Auszug aus dem Tagebuch von Ernst Kind, später Rektor der Kantonsschule St.Gallen, über seine Offiziersausbildung im Sommer 1918:
31. Oktober 1918: Wenn ich auch in diesen Tagen von persönlich Erlebtem schreibe, wo doch Ereignisse in der Welt passieren, die den Wert des Einzelnen zerdrücken und uns tief ins Gemüt greifen, so kann ich das nur, weil mein Leben diesen Frühling, Sommer u. Herbst unter dem Eindruck dieser Zeit sich so abgespielt hat. Während dieser ganzen Zeit war ich immer Soldat. Am 13. März rückte ich hier in die Unteroffiziersschule ein, nach deren Abschluss wir gleich Gelegenheit hatten, unsere Fähigkeit als Vorgesetzte zu erweisen. Am 4. April begann diese Rekrutenschule, die ich als Korporal mitmachte, und am 8. Juni war sie zu Ende.
Meine Erfahrungen sind die: Als Vorgesetzter war ich etwas zu schwach, zu unentschlossen gegen meine Rekruten. Sie sind zwar im Ganzen rechte Soldaten geworden; aber ich glaube, ich brauche mehr Straffheit. Mit grosser Begeisterung und mit ein wenig ängstlicher Spannung rückte ich dann am 17. Juni (nach 9 Tagen Urlaub) zum Grenzdienst ein (mit ängstlicher Spannung in Erwartung der Mannschaft, die mir jungem Korporal zugeteilt würde, die schon 3 Jahre Grenzdienst erlebt haben u. zum grossen Teil viel älter als ich sein würden.) Die 3 Wochen Wachtdienst am Rhein bei Rheinfelden sind in meinem bisherigen militärischen Leben die uninteressantesten; man sass den ganzen Tag im Wachtlokal u. las, einzig unterbrochen durch die Wachtablösung alle 2 Stunden. Ein sichtbares Resultat hat dieser Grenzbewachungsdienst nicht gebracht, wir haben keine Schmuggler gefangen und hatten keine fremden Flieger.
Als dann die Ablösung kam, freuten wir uns auf einen richtigen Dienstbetrieb, wie wir uns den jetzt folgenden Juradienst vorstellten. Das Programm sah grössere Übungen auch mit kombinierten Waffen voraus. Da ist alles durch die zuerst im Juni aufgetretene Grippe zuschanden gemacht worden. Diese spanische Krankheit hat uns innert einer halben Woche mehr als die Hälfte des Bestandes niedergeworfen. In meinem Zug erkrankten sämtliche Unteroffiziere ausser mir in den ersten Tagen. Ein Zugführer war nicht zur Stelle, da unser Leutnant ebenfalls krank war, unser Zug aber von der Komp. getrennt allein in einem Bauernhof 5 Minuten von der Grenze entfernt lag. (In Steinboden, nahe der Lützel, 1 Stunde nördlich Pleigne.) So sah ich mich auf einmal gleichzeitig als Zugführer, Führer Rechts und als einfacher Korporal, wozu dann noch das Amt der Krankenpflege trat. Von Ausrücken zum Felddienst war damals keine Rede mehr, hatten wir doch nur noch 17 oder 18 Mann im Zug, die aufrecht waren, und die brauchten wir gerade zur Pflege der andern Hälfte, umsomehr, als wir das Essen bei der Komp. 20 Minuten weiter oben, immer für die Kranken holen und heruntertragen mussten. Da war es kein Wunder, dass ich schliesslich auch angesteckt wurde und dann 3 Tage inmitten meiner Soldaten krank im Stroh lag. Dann war das Fieber vorbei und nach weitern 2 Tagen, währenddessen wir noch den nötig gewordenen Umzug zur Komp[.] mit Gesunden, Kranken u. allem Material bewerkstelligten, reiste ich nach Zürich für 7 Tage Erholungsurlaub. Das konnten damals alle Gripperekonvaleszenten tun, u. unsere Komp. hat damals etwa 80 Mann auf diese Art in der ganzen Schweiz zerstreut gehabt. Ich verbrachte diese Zeit in St.Gallen, wohin Mama mit Silvia gereist war. (Doris war in Arosa.)
Dann rückte ich wieder bei der Einheit ein und traf auf überaus traurige Zustände. Die Komp. war zum Bat. nach Pleigne disloziert worden, da Pleigne infolge grossen Abganges leer geworden war. Ich fand die Komp., was an Gesunden noch da war, auf etwa 20 Mann zusammengeschrumpft, alle im gleichen Kantonnement; auch mir blieb kein anderer Ort zum Schlafen übrig. Ich habe die 4 Tage bis zu meiner zweiten Abreise ausgefüllt, in dem [sic] ich das schauderhaft aussehende Magazin der Kp. suchte in Ordnung zu bringen, ein ekliges Geschäft, da über 100 alte Exerzierkleider von Grippekranken herumlagen, deren Besitzer mi Krankenzimmer waren. Ich musste es unter den allgemeinen so niederdrückenden Zuständen, wie sie bei meiner Truppe waren, als wahre Erlösung empfinden, am 28. Juli wieder aus dieser denkwürdigen Grenzbesetzung zurückkehren zu können; die Grippe hatte nicht nur unser ganzes Programm über den Haufen geworfen, sondern die Stimmung überall so bedrückt gemacht, dass es traurig war, dies mitanzusehen.
