundwilerhöhe zu pilgern. Ein schöner Tag soll uns beschieden sein. Dieser Gedanke entlockte uns gleich morgens in der Früh feine [?] Musik[,] ich glaube[,] sie wurde vom löblichen Präsidium der Hütten-Verwaltung Stadtmusik Lustmühle getauft; die es verstand, uns glückliche Menschenkinder mit letztem Humor auszuwappnen. Nun geh[‹]s im strammen Tempo den Ihnen [sic] allen gut bekannten Weg der Schwanenbrück entgegen, der hinauf führt in’s so ruhig & nett gelegene Dörfchen Stein. Wie so schmuck & einladende sind all die Häuschen der Dorfstrasse. Ist dies doch der grosse Stolz des Appenzeller-Völkleins; ein schmuckes Heim Ihr [sic] Eigen nennen zu dürfen.

Von hier wählten wir den Weg, der uns führen sollte nach Sonnenthal & dann hinauf in die Höhe. Da welch Überraschung wiederum Musik lässt sich hören, die Leute scheinen uns St.Galler wirklich gut gesinnt zu sein, dass Sie [sic] uns fortan mit Musik empfangen. Ein Blick nach dem «Ani» & der verrät wie so furchtbar gerne es jetzt einen feschen Walzer schwingen möchte. Als Neuling noch so furchtbar schüchtern, wagt es natürlich diesen Wunsch nicht zu aussern [äussern] & so muss Sie [sic] denn von niemand bedauert, schweren Herzens von Dannen [sic] ziehn? Daüfr ist Sie aber später reichlich entschädigt worden, denn eines unserer verehrten Mitglieder[,] der sich bei dieser Tour als Spinner entpuppt oder noch besser als Schwindler, pardon Buchdrucker ist er ja[,] der nimmt sich in recht liebenswürdiger Weise der Ani an.

Nach gut 2stündigem Marsche soll uns ein gutes Gabelfrühstück beschieden sein. Kuhwarme Milch ruft die Kleine. Nicht lange währt & eine Kanne Milch steht zur Verfügung. Herrschaft[,] wie das fein schmeckt! Dem Hans & Konsorten ist’s natürlich nicht so gut ergangen, sie mussten sich mit «Gäs[«]-Milch [Ziegenmilch] begnügen. Geschmeckt hat[‹]s Ihnen [sic] doch wie Sie behaupteten. Nun «möge man’s wieder verlide» heisst’s. Noch den einen letzten, aber grossen Stich & die Hundwilerhöhe ist erreicht. Nun haben wir unser schönes Alpstein [sic] vor uns in all seiner Pracht. Wenn auch die Aussicht nicht so war wie auch schon[,] so hat der Anblick desselben den Zweck nicht verfehlt, schöne Erinnerungen wachzurufen. Pläne werden geschmiedet, so wunderschöne[,] wie manch einer wird wohl in Erfüllung geh[e]n.

