Fieberkurve

Montag, 1. Juli 1918 – Spanische Grippe in St.Gallen

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost. Im Juli hielt sie fest:

Die Folgen des Krieges machen sich immer mehr fühlbar. Eine furchtbare Krankheitsepidemie, die sog. Spanische Grippe, ist ausgebrochen & fordert unzählige Opfer. Die Krankheit ist sehr ansteckend & da mit hohen Fiebern verbunden, auch gefährlich. St.Gallen ist bis jetzt noch ziemlich gut dran. Im Bureau haben wir erst 2 Fälle gehabt, die sich wieder bald erholten. Dennoch sind alle Volksversammlungen, wie Theater, Kinos, Konzerte, Kirche, ja sogar die 1. August-Feier verboten. Da die Kaserne so viele Kranke hat, ist auch die Rekrutenschule bis auf Weiteres aufgehoben. Die Schüler bekamen Ferien. – Am Schlimmsten wütet es in der Westschweiz, sowie in Zürich & Bern, wo es über 20‘000 Kranke hat. Man musste den Postdienst & Eisenbahnverkehr einschränken & Telephongespräche, die mehr wie 3 Zentralen in Anspruch nehmen, werden auch verweigert. – Da die Bazillen hauptsächlich in den Schleimhäuten von Nase & Rachen hausen, so empfiehlt man viel Gurgeln mit Salbei Wermutthee & auch davon trinken zum desinfizieren von Hals, Magen & Gedärmen. –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917 und 20. April 1918.

Der Psychiater Franz Beda Riklin, der vom August bis Oktober 1918 als Kommandant der Etappen-Sanitäts-Anstalt Solothurn amtierte und dort für hunderte von erkrankten Soldaten zuständig war, beschrieb seine eigenen Präventionsmassnahmen gegen die Grippe in einem Brief vom 25. Juli 1918 an seine Ehefrau in ähnlicher Weise: Zudem bin ich sehr vorsichtig, gurgle, schnupfe Flüssigkeiten, wasche die Hände, meide die Menschen u. die Menge – was will man mehr? Ich lebe auch absolut geregelt, überanstrenge mich gar nicht. Überdies glaube ich, nachdem ich die Sache in Lyon überstanden habe, nicht nochmals ausgesetzt zu sein.

Zu Riklin sind ebenfalls etliche Beiträge erschienen, u.a. über seine Zeit in Lyon am 7. und 13. Mai 1918 sowie am 8 Juni 1918.

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser) und Staatsarchiv St.Gallen, A 553/1.6 (Bildtafel aus: Langstein, Leo und Rott, Fritz: Atlas der Hygiene des Säuglings und Kleinkindes, 1918-1922) sowie W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin)

Kronbergtour, Spiel

Sonntag, 23. Juni 1918 – Damen-tour auf den Kronberg

Der Schweizer Alpenclub SAC war lange Zeit eine reine Männerangelegenheit. Seit 1918 gab es zwar den Schweizerischen Frauenalpenclub, eine Fusion der beiden Gruppierungen fand jedoch erst 1980 nach intensiven Diskussionen statt. (vgl. u.a. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16457.php)

 

 

 

 

 

 

 

 

Der SAC St.Gallen führte für die Ehefrauen und Töchter der Clubmitglieder unter dem Titel «Damentour» jährlich eine leichtere Bergtour durch. Am Sonntag, 9.  Juni 1918, war man gemeinsam auf den Kronberg gewandert. Am Mittag hatte die Gruppe auf offenem Feuer gekocht (der den Männern aus dem Militär bekannte «eidgenössische Spatz»), danach getanzt und musiziert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Staatsarchiv St.Gallen ist momentan dabei, das Archiv des SAC St.Gallen aufzuarbeiten. Dabei sind auch Glasdiapositive zum Vorschein gekommen, welche die Tour dokumentieren. Im Gegensatz zu den digitalen Bildern von heute, die auf Knopfdruck sichtbar sind, mussten Negative früher erst entwickelt werden. Deshalb wird dieser Beitrag erst vierzehn Tage nach dem eigentlichen Ereignisdatum publiziert.

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 312/11.2.22.013 bis W 312/11.2.22.029 (Bestand SAC St.Gallen, Bilder der Damentour auf den Kronberg)

 

 

 

Naturfreunde

Sonntag, 9. Juni 1918 – Koch-touristen statt Hochtouristen: Dreigangmenu auf der Hundwilerhöhe

Noch ein Tourenbericht der Naturfreunde St.Gallen, diesmal mit falscher Datierung. Geht man davon aus, dass die Tour wie beschrieben am Sonntag stattfand, müsste sie auf den 9. Juni datiert sein, nicht auf den 7. Juni:

Bummel-Tour nach Hundwilerhöhe 7/6.1918

Um den Hochtouristen, al [?] pardon Kochtouristen Gelegenheit zu geben[,] sich wieder mal tüchtig in ihrem Fache zu produzieren[,] hatte sich eine kleine Schar entschliessen können, Sonntag den 7. Juni nach der Hundwilerhöhe zu pilgern. Ein schöner Tag soll uns beschieden sein. Dieser Gedanke entlockte uns gleich morgens in der Früh feine [?] Musik[,] ich glaube[,] sie wurde vom löblichen Präsidium der Hütten-Verwaltung Stadtmusik Lustmühle getauft; die es verstand, uns glückliche Menschenkinder mit letztem Humor auszuwappnen. Nun geh[‹]s im strammen Tempo den Ihnen [sic] allen gut bekannten Weg der Schwanenbrück entgegen, der hinauf führt in’s so ruhig & nett gelegene Dörfchen Stein. Wie so schmuck & einladende sind all die Häuschen der Dorfstrasse. Ist dies doch der grosse Stolz des Appenzeller-Völkleins; ein schmuckes Heim Ihr [sic] Eigen nennen zu dürfen.

Von hier wählten wir den Weg, der uns führen sollte nach Sonnenthal & dann hinauf in die Höhe. Da welch Überraschung wiederum Musik lässt sich hören, die Leute scheinen uns St.Galler wirklich gut gesinnt zu sein, dass Sie [sic] uns fortan mit Musik empfangen. Ein Blick nach dem «Ani» & der verrät wie so furchtbar gerne es jetzt einen feschen Walzer schwingen möchte. Als Neuling noch so furchtbar schüchtern, wagt es natürlich diesen Wunsch nicht zu aussern [äussern] & so muss Sie [sic] denn von niemand bedauert, schweren Herzens von Dannen [sic] ziehn? Daüfr ist Sie aber später reichlich entschädigt worden, denn eines unserer verehrten Mitglieder[,] der sich bei dieser Tour als Spinner entpuppt oder noch besser als Schwindler, pardon Buchdrucker ist er ja[,] der nimmt sich in recht liebenswürdiger Weise der Ani an.