Etwa 2 Wochen lang waren fortwährend 10-12 Mann der Kp. unterwegs, um beinahe jeden Tag einen andern toten Kameraden aus dem Spital in Delsberg oder andernorts zum Bauernhof zu begleiten, damit er in seiner Heimat begraben werde. Unsere Kp. hat 7 Tote verloren, das Bataillon ungefähr 24. Was aber an bleibenden Nachteilen für die Wiedergenesenen vorhanden ist, das kann man gar nicht ausrechnen; fast jeder hat eine längere Zeit nachher noch mit dem Herz zu tun. –
Ich bin also am 30. Juli in Zürich in die Offiziersschule eingerückt, von der Grippe ordentlich geheilt und darauf gefasst, einen strengen Dienst vor mir zu haben. Er ist streng gewesen, doch scheint es, dass man etwas Rücksicht auf die Grippe genommen hat und sich ängstlich in Acht nahm, sie von dieser Schule fernzuhalten. Bis in die zweitletzte Woche konnten wir so durchhalten, während sämtliche Schulen anderer Divisionen aufgelöst werden mussten. Dann, in Stans, hatten wir plötzlich soviele Fälle, dass eine um 8 Tage zu frühe Entlassung nötig wurde. Immerhin gilt die Schule für beendet[,] und ich bin froh, meine Offiziersausbildung hinter mir zu haben. Ende des Jahres wird jetzt die Ernennung zum Offizier erfolgen; damit ist mein diesjähriger Dienst zu Ende geführt.
Ich habe wenigstens für die viele geopferte Zeit ein gewisses Ziel erreicht. Seit dem 18. Oktober trage ich wieder Zivil u. freue mich meiner Ungebundenheit vor dem Publikum. Mein Standpunkt als Offizier ist nicht ganz der, zu dem man uns erzogen hat. Ich verachte die Auswüchse des übertriebenen Ehrgefühls, ebenso auch die, welche leider bei jeder gemütlichen Zusammenkunft sich zeigen. Es gehört nun einmal absolut nicht zu einem Offizier, dass er einen Rausch gehabt haben muss. Das Ideal, das da immer zur Entschuldigung vorgebracht wird[,] nämlich die Erziehung zur Selbstbeherrschung durch den Trinkzwang, ist Blödsinn. Denn tatsächlich habe ich keinen unter unseren Offizieren u. Aspiranten gesehen, der sich noch beherrscht hätte, wenn er voll war; sondern alle haben das jämmerliche Bild eines betrunkenen Menschen gegeben, der sich im Offizierskleid solcher Schande aussetzt. Wir besitzen überdies genügend Mittel, um unsere Selbstbeherrschung zu üben u. zu erproben.
Ferner betrachte ich den Krieg nicht als etwas, worüber sich der Offizier freuen soll, denn wenn er sich über den Krieg an sich freut, so freut er sich eben über das Morden, und vielfach ist auch eigentlich das der Grund der Freude. Der rechte Offizier nach meiner Überzeugung freut sich im Kriege rein nur darüber, dass er sein Vaterland schützen darf, u. dass er hier allein Gelegenheit findet, im Ernst seinen Charakter und seine Mannheit zu zeigen. Aber wie darf er das innerste menschliche Gefühl aus der Seele bannen, dass da etwas Furchtbares geschieht, etwas Hirnwütiges, das eigentlich für das Menschengeschlecht eine Schande ist. –
Ich glaube, immerhin, meine Qualifikation in dieser Schule ist richtig: Ich soll etwas mehr aus mir herausgehen, die eigene Schüchternheit überwinden, mehr Selbstvertrauen haben. Das sind meine richtig erkannten Fehler. Ich bin noch zu schwächlich, erkenne eigentlich in mir immer noch sehr viel ganz Kindliches, nicht Männliches. Meine Erscheinung ist auf alle Fälle nicht die eines Offiziers, als mein Blick nicht scharf ist. Was aus meinen Augen spricht, ist nicht Entschlossenheit, sondern eher Schwachheit, – wenn ich mich zusammennehme, so sieht es wieder wie Bitterkeit u. Ärger aus. Ich sehe soviel mir auffällt, nicht jünger als meine Kameraden aus; aber der Mann schaut mir noch nicht aus den Augen. –
Was mich eigentlich jetzt unendlich mehr bewegt, die ungeheuren Ereignisse ringsum, davon zu schreiben brauche ich mehr Zeit. Die Lage ist zudem so unsicher, dass in einer Woche alles noch ganz anders aussehen kann. Unendlich traurig ist, was sich gegenwärtig ereignet. Die Lüge feiert gerade jetzt ihre grössten Triumphe, denn der sehnsüchtige Glaube an einen Rechtsfrieden ist zerschlagen, vorerst hat der Krieg entschieden und bleibt ungestraft. Die Anarchie wälzt sich von Russland her immer näher u. hat bereits ganz Österreich in ein wüstes Chaos zerrissen, und bei uns klopft sie nicht mehr bloss an die Tür, sondern steht bereits zur Hälfte im Land. Doch davon will ich bei besserer Gelegenheit schreiben.
Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Eintrag vom 31.10.2018) und W 132/2-334 (Beitragsbild zur Grenzbesetzung: Unteroffiziersposten der Geb. Sch. Kp. III/8. Kp. am Grenzacher Hörnli, Februar/März 1918)