in herrliches Plätzchen wird nun ausgesucht, das uns ermöglicht, während Stunden eines richtigen[,] wie der Italiener sagt: [«]Dolce far niente» zu erfreu[e]n[;] unter einer wunderschönen Tanne wird Zuflucht genommen. Schnell die Schuhe & Strümpfe ausgezogen & der Spitzbueb[,] von gewisser Person so tituliert[,] präsentiert sich in seiner ganzen Grösse. Wie anfangs richtig bemerkt[,] hatten wir heute in Augenschein genommen[,] uns nicht in Hochtouristik zu üben[,] sondern in was viel Praktischerem[.] «Kochtouristen»[,] diesen 2 Worten wollten wir heute mal alle Ehre machen & so müssen denn die verehrten Zuhörer mir wohl gestatten, dass ich jenes Mittagsmahl[,] fabriziert von einigen strammen Junggesellen St.Gallen’s ein bis[s]chen kritisiere. Elf Uhr ist’s[,] Freund Weber und Geuggis wissen nichts gescheiteres [sic] zu tun als schon jetzt Vorbereitungen für d’table D’haute [eigentlich «table d’hôte», hier vielleicht gemeint: «Tafel auf der Höhe»] zu treffen, damit sie ja sicher bis 3 Uhr fertig werden. «Eh, Herdöpfel-Rösti soll’s z’erst geh»[,] ruft der Eine. Richtig[,] Sie [sic] gehn [sic] mit Ernst hinter ihr Tagwerk. Sie verstehn’s nicht schlecht, dass muss man gestehtn & können in dieser Hinsicht der jungen Damen-Welt nur bestens als praktischer Ratgeber empfohlen werden. Nicht lange währt, die Kartoffeln sind zum Rösten bereit. Nun kann’s los gehn [sic] bemerkte eine Stimme, nicht so viel Zwiebeln[,] schreit eine Andere, zu viel Salz[,] ergänzt die Dritte. Kommandieren können die Drei[,] s’ist ne wahre Freud[,] wird sich geäussert. Der Hans[,] der denkt[,] wer zuletzt lacht, lacht am besten. Es ist auch richtig so gekommen, den[n] eine Herdöpfel-Rösti[«] haben sie aufgetischt, eine feinere hätt man sich nicht wünschen können. Da haben die drei Mädels hübsch artig geschwiegen & mit Erlaubnis beim Verzehren derselben tatkräftig unterstützt. Nun folgt jene berühmte Suppe[,] bei der die Gemütlichkeit den Höhe-Punkt erreichte. Die Zubereitung derselben hat einem jeden ein Lächeln entlockt, unvergesslich bleibt jener Anblick, wie gefühlvoll unser Koch es verstand[,] seine Wurst im Kochtopf verschwinden zu lassen. Na Prost[,] diese Brühe[,] guten Appetit dazu[,] wird gerufen! Wer nun geglaubt[,] dass diese misslungen, der hattë[ sich geirrt. Fein ist sie gewesen & hat dem Koch alle Ehre gemacht[.] Schwarzer Kaffee & Kuchen bilden den Schluss unseres Mittagsmahl[s]; dass [sic] uns mords Spass [sic] bereitete.

Unserer [sic] Führer oder Beschützer[,] wie man sie nennen will[,] sollen sich dermassen am Essen gütlich getan haben, dass Sie [sic] sich genötigt sehn[,] sich mit Bock-Springen zu betätigen. Unserer Bummel-Tour gemäss beginnt nun ein so recht gemütliches Lagerleben. Welch herrlich, freies Gefühl beschleicht da den Wanderer hier oben. Weg von dem Hasten des täglichen Lebens, Ruhe & Frieden während Stunden geniessen zu können[,] das ist ja[,] was uns so mächtig hinaus zieht, hinaus in’s Freie, in Gottes schöne Natur. Wer seine richtige Freude daran empfindet[,] der muss auch gestehn; dass trotz den bitter bösen Zeiten[,] in der [sic] wir uns befinden[,] wir uns doch glückliche Menschen schätzen können; denn unser Heimatland unser einzig schönes Schwyzerlandli [sic] ist doch bis heute unversehrt geblieben. Dankbar gedenken dessen in erster Linie die, deren grösste Freude es ist[,] all ihre freien Stunden dazu zu benützen, um die reichen Schätze an Schönheit[,] deren unsere Heimat so viel besitzt[,] zu suchen und zu geniessen.

Diese schönen Ruhestunden entrin[n]en meistens nur allzu schnell & so ist es auch heute wieder der Fall.  5 Uhr ist’s & es soll Abmarsch erfolgen. «Euser Mutz»[,] der diesen Tag unserm Kreise geopfert, gedenkt von Hier nach der Hütte zu geh[e]n[,] um Dort [sic] von den grandiosen Belästigungen der Bremen [Bremsen, blutsaugende Insekten], die ihm so manch netten Kraftausdruck entlockt[,] sich zu erholen. Von unserm heutigen Idyll wird Abschied genommen, wo wir uns während nicht weniger den 7 Std[.] aufhielten. Heimwärts zieht die fröhliche Schar, wo wir glücklich & wohlbehalten um 8½ Uhr anlangten.