Nach gut 2stündigem Marsche soll uns ein gutes Gabelfrühstück beschieden sein. Kuhwarme Milch ruft die Kleine. Nicht lange währt & eine Kanne Milch steht zur Verfügung. Herrschaft[,] wie das fein schmeckt! Dem Hans & Konsorten ist’s natürlich nicht so gut ergangen, sie mussten sich mit «Gäs[«]-Milch [Ziegenmilch] begnügen. Geschmeckt hat[‹]s Ihnen [sic] doch wie Sie behaupteten. Nun «möge man’s wieder verlide» heisst’s. Noch den einen letzten, aber grossen Stich & die Hundwilerhöhe ist erreicht. Nun haben wir unser schönes Alpstein [sic] vor uns in all seiner Pracht. Wenn auch die Aussicht nicht so war wie auch schon[,] so hat der Anblick desselben den Zweck nicht verfehlt, schöne Erinnerungen wachzurufen. Pläne werden geschmiedet, so wunderschöne[,] wie manch einer wird wohl in Erfüllung geh[e]n.

in herrliches Plätzchen wird nun ausgesucht, das uns ermöglicht, während Stunden eines richtigen[,] wie der Italiener sagt: [«]Dolce far niente» zu erfreu[e]n[;] unter einer wunderschönen Tanne wird Zuflucht genommen. Schnell die Schuhe & Strümpfe ausgezogen & der Spitzbueb[,] von gewisser Person so tituliert[,] präsentiert sich in seiner ganzen Grösse. Wie anfangs richtig bemerkt[,] hatten wir heute in Augenschein genommen[,] uns nicht in Hochtouristik zu üben[,] sondern in was viel Praktischerem[.] «Kochtouristen»[,] diesen 2 Worten wollten wir heute mal alle Ehre machen & so müssen denn die verehrten Zuhörer mir wohl gestatten, dass ich jenes Mittagsmahl[,] fabriziert von einigen strammen Junggesellen St.Gallen’s ein bis[s]chen kritisiere. Elf Uhr ist’s[,] Freund Weber und Geuggis wissen nichts gescheiteres [sic] zu tun als schon jetzt Vorbereitungen für d’table D’haute [eigentlich «table d’hôte», hier vielleicht gemeint: «Tafel auf der Höhe»] zu treffen, damit sie ja sicher bis 3 Uhr fertig werden. «Eh, Herdöpfel-Rösti soll’s z’erst geh»[,] ruft der Eine. Richtig[,] Sie [sic] gehn [sic] mit Ernst hinter ihr Tagwerk. Sie verstehn’s nicht schlecht, dass muss man gestehtn & können in dieser Hinsicht der jungen Damen-Welt nur bestens als praktischer Ratgeber empfohlen werden. Nicht lange währt, die Kartoffeln sind zum Rösten bereit. Nun kann’s los gehn [sic] bemerkte eine Stimme, nicht so viel Zwiebeln[,] schreit eine Andere, zu viel Salz[,] ergänzt die Dritte. Kommandieren können die Drei[,] s’ist ne wahre Freud[,] wird sich geäussert. Der Hans[,] der denkt[,] wer zuletzt lacht, lacht am besten. Es ist auch richtig so gekommen, den[n] eine Herdöpfel-Rösti[«] haben sie aufgetischt, eine feinere hätt man sich nicht wünschen können. Da haben die drei Mädels hübsch artig geschwiegen & mit Erlaubnis beim Verzehren derselben tatkräftig unterstützt. Nun folgt jene berühmte Suppe[,] bei der die Gemütlichkeit den Höhe-Punkt erreichte. Die Zubereitung derselben hat einem jeden ein Lächeln entlockt, unvergesslich bleibt jener Anblick, wie gefühlvoll unser Koch es verstand[,] seine Wurst im Kochtopf verschwinden zu lassen. Na Prost[,] diese Brühe[,] guten Appetit dazu[,] wird gerufen! Wer nun geglaubt[,] dass diese misslungen, der hattë[ sich geirrt. Fein ist sie gewesen & hat dem Koch alle Ehre gemacht[.] Schwarzer Kaffee & Kuchen bilden den Schluss unseres Mittagsmahl[s]; dass [sic] uns mords Spass [sic] bereitete.

Unserer [sic] Führer oder Beschützer[,] wie man sie nennen will[,] sollen sich dermassen am Essen gütlich getan haben, dass Sie [sic] sich genötigt sehn[,] sich mit Bock-Springen zu betätigen. Unserer Bummel-Tour gemäss beginnt nun ein so recht gemütliches Lagerleben. Welch herrlich, freies Gefühl beschleicht da den Wanderer hier oben. Weg von dem Hasten des täglichen Lebens, Ruhe & Frieden während Stunden geniessen zu können[,] das ist ja[,] was uns so mächtig hinaus zieht, hinaus in’s Freie, in Gottes schöne Natur. Wer seine richtige Freude daran empfindet[,] der muss auch gestehn; dass trotz den bitter bösen Zeiten[,] in der [sic] wir uns befinden[,] wir uns doch glückliche Menschen schätzen können; denn unser Heimatland unser einzig schönes Schwyzerlandli [sic] ist doch bis heute unversehrt geblieben. Dankbar gedenken dessen in erster Linie die, deren grösste Freude es ist[,] all ihre freien Stunden dazu zu benützen, um die reichen Schätze an Schönheit[,] deren unsere Heimat so viel besitzt[,] zu suchen und zu geniessen.

Diese schönen Ruhestunden entrin[n]en meistens nur allzu schnell & so ist es auch heute wieder der Fall.  5 Uhr ist’s & es soll Abmarsch erfolgen. «Euser Mutz»[,] der diesen Tag unserm Kreise geopfert, gedenkt von Hier nach der Hütte zu geh[e]n[,] um Dort [sic] von den grandiosen Belästigungen der Bremen [Bremsen, blutsaugende Insekten], die ihm so manch netten Kraftausdruck entlockt[,] sich zu erholen. Von unserm heutigen Idyll wird Abschied genommen, wo wir uns während nicht weniger den 7 Std[.] aufhielten. Heimwärts zieht die fröhliche Schar, wo wir glücklich & wohlbehalten um 8½ Uhr anlangten.

Berg frei

R. Braunschweig

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 285/2.06.1-2 (Naturfreunde St.Gallen, Tourenberichte 02.07.1916-12.04.1920, Text und Beitragsbild; zusätzliche Absätze der leichteren Lesbarkeit wegen eingefügt)

Briefkopf des Hotels in Lyon

Samstag, 8. Juni 1918: Der Dienst will nicht enden

Der Militärdienst wollte kein Ende nehmen, Franz Beda Riklin konnte auch Anfang Juni noch nicht zu seiner Familie heimkehren (vgl. Beiträge zum 7. und zum 13. Mai 1918). Nach wie vor weilte er als Mitglied der Commission Franco-Suisse Pour l’Internement des Prisonniers de Guerre in Lyon. In mehreren kurzen Briefen hatte er seiner Frau berichtet, wie langweilig der Dienst und wie uninspirativ seine Kameraden seien. Ein überraschender Kurzbesuch seiner Frau eine gute Woche zuvor war eine mehr als willkommene Abwechslung gewesen.

Lyon, 8. Juni 1918.

Liebster Schatz! Ich weiss nicht, ob dieser Brief das Glück hat, Dich gleich zu erreichen. Mein Termin ist abgelaufen, aber der Nachfolger noch nicht da u. im übrigen die Grenze gesperrt. Gut, dass Du nicht dageblieben bist; ein Gefühl von möglichen Überraschungen hielt mich zurück, etwas Ausserordentliches zu unternehmen. Man hätte jetzt die allerärgsten Schwierigkeiten für Deine Rückkehr. Drei Collegen sind blo[c]kiert. Wir hoffen heute mit den offiziellen Nachrichten nach Bern das Nötige zu erreichen, dass auf diplomatischem Wege die Überschreitung der Grenze möglich gemacht wird. Also etwas Geduld. Es wird nicht lange gehen. Der letzte Zug kam von der Grenze mit französischem Personal. Heute Nacht kommt wieder einer, und wir hoffen, dass wahrscheinlich Oberst Bohny persönlich mit nach Lyon kommen kann, und dass wir ihm mündlich unsere dringenden Anliegen mitteilen können.

Ich habe reichlich genug von hier. Es beginnt ganz entsetzlich öde zu werden, u. fein war es nie.

Dein Besuch war der glänzende Punkt in der ganzen Unternehmung, u. ich habe eine unendliche Sehnsucht, Dich wiederzusehen, Dich zu lieben u. mit Dir zu leben. Ich bin hier meist müde u. schlafe unendlich viel.

Heute habe ich hier im Museum, trotz Hitze u. muffiger Luft, mit einigem Vergnügen eine Anzahl sehr schöner[,] moderner Franzosen zu sehen bekommen.

Addio, cara mia. Ich freue mich unendlich auf Dich und die Rosen. Grüsse die Kindlein herzlich. Grüsse auch Mutter, u. wer nach mir fragt. Ich sehne mich so sehr nach frischer Luft u. Grün, nach der heissen Stadt.

Wir waren kürzlich in Vienne. Heisse, schmutzige Stadt, mit einigen schönen römischen Bauten. Ich küsse u. umarme Dich herzlich u. danke für Deine letzten guten Nachrichten.

Es könnte nichts schaden, wenn Du beim Internierungsbureau, Schänzlistr. ca. 50, Bern, einmal telephonisch vorstellig würdest, u. sagen, dass man mich zuhause dringend benötigt.

Dein treuer

Franz.

Oberst Karl Bohny (1856-1928) war Chefarzt des Roten Kreuzes. Zusammen mit seiner Frau, Marie Bohny-Pertsch, leitete er die Organisation von Transportzügen für die Repatriierung von Gefangenen und Verletzten der verschiedenen Kriegsparteien, vgl. https://geschichte.redcross.ch/ereignisse/ereignis/die-repatriierung-verletzter-auslaendischer-soldaten.html

Riklin steckte in Lyon fest. Eigentlich hätte sein Einsatz nach sechs Wochen beendet sein sollen, und er wartete schon lange sehnlichst auf Ablösung. In einem wegen der Zensur französisch verfassten Brief vom 13. Juni 1918 berichtete er seiner Frau, dass sein Nachfolger, der am 10. Juni hätte eintreffen sollen, wegen der geschlossenen Grenzen nicht nach Frankreich einreisen könne. Ausserdem beklagte er sich über seinen Chef, Lt.Col. Breiter. Ihm mangle es an Initiative und Fähigkeit im Umgang mit einer solch speziellen Situation. Les chemins administratifs sont malheureusement un peu longues. Autrement je suis en bonne santé, mais très peu enchanté de la situation. Je ne retournerai jamais à Lyon sous pareilles circonstances. In einer zweiten, kurzen Notiz vom gleichen Tag heisst es, er habe endlich die Erlaubnis erhalten, in ein oder zwei Tagen die Grenze zu überschreiten. Dies scheint aber doch nicht geklappt zu haben, ist doch ein weiterer Brief vom 18. Juni 1918 erhalten: Me voilà encore à Lyon. J’attends le permis pour rentrer – depuis une semaine. J’espère que cette Autorisation arrivera enfin, à peu près demain ou après demain. Inutile de de raconter mes réflexions et les détails des démarches faites à ce sujet. Tu l’entendras après mon retour. Demande encore une fois à Berne. Nous [statt: Nos] moyens de communications [sic] sont très restraints. Je n’ai pas de tes nouvelles depuis 8 à 10 jours.

Offenbar hatte er die Erlaubnis schliesslich doch noch erhalten. Der nächste Brief der erhaltenen Ehekorrespondenz ist einen guten Monat später datiert mit: Küsnacht, 15.7.18. Dieses Schreiben «reiste» ins Toggenburg, wo seine Familie Sommerferien verbrachte. Riklin selber versuchte, wieder ein ziviles Leben zu führen, Patienten zu behandeln und zu Hause zum Rechten zu sehen. Für die psychiatrischen Dienste in Solothurn, deren Betrieb in diesen Tagen durch die Spanische Grippe stark eingeschränkt war, erstellte er wöchentlich Gutachten zu Patienten.  Daneben beanspruchte die Gemeinde Küsnacht, wie einem weiteren Brief vom 20. Juli 1918 zu entnehmen ist, seine Dienste bei der Lebensmittelinspektion und bei der damals so genannten Kostkinderkontrolle (Kontrolle von Kindern, die in Privatfamilien fremdplatziert waren).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin, Korrespondenz)

Naturfreunde

Sonntag, 2. Juni 1918 – Der sor-genbeladene Proletarier geniesst prächtige Fernsichten

Die Naturfreunde (und -freundinnen!) St.Gallen gingen wieder einmal auf Tour (vgl. frühere Beiträge zum 02.07.1916, 23.07.1916, 06.08.1916 und zum 27./28.05.1917). Hatte man in den Jahren zuvor anspruchsvolle Bergwanderungen im Alpstein und im Glarnerland unternommen, wanderte man nun auf bescheideneren Höhen kilometerweise und dadurch nicht weniger anstrengend durch das Appenzeller Vorderland.

St.Anton-Gebhardshöhe-Walzenhausen

Motto: Hinaus aus dem Hause, der Tag ist schön, / Hinaus auf die lieblichen, sonnigen Höhn! / Den Rucksack zur Stelle, den Bergstock zur Hand. / O herrliches Leben auf Bergeshöh’n, / Da wohnt der Friede, da ist es schön.

Was gibt es wohl Schöneres, als ein bis[s]chen Wandern im heimatlichen Hügelland, dazu noch im Frühling? Das ist ein Genuss, den sich auch der sorgenbeladene Proletarier leisten kann, denn noch sind Wanderlust und Lebensfreude nicht rationiert. Schon die blosse Aussicht der Teilnahme an einer Wanderfahrt lässt uns frohgestimmt sein und hebt uns hinaus über all den Alltagskram. – Die Sorgen hübsch zu Hause lassend, zieht man an einem milden Lenzmorgen hinaus in die blühende Natur. Mit oder ohne Ränzel und Wanderstab, Brot-, Fett-, Käse- und Landkarte in der Brusttasche wohl verwahrt, geht[‹]s früh morgens dem Appenzellerländli zu.