Berg frei

R. Braunschweig

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 285/2.06.1-2 (Naturfreunde St.Gallen, Tourenberichte 02.07.1916-12.04.1920, Text und Beitragsbild; zusätzliche Absätze der leichteren Lesbarkeit wegen eingefügt)

Briefkopf des Hotels in Lyon

Samstag, 8. Juni 1918: Der Dienst will nicht enden

Der Militärdienst wollte kein Ende nehmen, Franz Beda Riklin konnte auch Anfang Juni noch nicht zu seiner Familie heimkehren (vgl. Beiträge zum 7. und zum 13. Mai 1918). Nach wie vor weilte er als Mitglied der Commission Franco-Suisse Pour l’Internement des Prisonniers de Guerre in Lyon. In mehreren kurzen Briefen hatte er seiner Frau berichtet, wie langweilig der Dienst und wie uninspirativ seine Kameraden seien. Ein überraschender Kurzbesuch seiner Frau eine gute Woche zuvor war eine mehr als willkommene Abwechslung gewesen.

Lyon, 8. Juni 1918.

Liebster Schatz! Ich weiss nicht, ob dieser Brief das Glück hat, Dich gleich zu erreichen. Mein Termin ist abgelaufen, aber der Nachfolger noch nicht da u. im übrigen die Grenze gesperrt. Gut, dass Du nicht dageblieben bist; ein Gefühl von möglichen Überraschungen hielt mich zurück, etwas Ausserordentliches zu unternehmen. Man hätte jetzt die allerärgsten Schwierigkeiten für Deine Rückkehr. Drei Collegen sind blo[c]kiert. Wir hoffen heute mit den offiziellen Nachrichten nach Bern das Nötige zu erreichen, dass auf diplomatischem Wege die Überschreitung der Grenze möglich gemacht wird. Also etwas Geduld. Es wird nicht lange gehen. Der letzte Zug kam von der Grenze mit französischem Personal. Heute Nacht kommt wieder einer, und wir hoffen, dass wahrscheinlich Oberst Bohny persönlich mit nach Lyon kommen kann, und dass wir ihm mündlich unsere dringenden Anliegen mitteilen können.

Ich habe reichlich genug von hier. Es beginnt ganz entsetzlich öde zu werden, u. fein war es nie.

Dein Besuch war der glänzende Punkt in der ganzen Unternehmung, u. ich habe eine unendliche Sehnsucht, Dich wiederzusehen, Dich zu lieben u. mit Dir zu leben. Ich bin hier meist müde u. schlafe unendlich viel.

Heute habe ich hier im Museum, trotz Hitze u. muffiger Luft, mit einigem Vergnügen eine Anzahl sehr schöner[,] moderner Franzosen zu sehen bekommen.

Addio, cara mia. Ich freue mich unendlich auf Dich und die Rosen. Grüsse die Kindlein herzlich. Grüsse auch Mutter, u. wer nach mir fragt. Ich sehne mich so sehr nach frischer Luft u. Grün, nach der heissen Stadt.

Wir waren kürzlich in Vienne. Heisse, schmutzige Stadt, mit einigen schönen römischen Bauten. Ich küsse u. umarme Dich herzlich u. danke für Deine letzten guten Nachrichten.

Es könnte nichts schaden, wenn Du beim Internierungsbureau, Schänzlistr. ca. 50, Bern, einmal telephonisch vorstellig würdest, u. sagen, dass man mich zuhause dringend benötigt.

Dein treuer

Franz.

Oberst Karl Bohny (1856-1928) war Chefarzt des Roten Kreuzes. Zusammen mit seiner Frau, Marie Bohny-Pertsch, leitete er die Organisation von Transportzügen für die Repatriierung von Gefangenen und Verletzten der verschiedenen Kriegsparteien, vgl. https://geschichte.redcross.ch/ereignisse/ereignis/die-repatriierung-verletzter-auslaendischer-soldaten.html