So war es auch am ersten Juni-Sonntag des vierten Kriegsjahres, als sich um halb 6 Uhr ein Häuflein wanderfroher Naturfreunde beim «Mühleck» [in St.Gallen-St.Georgen] zusammenfand. Das Wetter sah zwar nicht gerade einladend aus, graue Wolken zogen von einem leichten Nordost getrieben, am Himmel dahin. Unsere neun Touristen schienen jedoch in den Wettergott ein grosses Vertrauen zu haben, nur wenige hatten sich in vorsorglicher Weise die Pelerine umgeschnallt. Unter allerlei anregenden Gesprächen, Rede und Gegenrede tauschend, ging man munter durchs Philosophental und am Wenigerweier vorbei nach Vögelinsegg. In Speicher gab die Dorfmusik just ein Morgenkonzert; während wir ihren klangvollen Weisen lauschten, schlossen sich uns noch zwei Nachzügler an. Ohne Aufenthalt passierte [man] Trogen und nach kaum drei Stunden war das so hübsch gelegene Wald erreicht. Im Hof «Waldebene» ob dem Dorf war der Bauer gerade am Melken, bereitwillig überliess er den Hungernden von der köstlichen Milch. Allgemein wurde der Inhalt des Rucksackes einer Inspektion unterzogen und ein besonders Freigebiger regalierte [beschenkte] die Wandergenossinnen mit feiner Konfitüre.

Eine umfassende Rundsicht entzückt hier das Auge; vom waldumsäumten Kaien und heimeligen Rehetobel schweift der Blick bis weit ins Oberthurgau hinaus; Heiligkreuz, Rotmonten und der Tannenberg grüssen aus der Tiefe heraus. Im Westen liegen hinter den eben durchwanderten Orten die Erhebungen des Appenzeller Hinterlandes mit Sitz, Hundwilerhöhe und Kronberg. Die bewaldete Kuppe des Gäbris beschliesst die Rundsicht, links davon hängen die Regenwolken sehr tief. Vom Alpstein, der sich von hier aus prächtig ausnehmen dürfte, ist nichts zu sehen. Der kalte Wind vermochte unsere gute Stimmung nicht zu beeinflussen, mahnte aber doch zum Aufbruch[,] und über Bühl und «Tanne» pilgerte die Gesellschaft gemächlich nach St.Anton.

Bei der «Tanne» öffnet sich der Blick nach Osten, grüne Wiesen, waldreiche Hügel und freundliche «Heimeli» [kleine Heimstätten] bieten für das Auge angenehme Ruhepunkte. Um halb 10 Uhr kam die Gruppe auf St.Anton an. Rechts die ehrwürdige Kapelle, links ein behäbiges Gasthaus, dehnt sich unvermittelt das mittlere Rheintal mit dem staatlichen Flecken Altstätten unter uns aus. Wir sind auf dem östlichen Ausläufer des Alpsteins; gegen das Rheintal fallen die Hänge ziemlich steil ab, hin und wieder treten die nackten Nagelfluhfelsen zutage, während von Nordosten her das Gelände eine Hochebene bildet und gegen Wald und Kaien hin allmählich sich senkt. Um mit beschaulicher Ruhe die Aussicht geniessen und den Znüni einnehmen zu können, einigte man sich auf einen kleinen Halt; die einen wollten sich in der Wirtschaft gütlich tun, während die andern in der Nähe mitten auf einem Fussweg es sich bequem machten. Eine holde Fee im blauen Kleide verteilte brotkartenfreie Süssigkeiten, und fand damit allgemeines Lob. Die Fama will wissen, , es seien nun auf einmal drei Paare gewesen und der siebente im Bunde habe, in seiner Zurücksetzung, die Pfeife in Brand gesteckt und sich damit hinter seinen umfangreichen Rucksack verkrochen. Mehr kann ich nicht verraten!

Weil die Herbeischaffung der notwendigsten Lebensmittel heute die grösste Sorge ist, freute es uns besonders, zu sehen, wie in der weiten Rheinebene alles Land in sorgfältiger Weise bebaut wird. Von oben betrachtet, nehmen sich die ausgedehnten felder hinter Rebstein-Marbach und Altstätten wie ein einziger wohlgepflegter Garten aus. Das dunkle Grün der Mais- und Getreidepflanzungen wechselt mit den hellgelben, schon «geheuten» Wiesen, nebenan lassen sich «Schöchli» [Gras- oder Heuhaufen] und langgezogene Kartoffeläcker unterscheiden. Die rotbraunen Hausdächer verschwinden beinahe in dem sattgrünen Blätterdach der unzählichen Obstbäume. Möge die Mhüe der Landwirte durch einene reichen Ertrag belohnt werden, es kommt auch uns Städtern zugute, denn die Zufuhren an Nahrungsmitteln aus dem Auslande waren noch nie so unsicher wie gerade jetzt.

Bald nach 10 Uhr ward Oberegg erreicht, auf angenehmen Fusswegen durch Wiesen und Wald. Man muss es den Appenzellern lassen, sie verstehen es, ihren Ortschaften ein heimeliges, sauberes Aussehen zu geben. Von der Höhe schon bewunderten wir die reizvolle, geschützte Lage dieses Dorfes mit seinen vielen neuen Ziegeldächern. Die kleinen Häuschen inmitten hübscher Gärten machen einen wohnlichen Eindruck; hier stört kein lärmendes Getriebe die idyllische Ruhe. Die uns zur Verfügung stehende Zeit gestattete leider keinen Aufenthalt, es wurde direkt nach Blatten marschiert und durch dunkeln, geheimnisvoll träumenden Tannenwald nach Gerschwendi. Von allen Höhen zwischen Wald und Walzenhausen gefiel dem Berichterstatter diese am besten, die Rundsicht ist selten schön. Die Naturfreunde sind an diesem Punkt viel zu schnell vorbeigegangen, ein kurzer Halt hätte sich wohl gelohnt, die Ruhebänke am Waldessaum haben ja förmlich zum Verweilen eingeladen. Denn inzwischen hatte das Wetter mehr und mehr gebessert, lachender Sonnenschein begleitete die Wandernden.

Wieder trennte man sich in zwei Gruppen, die erstere fühlte sich durch die stolz im Winde flatternde weiss-rote Fahne unwillkürlich nach dem Restaurant Gebhardshöhe (892 Meter über Meer) hingezogen, die zweite zog eine Rast weiter unten am Waldrand vor, um in der eigenen Küche ein frugales Mahl zu bereiten. Auf der Terrasse der Sommerwirthschaft bietet sich eine prächtige Fernsicht: Von Fähnern und Hohen Kasten nach links folgen die bekannen Gipfel Falknis, Drei Schwestern, Scesaplana [Schesaplana], Zimbaspitze, Hoher Freschen, Staufen und weiterhin die Allgäuer Alpen. Unten die Ortschaften Dornbirn, Hohenems, Götzis und Rankweil. Im Vordergrund die ausgedehnte, vom Silberband des Rheins durchzogene Ebene, wo wir Lustenau, Heerbrugg, Diepoldsau, Schmitter, Altstätten, Oberriet usw. erkennen. Schnurgerade weisse Landstrassen verbinden die Dörfer untereinander und bringen wohltuende Abwechslung in das Landschaftsbild. Im Norden liegt der Bodensee vor dem Beschauer ausgebreitet. Von Bregenz schweift der Blick weit hinaus in schwäbische Gaue, um über das Schweizerufer nach Westen sich zu wenden, wo der Horizont durch waldige Höhen und einzelne Bauernhöfe abgeschlossen wird. Durch den Genuss einer solch weiten Rundschau wird die Anstrengung einiger Marschstunden reichlich aufgewogen. Aber auch für des Leibes Wohl ist gesorgt: wir wurden zu billigem Preise gut bedient, was hier ehrend erwähnt werden soll.

Beim Abstieg nach Walzenhausen ist leicht zu erkennen, dass hier ein rühriger Verkehrsverein an der Arbeit ist, die zahlreichen Waldwege und bequemen Ruhebänke sind gut unterhalten, die Wegweiser orientieren den Spaziergänger vortrefflich. Wo man sich auch befinden mag, überall gibt es herrliche Ausblicke. Am Hotel Rosenberg und prächtig gelegenen Friedhof vorbei sind wir bald auf dem Dorfplatz angelangt; nach einigem Zögern entschied sich die Gruppe dahin, bei der Strassenabzweigung nach Thal-Wolfhalden die Ankunft der zurückgebliebenen «Selbstversorger» abzuwarten. – Diese hatten beim Abkochen ein kleines Intermezzo. Freund Meyer offerierte von seiner Erbssuppe auch unserem jüngsten Mitglied Frl. Steinmann. Dabei ergoss sich das köstliche Eigenprodukt über ihr blaues Kleid. Dieses wurde kurz entschlossen an einem nahen Brunnen gewaschen[,] und bald waren alle Spuren des Missgeschickes verschwunden. Andere «Köche» befassten sich damit, die vom Baume fallenden Maikäfer vom Suppentopf fernzuhalten; sie wollten von dieser Würze, die eine Spassvogel ihnen zugedacht, absolut nichts wissen. Ueberhaupt ging es bei dieser Mahlzeit lustig und hoch her, von einer Einschränkung der Lebenshaltung war nichts zu bemerken!

In welchem Teil von Walzenhausen man sich auch aufhalten mag, überall überrascht das ausgedehnte Panorama. Der Bodensee aber wird – im Gegensatz zu früheren Zeiten – von keinem Schiffe belebt. Der einst rege Verkehr der Seeanwohner hat unter dem Einfluss des Krieges fast gänzlich aufgehört. –

Um 4 Uhr wurde der Weg nach Rorschach eingeschlagen. Bald ging es durch das windgeschützte, durch seinen Obstreichtum berühmte Dorf Thal. Am Buchberg rechts, mit seinem vielbesuchten Ausflugspunkt «Steinerner Tisch» am östlichen Ende, gedeiht der von Kennern gerühmte «Buchberger». Aber auch hier mussten die Rebberge zu einem schönen Teil dem heute so notwendigen und wohl nicht minder lohnenden Gemüsebau weichen. Beim Buchsteig, wo die Naturfreunde schon oft, das letzte Mal vor vier Wochen, bei ihrem altgewohnten Bluestbummel [sic] über den Fünfländerblick, Halt machten, gab[‹]s auch diesmal eine Rast. Der Rucksack wurde seines letzten Inhaltes beraubt und dann durch das idyllische Dörfchen Buchen und an der Kuranstalt Risegg vorbei dem See zu gepilgert. Der Weg ist heute von vielen Ausflüglern belebt, nicht minder die Hauptstrasse von Staad nach Rorschach, wo die zahlreichen Radler dem Spaziergänger den Staub um die Nase wirbeln. Zwei besonders Neugierige nahmen die im Entstehen begriffene moderne Seeparkanlage in Augenschein, welche wohl nicht wenige zur Hebung des Besuches unserer st.gallischen Hafenstadt beitragen wird. Schliesslich landeten die Naturfreunde alle wohlbehalten in der Volksküche zu Rorschach. Für das letzte Stück bis nach St.Gallen benützte ein Teil die Bahn, während die ganz Unentwegten auch diese Strecke noch unter die Füsse nahmen.

Wenn die zurückgelegte Tour auch ziemlich anstrengend war, hat sie dessenungeachtet durch ihre Abwechslung die Teilnehmer voll befriedigt. Ein schöner, genussreicher Tag liegt hinter uns, nach welchem man mit neuem Mute die Berufsarbeit wieder aufnimmt. Mögen den Naturfreunden noch viele ähnliche Sonnentage beschieden sein!

Berg frei!

Joh. Geuggis, Berichterstatter.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 285/2.06.1-2 (Naturfreunde St.Gallen, Tourenberichte 02.07.1916-12.04.1920, Text und Beitragsbild; zusätzliche Absätze der leichteren Lesbarkeit wegen eingefügt)

Lyon um 1918

Montag, 13. Mai 1918: Nachrichten aus Lyon mit Vorboten der Grippe

Der Psychiater Franz Beda Riklin weilte immer noch in Lyon (vgl. Beitrag zum 7. Mai 1918). Alle zwei bis drei Tage verschickte er einen Brief an seine Ehefrau, zwischendurch auch Ansichtskarten mit teils sehr knappem Inhalt. So hiess es auf einer Karte vom 8. Mai 1918: Bloqué. Vais bien. Mille salut. Franz. Einen Tag später war er guter Hoffnung, bald zurückkehren zu können, weil ein Nachfolger am kommenden Tag eintreffen sollte. Von einem konkreten Rückkehrdatum war in der folgenden Korrespondenz jedoch keine Rede mehr:

Lyon, 10.5.18.

Liebste Frau!

Morgen früh 8 Uhr soll endlich ein Austauschzug ankommen, u. nachmittags auf dem Rückweg in die Schweiz soll dieser Brief mitgehen. Am liebsten käme ich selber mit; denn die Herrlichkeiten u. Emotionen hier sind nicht übertrieben. Eine etwas meridionale Stadt, ohne die Schönheiten von Florenz. Immerhin schöne Parke [sic] u. Plätze. Bisher hatten wir nur zwei Sitzungstage. Seither müssen wir wegen des mangelnden disponiblen Unterkunftraums warten, bis wieder einige hundert Mann abgefahren sind.

Gestern war ich krank, hatte Fieber, Kopf- & Gliederschmerzen, etwas Bronchialkatarrh, u. dazu eine recht öde, gottverlassene Stimmung. Heute ists [sic] schon viel besser; ich habe gestern u. heute möglichst viel im Bett gelegen u. es mir sonst bequem gemacht. Also schon wieder ziemlich gesund. Natürlich konnte ich da in der freien Zeit nichts leisten.

Im Theater hörten wir statt des angesagten Cyrano den Aiglon, immerhin sehr gut gespielt. Die Kameraden sind sehr ordlechi [sich, Schweizerdeutsch für «sehr ordentliche»]; aber gar nicht interessant.*) [Einschub am Rand: *)u. man muss mit ihnen in einem schweizerdeutschfranzösisch conversi[e]ren, dass es einem im Ohr weh tut.] Zu essen bekomme ich viel, mit reichlich Olivenöl.