Riklin steckte in Lyon fest. Eigentlich hätte sein Einsatz nach sechs Wochen beendet sein sollen, und er wartete schon lange sehnlichst auf Ablösung. In einem wegen der Zensur französisch verfassten Brief vom 13. Juni 1918 berichtete er seiner Frau, dass sein Nachfolger, der am 10. Juni hätte eintreffen sollen, wegen der geschlossenen Grenzen nicht nach Frankreich einreisen könne. Ausserdem beklagte er sich über seinen Chef, Lt.Col. Breiter. Ihm mangle es an Initiative und Fähigkeit im Umgang mit einer solch speziellen Situation. Les chemins administratifs sont malheureusement un peu longues. Autrement je suis en bonne santé, mais très peu enchanté de la situation. Je ne retournerai jamais à Lyon sous pareilles circonstances. In einer zweiten, kurzen Notiz vom gleichen Tag heisst es, er habe endlich die Erlaubnis erhalten, in ein oder zwei Tagen die Grenze zu überschreiten. Dies scheint aber doch nicht geklappt zu haben, ist doch ein weiterer Brief vom 18. Juni 1918 erhalten: Me voilà encore à Lyon. J’attends le permis pour rentrer – depuis une semaine. J’espère que cette Autorisation arrivera enfin, à peu près demain ou après demain. Inutile de de raconter mes réflexions et les détails des démarches faites à ce sujet. Tu l’entendras après mon retour. Demande encore une fois à Berne. Nous [statt: Nos] moyens de communications [sic] sont très restraints. Je n’ai pas de tes nouvelles depuis 8 à 10 jours.

Offenbar hatte er die Erlaubnis schliesslich doch noch erhalten. Der nächste Brief der erhaltenen Ehekorrespondenz ist einen guten Monat später datiert mit: Küsnacht, 15.7.18. Dieses Schreiben «reiste» ins Toggenburg, wo seine Familie Sommerferien verbrachte. Riklin selber versuchte, wieder ein ziviles Leben zu führen, Patienten zu behandeln und zu Hause zum Rechten zu sehen. Für die psychiatrischen Dienste in Solothurn, deren Betrieb in diesen Tagen durch die Spanische Grippe stark eingeschränkt war, erstellte er wöchentlich Gutachten zu Patienten.  Daneben beanspruchte die Gemeinde Küsnacht, wie einem weiteren Brief vom 20. Juli 1918 zu entnehmen ist, seine Dienste bei der Lebensmittelinspektion und bei der damals so genannten Kostkinderkontrolle (Kontrolle von Kindern, die in Privatfamilien fremdplatziert waren).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin, Korrespondenz)

Naturfreunde

Sonntag, 2. Juni 1918 – Der sor-genbeladene Proletarier geniesst prächtige Fernsichten

Die Naturfreunde (und -freundinnen!) St.Gallen gingen wieder einmal auf Tour (vgl. frühere Beiträge zum 02.07.1916, 23.07.1916, 06.08.1916 und zum 27./28.05.1917). Hatte man in den Jahren zuvor anspruchsvolle Bergwanderungen im Alpstein und im Glarnerland unternommen, wanderte man nun auf bescheideneren Höhen kilometerweise und dadurch nicht weniger anstrengend durch das Appenzeller Vorderland.

St.Anton-Gebhardshöhe-Walzenhausen

Motto: Hinaus aus dem Hause, der Tag ist schön, / Hinaus auf die lieblichen, sonnigen Höhn! / Den Rucksack zur Stelle, den Bergstock zur Hand. / O herrliches Leben auf Bergeshöh’n, / Da wohnt der Friede, da ist es schön.

Was gibt es wohl Schöneres, als ein bis[s]chen Wandern im heimatlichen Hügelland, dazu noch im Frühling? Das ist ein Genuss, den sich auch der sorgenbeladene Proletarier leisten kann, denn noch sind Wanderlust und Lebensfreude nicht rationiert. Schon die blosse Aussicht der Teilnahme an einer Wanderfahrt lässt uns frohgestimmt sein und hebt uns hinaus über all den Alltagskram. – Die Sorgen hübsch zu Hause lassend, zieht man an einem milden Lenzmorgen hinaus in die blühende Natur. Mit oder ohne Ränzel und Wanderstab, Brot-, Fett-, Käse- und Landkarte in der Brusttasche wohl verwahrt, geht[‹]s früh morgens dem Appenzellerländli zu.