Wenn man erschöpft ist, so kommt gleich die Traurigkeit u. man meint, überhaupt nichts mehr zu sein u. tun zu können. Aber die Influenza war viel Schuld daran. Wenn’s nur Euch gut geht, lieber Schatz. Und Du mich lieb hast. Das Leben der Kleinigkeiten sieht man hier so drückend-überwältigend, besonders durch die Complication des Kriegs.

Sonntag fahren wir nach St-Pierre …?, 50 km. nach Süden, zu einem schweizer. Fabrikbesitzer, einem Herrn Hegetschwiler. Hoffentlich ist’s schön. Und nach Avignon möchte ich unbedingt für 2 Tage, zur Compensation.

Das Hotel ist recht, natürlich lärmt es sehr auf der Strasse, aber man gewöhnt sich.

Vielleicht kann Dir Dr. [?] Häberlin noch Auskunft geben, wie man rationell Briefe spedi[e]rt. Ich freu  mich sehr auf Nachrichten. Das Buch von Barbusse «Le feu» ist sehr gut geschrieben; Schützengrabenleben; sehr wahr, reich in der Beobachtung, viel reicher als «Lettres d’un soldat». Aber man hat doch bald genug Kriegsliteratur.

Allerherzlichste Grüsse u. Küsse, u. hab Dich lieb. Grüsse u. küsse die Kindlein.

Dein treuer

Franz.

Nach über einer Woche Aufenthalt in Lyon erhielt er erstmals Post von seiner Frau:

Lyon, 13. Mai 1918.

Allerliebste Frau!

Soeben habe ich Deinen ersten lb. Brief erhalten u. bin sehr froh darüber, zu sehen, dass man sich wenigstens berichten kann, u. froh etwas von Dir zu haben. Hier ist ja alles recht u. gut, aber eigentlich langweilig; es erinnert zu sehr an frühere Dienste; interessant ist nicht viel an der ganzen Sache, u. im Herumreisen ist man sehr gehemmt, obwohl (ich möchte fast leider sagen) Zeit genug da wäre.

Vorgestern habe ich mir die Ankunft eines Zuges mit rapatriirten [sic] Internierten angesehen; grosse Zeremonie mit Anwesenheit des kommandi[e]renden Generals von Lyon, Kavallerie, viel Clairons, grosse Rede u.s.f. Die Heimkehrenden u. wa  man von ein paar anwesenden Angehörigen sehen konnte, waren sehr emotioniert [sic]. Ich habe den Kameraden einen Brief für Dich mitgegeben.

Hier sind viele italienische Soldaten. Es sind die, welche uns durchschnittlich am höflichsten grüssen. Ob es ist[,] weil sie unsere Uniform kennen oder weil sie sie sie gerade nicht  kennen? Item. Es sind die freundlichsten.

Heute Nacht kommt ein Austauschzug an u. kehrt mit gewechselter Fracht wieder zurück. Den Brief für Dich gebe ich aber einem Kameraden mit, der sich auf der Durch- & Heimreise befindet.

Der ganze ärztliche Modus der Gefangenenauswahl wird jetzt überholt durch die viel bedeutenderen u. weitern Berner Abmachungen, auf Grund derer gewaltige Zahlen nichtkranker Gefangener ausgewechselt werden kann.

Lieber Schatz, es ist mir nicht sehr wohl hier, eben weill ich weiss, wie Du Dich inzwischen abhundest, u. weil anderes Wichtiges zu tun wäre. Ich gebe heute auch einen Brief an Claparède mit.

Meine «Krankheit» ist vorüber; als Rest bleibt nur noch ein Rifenbart [?] von ziemlicher Ausdehnung. Ein bis zwei Tage war es misslich, besonders die Stimmung. Übrigens hats die andern teilweise auch gepackt; es muss eine Grippeinfection im Hôtel genistet haben.

Einer der Collegen ist ein Dr. Barry, ursprüngl. u. in s. Wesen ein Landschaftler [sic, eigentlich «Landschäftler», d.h. aus  dem Kanton Baselland], war lange Jahre in Vitznau, jetzt zeitweilig Hotelarzt in St.Moritz. Dein Vater war Hausarzt der Familie u. hat ihn auch behandelt.

Sturzenegger ist viel eintöniger als ich mir gedacht habe. Überhaupt ist nicht viel los mit den Herrschaften. Brunner ist noch der beweglichste.

Ja, geh doch ein paar Tage ausruhen irgendwo. Diese Putzerei beängstigt mich wirklich, dazu die ungelöste Hausfrage, u. die Beobachtung, dass Dir der Auszug auch schwer fällt. Aber wir wollen mutig sein. Und ich sage Dir, wir leben doch ein interessanteres Leben als viele, u. reicher. Ich will alles herausschlagen, was ich aus mir herausholen kann, u. wir wollen durchkommen, so oder so.

Barbusse «Le feu» ist eigentlich doch furchtbar; d.h. der Krieg ist furchtbar, grauenhaft in seinem eintönigen Dreck u. Zerstörung. Und ich habe für lange genug von der Kriegsliteratur.

Bald geht der Zug ab, und ich muss schliessen. Es ist nicht weit nach Hause, u. doch gehen sehnsüchtige Wünsche mit diesem Brieflein. Ich hoffe, es gehe alles gut, u. Du tragest etwas Sorge für Dich.

Schreibe mir ein paar Warenpreise auf für Wolle, Seife u. ähnl., damit ich weiss, ob ich Dir hier kaufen soll. (10 [Zeichen für: Pfund] Marseillerseife kosten hier z.B. ca 14 Schweizerfranken, 1 kg Wolle ca 8 Schweizerfranken).

Tausend herzlichste Küsse u. viele Grüsse an die lieben Kindlein.

Ich komme sobald als möglich, u. jedenfalls allerspätestens nach dem Ablauf von 6 Wochen; es ist nun schon mehr als eine vorüber.

Auf Wiedersehen.

Dein treuer

Franz.

Wieder zwei Tage später schrieb Franz Beda Riklin, die ersten paar Zeilen in schwarzer, danach in blauer Tinte:

Lyon 15.5.18.

Allerliebste Frau!

Es geht wieder ein College in die Schweiz zurück, u. ich gebe ihm ein Brieflein für Dich mit. Von Dir habe ich bisher zwei Briefe bekommen, den ersten direkt, nach 4-5 Tagen, den zweiten mit dem Austauschzug am 2. Tage nach Deinem Datum. Ich bin wirklich etwas in Sorge wegen Deiner Gesundheit u. möchte Dich sehr bitten, Dich lieber zu schonen. Ich habe 5 kg Marseillerseife gekauft, zu frs 18.75 cts französ. Geld, macht etwa 14 frs Schweizergeld. Soll ich Wolle kaufen, das [Zeichen für Pfund] (od kg?) zwischen 7 u. 11 frs französ Geld (5 bis 8 frs Schweizergeld)?

Das Leben hier ist wirklich nicht sehr interessant. Eine grosse Krämerstadt. Und die Collegen hier bieten furchtbar wenig. Mon dieu! Einer der letzthin zurückkam, ein Welscher, war wenigstens auf dem Himalaja, kurz vor dem Herzog der Abruzzen, u. wusste mir sehr viel Interessantes davon zu berichten.

Die Arbeit ist natürlich monoton. Mit den französ. Kameraden ist auch nicht sehr viel anzufangen. Entweder sind es Militairs, die in ihren Bureaus sehr viel Arbeit erledigen müssen, od. vielbeschäftigte Professoren der Fakultät von hier. Die haben alle zu tun u. sind in ihrem Tramp u. haben keine Zeit. Sonst sind sie alle sehr recht und nett.

Man fühlt doch überall sehr die Mühseligkeiten u. Einschränkungen des Kriegs; alle sind Bestandteile der Maschine, u. wir auch. Man speist vor allem das.

Lyon hat einige interessante Bauten, einige römische Reste, einen schönen Park, u. zwei Flüsse; sonst alles[,] alles Kramläden, Fabriken. Die Läden erinnern an Italien. Es ist alles teuer. Unsere Verpflegung täglich kommt, abgesehen vom Zimmer, auf etwa 20 frs. pro Kopf, ohne etwas ganz Ausserordentliches zu bieten, da auch Einschränkungen sind.

So freue ich mich vor allem auf die Rückkehr. Vielleicht kann ich noch, mit spez. Erlaubnissen, noch etwas von der Landschaft sehen.

Im Strassenbild ist sehr viel Militair [sic] aller Art, darunter ein starkes Kontingent Italiener, dann viel Krüppel und Spitäler, indem Lyon ein besonderes Spitalzentrum ist. Es geht alles etwas bescheidener zu als in England.

Allerherzlichste Grüsse u. Küsse, auch für die Kindlein.

Von Deinem treuen

Franz.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin-Fiechter; Beitragsbild: Ansichtskarte, verschickt am 16.06.1918)

Adresse

Dienstag, 7. Mai 1918: Man isst gut, ohne Zucker.

Der Psychiater Franz Beda Riklin (vgl. diverse Beiträge zu ihm im Jahr 1917) war nach wie vor im Dienst und erneut im Ausland. Nachdem er im Herbst 1917 mit einer Schweizer Ärztemission nach England geschickt worden war, weilte er im Frühling 1918 als Mitglied der Commission Franco-Suisse pour l’internement des prisonniers de Guerre in Lyon und half bei der Organisation zum Austausch von Kriegsgefangenen mit. Diese Transporte wurden per Eisenbahn über die Schweiz abgewickelt, was ihm Gelegenheit gab, jeweils einen Brief oder eine Karte an seine Frau mitzuschicken.

Riklin war auf der Suche nach einer Neuordnung seiner Lebenssituation, die ihm mehr Zeit für seine künstlerischen Ambitionen als Maler liesse. In seiner Korrespondenz an seine Frau taucht deshalb immer wieder die Wohnungsfrage auf.

Am 6. Mai 1918 schrieb er:

Lyon, 6. Mai 1918

Hotel Royal, Place Bellecour

Allerliebste Frau!

Ich benutze die Gelegenheit, dem Kommandanten des Austauschzuges, der heute nacht 10h mit Verwundeten von Konstanz kommt u. nachts zwei Uhr wieder mit deutscher Fracht in die Schweiz zurückfährt, um Dir Nachrichten von mir zu geben. Wir sind gut gereist u. gut aufgehoben; der Dienst ist nicht zu streng, sodass reichlich zu anderm, u. vielleicht auch zu nützlicher Arbeit Gelegenheit ist. Es regnet in Strömen. Von Schweizerärzten sind anwesend: Oberst Sturzenegger v. Zch [Zürich], Major Brunner v. Küsnacht, ein Oberlt [Oberleutnant] Berry (?) [sic] von Basel u. ich. Die Franzosen sind sehr nett. Man isst gut, ohne Zucker. Brotkarte im Hotel keine. Fettsaucen reichlich. (Die Fettkarte musste ich auch abgeben).

Claparède, in Genf, war leider abwesend, sei gespannt auf meine Rückkehr. Genf wäre entschieden zu machen. Ich sah eine Wohnung v. 6 teils grossen Zimmern, komfortabel, am Quai; für 1600 frs [sic]! Etwas auf dem Lande kann man noch billiger wohnen, mit Trams überall. Steuern niedriger als Zürich. Bitte hetze dich in der Zwischenzeit ja nicht zuviel ab; es wird sich alles machen.

Es wird etwas schwieriger sein, von Dir Nachricht zu bekommen als von mir z.Z. Vielleicht kannst Du beim militär. Bahnhofkommando Zürich erfahren, wann Austauschzüge fahren u. die Briefe zum Mitgeben deponi[e]ren.

Adr. Commission franco.suisse de rapatriement, Cpt Riklin, Hôtel Royal, Lyon, Place Bellecour.

Sonst probi[e]re direkt zu schreiben.

Man bekommt hier Rauchwerk und Streichhölzer nicht. Das wird Dich freuen! Sonst scheint Lyon eine comfortable [sic], ruhige Stadt zu sein.

Ich schliesse, da ich zu einer Untersuchungssitzung muss, mit herzlichsten Grüssen an Dich und die Kinder.

Dein treuer

Franz.

Einen Tag später fand er erneut Gelegenheit, ein Briefchen abzusenden. Dieses erreichte Küsnacht, den Wohnort der Riklins, zwei Tage später, wie dem Poststempel zu entnehmen ist:

Lyon, 7.5.18.

Allerliebster Schatz!

Der bewusste Sanitätszug ist heute noch nicht erschienen; wir geben die Briefschaften einem heimreisenden Collegen mit. Da Oberstlt [Oberstleutnant] Breiter in Andelfingen nächstdem [sic] nachkommt, schicke auf alle Fälle Nachrichten durch ihn, Du kannst ihm einfach verschlossene Briefe zuschicken mit der Bitte[,] sie mitzunehmen. Du kannst ihm auch telephoni[e]ren.

Ich hatte heute frei, gestern etwas Arbeit; ich habe heute die Stadt u. Umgebung besehen. Wenn ich nur die Preise wüsste f. Wolle, Leinen etc, so würde ich hier vom billigern kaufen. Vielleicht lasse ich ein gutes Civilkleid machen, für 175 frs [sic]! französisch = ca 130 frs. schweizer [sic] Geld; ich will zuerst sehen, was die andern bekommen. Tabak u. Zündhölzer gibt es hier nicht!

[Randnotiz und Schluss:] Ich lese Barbusse «Le feu». Gut! U. sonst habe ich etwas Heimweh. Herzlichste Grüsse v. D. tr. Franz.