So war es auch am ersten Juni-Sonntag des vierten Kriegsjahres, als sich um halb 6 Uhr ein Häuflein wanderfroher Naturfreunde beim «Mühleck» [in St.Gallen-St.Georgen] zusammenfand. Das Wetter sah zwar nicht gerade einladend aus, graue Wolken zogen von einem leichten Nordost getrieben, am Himmel dahin. Unsere neun Touristen schienen jedoch in den Wettergott ein grosses Vertrauen zu haben, nur wenige hatten sich in vorsorglicher Weise die Pelerine umgeschnallt. Unter allerlei anregenden Gesprächen, Rede und Gegenrede tauschend, ging man munter durchs Philosophental und am Wenigerweier vorbei nach Vögelinsegg. In Speicher gab die Dorfmusik just ein Morgenkonzert; während wir ihren klangvollen Weisen lauschten, schlossen sich uns noch zwei Nachzügler an. Ohne Aufenthalt passierte [man] Trogen und nach kaum drei Stunden war das so hübsch gelegene Wald erreicht. Im Hof «Waldebene» ob dem Dorf war der Bauer gerade am Melken, bereitwillig überliess er den Hungernden von der köstlichen Milch. Allgemein wurde der Inhalt des Rucksackes einer Inspektion unterzogen und ein besonders Freigebiger regalierte [beschenkte] die Wandergenossinnen mit feiner Konfitüre.

Eine umfassende Rundsicht entzückt hier das Auge; vom waldumsäumten Kaien und heimeligen Rehetobel schweift der Blick bis weit ins Oberthurgau hinaus; Heiligkreuz, Rotmonten und der Tannenberg grüssen aus der Tiefe heraus. Im Westen liegen hinter den eben durchwanderten Orten die Erhebungen des Appenzeller Hinterlandes mit Sitz, Hundwilerhöhe und Kronberg. Die bewaldete Kuppe des Gäbris beschliesst die Rundsicht, links davon hängen die Regenwolken sehr tief. Vom Alpstein, der sich von hier aus prächtig ausnehmen dürfte, ist nichts zu sehen. Der kalte Wind vermochte unsere gute Stimmung nicht zu beeinflussen, mahnte aber doch zum Aufbruch[,] und über Bühl und «Tanne» pilgerte die Gesellschaft gemächlich nach St.Anton.

Bei der «Tanne» öffnet sich der Blick nach Osten, grüne Wiesen, waldreiche Hügel und freundliche «Heimeli» [kleine Heimstätten] bieten für das Auge angenehme Ruhepunkte. Um halb 10 Uhr kam die Gruppe auf St.Anton an. Rechts die ehrwürdige Kapelle, links ein behäbiges Gasthaus, dehnt sich unvermittelt das mittlere Rheintal mit dem staatlichen Flecken Altstätten unter uns aus. Wir sind auf dem östlichen Ausläufer des Alpsteins; gegen das Rheintal fallen die Hänge ziemlich steil ab, hin und wieder treten die nackten Nagelfluhfelsen zutage, während von Nordosten her das Gelände eine Hochebene bildet und gegen Wald und Kaien hin allmählich sich senkt. Um mit beschaulicher Ruhe die Aussicht geniessen und den Znüni einnehmen zu können, einigte man sich auf einen kleinen Halt; die einen wollten sich in der Wirtschaft gütlich tun, während die andern in der Nähe mitten auf einem Fussweg es sich bequem machten. Eine holde Fee im blauen Kleide verteilte brotkartenfreie Süssigkeiten, und fand damit allgemeines Lob. Die Fama will wissen, , es seien nun auf einmal drei Paare gewesen und der siebente im Bunde habe, in seiner Zurücksetzung, die Pfeife in Brand gesteckt und sich damit hinter seinen umfangreichen Rucksack verkrochen. Mehr kann ich nicht verraten!

Weil die Herbeischaffung der notwendigsten Lebensmittel heute die grösste Sorge ist, freute es uns besonders, zu sehen, wie in der weiten Rheinebene alles Land in sorgfältiger Weise bebaut wird. Von oben betrachtet, nehmen sich die ausgedehnten felder hinter Rebstein-Marbach und Altstätten wie ein einziger wohlgepflegter Garten aus. Das dunkle Grün der Mais- und Getreidepflanzungen wechselt mit den hellgelben, schon «geheuten» Wiesen, nebenan lassen sich «Schöchli» [Gras- oder Heuhaufen] und langgezogene Kartoffeläcker unterscheiden. Die rotbraunen Hausdächer verschwinden beinahe in dem sattgrünen Blätterdach der unzählichen Obstbäume. Möge die Mhüe der Landwirte durch einene reichen Ertrag belohnt werden, es kommt auch uns Städtern zugute, denn die Zufuhren an Nahrungsmitteln aus dem Auslande waren noch nie so unsicher wie gerade jetzt.

Bald nach 10 Uhr ward Oberegg erreicht, auf angenehmen Fusswegen durch Wiesen und Wald. Man muss es den Appenzellern lassen, sie verstehen es, ihren Ortschaften ein heimeliges, sauberes Aussehen zu geben. Von der Höhe schon bewunderten wir die reizvolle, geschützte Lage dieses Dorfes mit seinen vielen neuen Ziegeldächern. Die kleinen Häuschen inmitten hübscher Gärten machen einen wohnlichen Eindruck; hier stört kein lärmendes Getriebe die idyllische Ruhe. Die uns zur Verfügung stehende Zeit gestattete leider keinen Aufenthalt, es wurde direkt nach Blatten marschiert und durch dunkeln, geheimnisvoll träumenden Tannenwald nach Gerschwendi. Von allen Höhen zwischen Wald und Walzenhausen gefiel dem Berichterstatter diese am besten, die Rundsicht ist selten schön. Die Naturfreunde sind an diesem Punkt viel zu schnell vorbeigegangen, ein kurzer Halt hätte sich wohl gelohnt, die Ruhebänke am Waldessaum haben ja förmlich zum Verweilen eingeladen. Denn inzwischen hatte das Wetter mehr und mehr gebessert, lachender Sonnenschein begleitete die Wandernden.

Wieder trennte man sich in zwei Gruppen, die erstere fühlte sich durch die stolz im Winde flatternde weiss-rote Fahne unwillkürlich nach dem Restaurant Gebhardshöhe (892 Meter über Meer) hingezogen, die zweite zog eine Rast weiter unten am Waldrand vor, um in der eigenen Küche ein frugales Mahl zu bereiten. Auf der Terrasse der Sommerwirthschaft bietet sich eine prächtige Fernsicht: Von Fähnern und Hohen Kasten nach links folgen die bekannen Gipfel Falknis, Drei Schwestern, Scesaplana [Schesaplana], Zimbaspitze, Hoher Freschen, Staufen und weiterhin die Allgäuer Alpen. Unten die Ortschaften Dornbirn, Hohenems, Götzis und Rankweil. Im Vordergrund die ausgedehnte, vom Silberband des Rheins durchzogene Ebene, wo wir Lustenau, Heerbrugg, Diepoldsau, Schmitter, Altstätten, Oberriet usw. erkennen. Schnurgerade weisse Landstrassen verbinden die Dörfer untereinander und bringen wohltuende Abwechslung in das Landschaftsbild. Im Norden liegt der Bodensee vor dem Beschauer ausgebreitet. Von Bregenz schweift der Blick weit hinaus in schwäbische Gaue, um über das Schweizerufer nach Westen sich zu wenden, wo der Horizont durch waldige Höhen und einzelne Bauernhöfe abgeschlossen wird. Durch den Genuss einer solch weiten Rundschau wird die Anstrengung einiger Marschstunden reichlich aufgewogen. Aber auch für des Leibes Wohl ist gesorgt: wir wurden zu billigem Preise gut bedient, was hier ehrend erwähnt werden soll.