«Le Feu» (Das Feuer)  war ein autobiographisch geprägter Roman des französischen Politikers und Schriftstellers Henri Barbusse (1873-1935). Er verarbeitete darin eigene Erfahrungen als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg. Das Werk wurde bereits im Erscheinungsjahr 1916 mit dem Prix Goncourt, einem renommierten Literaturpreis, ausgezeichnet und später in 60 Sprachen übersetzt (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Feuer_(Barbusse) ).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W (Korrespondenz Franz Beda Riklin, Brief und Karte vom 06.05.1917 und vom 07.05.1917)

Socken für den Schützengraben

Mittwoch, 1. Mai 1918 – Socken für den Schützengraben

Soldaten in den Schützengräben litten oft an nassen Füssen, was zu Hautirritationen und Infektionen führen konnte. Die zum Wennerschen Firmenkomplex in Süditalien gehörenden Cotonifici Riuniti versuchten, mit ihren Produkten Abhilfe zu leisten.

Fritz Wenner war geschäftlich unterwegs und schrieb an seine Ehefrau auf dieser undatierten Ansichtskarte:

Liebe Maria

Wie ich vorausgesehen habe[,] wird die Sache hier noch einige Zeit länger dauern, als man ursprünglich glaubte, sodass ich vorläufig hier zurückgehalten bin. Was unsere Reise nach Mailand betrifft, so ist es[,] glaube ich[,] besser sie ohne weiteres um eine Woche zu verschieben. Das wird auch Dir besser passen, indem wir den fatalen 4. Mai in Fratte erledigen werden! – Ich würde Dir immerhin raten, wenn Du nach Mail. schreibst[,] das Datum unserer Reise nicht allzusehe zu präzisieren, denn nichts ist sicher auf dieser Welt! Ich hoffe Euch alle wohl und sende Euch Lieben allen meine herzlichsten Grüsse

Dein Fritz.

Seine Frau antwortete:

Fratte, den 1-5-18.

Mein lieber Fritz!

Vielen Dank für Deine l. Zeilen, die mir ja leider sagten[,] dass Du nicht kämest. So entschloss sich Silvia [Schwester von Fritz Wenner][,] wieder nach Neapel zurückzukehren. Sie hofft sehr[,] morgen reisen zu können[,] aber sie bittet keine banozzella [?] an die Bahn zu senden, da sie vielleicht noch im letzten Moment an reisen [am Reisen] verhindert werden könnte.

Hier geht es gut. Dimy [eigentlich Diethelm, Sohn von Fritz und Maria Wenner] ist auch wohler. De Nobili [Arzt] schrieb mir gestern u. verschrieb ihm Lacteol[.] Willst Du bitte noch eine Schachtel davon mitbringen? Ich lege die Ricetta v. D. N. bei. – Ich schrieb auch gleich einen Expressbrief nach Mailand u. teilte ihnen mit[,] uns erst nächste Woche zu erwarten.

Hoffentlich hast Du nicht zu viele tenature [?] u. kommen die Sachen bald ins Klappen.

Soll ich De Nobili für seinen Br. danken? oder [sic] erst abwarten[,] bis Dimy gesund sei, wie er prophezeite.

Eben brachte auch der Bauer die Spargeln u. Biscotto u danke ich Dir dafür auch für die anderen Biscotti[,] die Du sandtest.

Von Mailand habe ich gar keine Berichte mehr. Wahrscheinlich erwarteten sie uns täglich. Hoffentlich geht es der Mammina besser!!!

Wie leid tun mir die Berichte über Tante Jeanne. Bitte sage dem l. Mütterli[,] wie leid es mir tut.

Ich lasse das l. Mütterli herzl. von uns allen grüssen.

Dich küssen die Kinderlein u. Dein treues

Frauchen.

Weitere Beiträge zu Fritz und Maria Wenner-Andreae: 12. und 24. Januar 1916, 7. März 1917, 20. und 21. April 1917.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/128.1 (Korrespondenz zwischen Maria und Fritz Wenner-Andreae, Karte und Brief vom 01.05.1918)

Soldaten mit Gasmasken

Samstag, 20. April 1918 – Lage der Zivilbevölkerung und der Truppen im Aktivdienst

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

20. April. Es wird immer schlimmer. Die Teuerung wächst zusehends. 1 Liter Milch kostet 40 cts. Die Kohlennot ist so gross, dass fast keine Bahnzüge mehr verkehren. Es ist nur ein Glück, dass es der bessern Jahreszeit entgegen geht & man bald nicht mehr heizen muss. Der Vater hat zwar schon vorgesorgt & hat buchene Scheiter gekauft, die er nach & nach versägen will. Der Meter kommt auf 40 frs.! Wer irgendwie kann, der pflanzt Gemüse & Kartoffeln. Der Staat verlangt, dass der Boden dazu verwendet wird & gibt die Steckkartoffeln gratis & den m2 Land zu nur 5 fr. zu pachten. –

Soldaten beim JassenWährend Schweizer Soldaten an ihren Posten an der Grenze höchstens einen «Gasmaskentürk» über sich ergehen lassen mussten, daneben Wartezeiten aber auch mit Jassen zubringen konnten, sah das Leben der kämpfenden Truppen im Ausland ganz anders aus:

Am 21. März hat die grosse Offensive begonnen im Westen, an der wieder unsäglich viel Blut vergossen wird. Louis [Verwandter von Hedwig Haller] schreibt: „Die Kämpfe mit den Engländern sind furchtbar hart. Wir kampieren immer im Freien, da die Gegend so verwüstet ist, wie glatt rasiert dem Boden gleich ist Alles.“ – Wenn nur einmal eine triftige Entscheidung käme, die all dem Elend endlich Halt gebieten würde. ! –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917 und 1. Oktober 1917

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser) sowie Staatsarchiv St.Gallen, W 132/2-337 und W 132/2-338 (Bilder aus dem Erinnerungsalbum des Geb. Sch. Bat. 8 im Aktivdienst an der Grenze bei Basel vom 18. März bis 2. Juni 1918)

Steinach, um 1907

Mittwoch, 3. April 1918 – Jugend-bande «Schwarzer Stern Steinach»

Im idyllisch am Bodenseeufer gelegenen Dorf planten drei Jugendliche, verführt durch Kino und Schundliteratur, dunkle Machenschaften:

3. April 1918.

Akten-Eingang in Sachen Jenzer, Hüssen [?] & Bayer.

3 Beklagte hatten unter sich eine Gesellschaft gebildet, der sie den Namen «Schwarzer Stern Steinach» gaben. Sie machten gegenseitig ab, andere Leute zu bestehlen & auf andere Arten zu schädigen. Sie führten eine Geheimschrift & entwarfen einen Vertrag. Gemäss demselben hatten die Bekl. eine Reihe von Diebstählen verabredet, an deren Ausführung sie dann in der Folge gingen. Auch haben sie sich untereinander der grobunsittlichen Handlungen schuldig gemacht. Äussere verderbliche Einflüsse durch häufigen Kino-Besuch, infolge Lesens von Romanen & Betrachten von unsittlichen Bilder[n], seien schuld, dass sie so schwer gestrauchelt seien. Die Jugend & ihre Unselbständigkeit erheischt eine scharfe und verständnisvolle Schutzaufsicht.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, KA R. 87 B6 (Schutzaufsichtskommission, Tagebuch 1915-1918) und W 238/02.06-06 (Ansichtskarte zu Steinach, um 1907, erschienen im Verlag von Frau Dolder, Handlung, Nr. 6267. Buckdr. Leop. D. Guggenheim, Zürich)