Beim Abstieg nach Walzenhausen ist leicht zu erkennen, dass hier ein rühriger Verkehrsverein an der Arbeit ist, die zahlreichen Waldwege und bequemen Ruhebänke sind gut unterhalten, die Wegweiser orientieren den Spaziergänger vortrefflich. Wo man sich auch befinden mag, überall gibt es herrliche Ausblicke. Am Hotel Rosenberg und prächtig gelegenen Friedhof vorbei sind wir bald auf dem Dorfplatz angelangt; nach einigem Zögern entschied sich die Gruppe dahin, bei der Strassenabzweigung nach Thal-Wolfhalden die Ankunft der zurückgebliebenen «Selbstversorger» abzuwarten. – Diese hatten beim Abkochen ein kleines Intermezzo. Freund Meyer offerierte von seiner Erbssuppe auch unserem jüngsten Mitglied Frl. Steinmann. Dabei ergoss sich das köstliche Eigenprodukt über ihr blaues Kleid. Dieses wurde kurz entschlossen an einem nahen Brunnen gewaschen[,] und bald waren alle Spuren des Missgeschickes verschwunden. Andere «Köche» befassten sich damit, die vom Baume fallenden Maikäfer vom Suppentopf fernzuhalten; sie wollten von dieser Würze, die eine Spassvogel ihnen zugedacht, absolut nichts wissen. Ueberhaupt ging es bei dieser Mahlzeit lustig und hoch her, von einer Einschränkung der Lebenshaltung war nichts zu bemerken!

In welchem Teil von Walzenhausen man sich auch aufhalten mag, überall überrascht das ausgedehnte Panorama. Der Bodensee aber wird – im Gegensatz zu früheren Zeiten – von keinem Schiffe belebt. Der einst rege Verkehr der Seeanwohner hat unter dem Einfluss des Krieges fast gänzlich aufgehört. –

Um 4 Uhr wurde der Weg nach Rorschach eingeschlagen. Bald ging es durch das windgeschützte, durch seinen Obstreichtum berühmte Dorf Thal. Am Buchberg rechts, mit seinem vielbesuchten Ausflugspunkt «Steinerner Tisch» am östlichen Ende, gedeiht der von Kennern gerühmte «Buchberger». Aber auch hier mussten die Rebberge zu einem schönen Teil dem heute so notwendigen und wohl nicht minder lohnenden Gemüsebau weichen. Beim Buchsteig, wo die Naturfreunde schon oft, das letzte Mal vor vier Wochen, bei ihrem altgewohnten Bluestbummel [sic] über den Fünfländerblick, Halt machten, gab[‹]s auch diesmal eine Rast. Der Rucksack wurde seines letzten Inhaltes beraubt und dann durch das idyllische Dörfchen Buchen und an der Kuranstalt Risegg vorbei dem See zu gepilgert. Der Weg ist heute von vielen Ausflüglern belebt, nicht minder die Hauptstrasse von Staad nach Rorschach, wo die zahlreichen Radler dem Spaziergänger den Staub um die Nase wirbeln. Zwei besonders Neugierige nahmen die im Entstehen begriffene moderne Seeparkanlage in Augenschein, welche wohl nicht wenige zur Hebung des Besuches unserer st.gallischen Hafenstadt beitragen wird. Schliesslich landeten die Naturfreunde alle wohlbehalten in der Volksküche zu Rorschach. Für das letzte Stück bis nach St.Gallen benützte ein Teil die Bahn, während die ganz Unentwegten auch diese Strecke noch unter die Füsse nahmen.

Wenn die zurückgelegte Tour auch ziemlich anstrengend war, hat sie dessenungeachtet durch ihre Abwechslung die Teilnehmer voll befriedigt. Ein schöner, genussreicher Tag liegt hinter uns, nach welchem man mit neuem Mute die Berufsarbeit wieder aufnimmt. Mögen den Naturfreunden noch viele ähnliche Sonnentage beschieden sein!

Berg frei!

Joh. Geuggis, Berichterstatter.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 285/2.06.1-2 (Naturfreunde St.Gallen, Tourenberichte 02.07.1916-12.04.1920, Text und Beitragsbild; zusätzliche Absätze der leichteren Lesbarkeit wegen eingefügt)