Samstag, 12. Februar 1916 – Wochenrückblick einer gehörlosen Schülerin

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Am Samstag verreiste Frau Bühr nach Bern. Ihre Mutter ist an einem Herzschlag gestorben. Sie war im letzten Sommer schon ziemlich schwer krank. Sie litt an einem Brustkatarrh u. an Herzschwäche. Frau Bührs Bruder schrieb ihr vor einiger Zeit, dass die Mutter jetzt wie im letzten Sommer an den gleichen Übeln leide. Da dachte Frau Bühr, die Mutter werde nicht mehr so lange leben. Sie befürchtete das baldige Eintreffen der Todesnachricht. Am Dienstag fand die Beerdigung statt. Jetzt hat Frau Bühr keine Eltern mehr.

Am Nachmittag durfte Lotti Kreuz heimgehen. Frl. Baur begleitete sie auf den Bahnhof. Am Sonntag abend kam sie ganz allein wieder in die Anstalt zurück. Herr Bühr wird der Mutter schreiben, sie solle Lotti begleiten oder das Kind dürfe nicht mehr heimgehen.

Am Sonntag war eine Andachtstunde in der Stadt. 42 ehemalige Zöglinge haben daran teilgenommen. Ziemlich viele Taubstumme besuchten die Anstalt. 10 Mädchen haben da gegessen. Emil Fisch war auch dabei. Wir sahen, wie er gross geworden ist. Vor seinem Austritt war er noch ein kleines Fischlein. Jetzt hat er sich gestreckt. Er arbeitet in einer Appretur. Dort wird die letzte Hand an die Stickereien gelegt.

Am Vormittag tauchte Vater Henseler mit Lydia wieder auf. Sie gingen zuerst zu einem Ohrenarzt in der Stadt, Hrn. Dktr. Gallusser. Herr Henseler fragte ihn, was er mit Lydia machen soll. Herr Doktor erteilte ihm den Rat, er solle sie in die Taubstummenanstalt bringen; sie sei ziemlich stark schwerhörig. Da kratzte Herr Henseler sich hinter den Ohren. Er dachte: „O, wie bin ich dumm gewesen, dass ich Lydia aus der Anstalt herausgenommen habe. Jetzt muss ich den Vorsteher bitten, er möge Lydia wieder aufnehmen.“ Herr Bühr sagte zu ihm, sie soll nur kommen, er wolle sie gerne wieder aufnehmen.

Am Nachmittag spazierten wir in Begleitung von Frl. Groth nach Peter u. Paul. Dort habe ich einige blühende Weidenkätzchen gepflückt. Herr Bühr sah an der Zwinglistrasse in einem Garten einen Strauch in vollem Laub. Das ist ein Wunder der Natur. In Peter u. Paul sahen wir ein weisses Reh. Das gibt es sehr selten. Es gibt auch weisse Raben. Das ist eine grosse Seltenheit. Wenn ein schlechter Schüler einmal einen richtigen Satz spricht, sagt man: Sehet den weissen Raben! Das ist ein[e] Redensart.

Am Montag Nachmittag kam eine Dame zu Hrn. Bühr. Das war Frau Dr. Hilty. Sie wohnt im Schloss Werdenberg. Sie sagte zu Herrn Bühr, wir seien grosse Mädchen. Dann fragte sie uns, ob wir geschickt seien. Wir antworteten; „Ja, aber nicht immer, auch manchmal ungeschickt.“ Fr. Dr. Hilty erkundigte sich nach Hrn. Bühr[s] Befinden; sie wolle den Grabser u. Buchser Taubstummen Mitteilung machen. Früher hatte Herr Bühr einmal eine Andachtstunde in Buchs. Er nahm Rösli mit. Rösli war damals etwa 5 oder 6 Jahre alt. Herr Bühr u. Rösli besuchten Schloss Werdenberg. Es ist ein sehr altes Schloss. Einige Räume sind bewohnbar, die übrigen zerfallen. In den ersteren wohnen Fr. Dr. Hyldi [Hilty] u. ihre Tochter. Als Herr Bühr u. Rösli kamen, öffnete Fr. Dr. das Fenster. Sie liess an einer Schnur ein Körblein herab. Darin waren ein Hausschlüssel u. eine Tafel Schokolade. Rösli nahm die Tafel Schokolade u. Herr Bühr den Schlüssel. Er öffnete die Türe, damit die alte Dame nicht die Treppe hinabgehen musste.

Am Samstag flog ein italienischer Flieger über die Schweizergrenze. Er hatte sich verirrt. Er wollte sich üben in der Handhabung des Apparates. Das schweizerische Militär glaubte, der Flieger wolle sich erkundigen über die Stellungen des schweizerischen Heeres. Er öffnete ein lebhaftes Gewehrfeuer u. schoss den Apparat herab. Wunderbarerweise war der Flieger ganz unverletzt. Als er ausgefragt wurde, redete er im Schweizer Dialekt. Kurz vorher hatte er in Winterthur studiert. Er war nicht lange in seinem Heimatland gewesen. Jetzt ist er wieder in der Schweiz.

Am Dienstag bekam ich ein Paket von Daheim. Herr Bühr sagte, darin seien Butter u. Käse, denn auf dem Pa[c]kpapier waren Fettflecken. Es verhielt sich aber nicht so. Meine Finken waren darin. Mein Vater schickte mir auch 20 fs. zu neuen Schuhen für die Konfirmation. Herr Bühr sagte, wir müssen sie bald kaufen, sonst bekommen wir keine mehr, denn die Schuhe werden teurer u. rarer. In der Schweiz u. in den kriegführenden Ländern braucht man sehr viel Leder zu militärischen Zwecken. Lina Tobler sagte, wenn ich keine neuen Schuhe bekäme, müsste ich barfuss in die Kirche gehen. Herr Bühr sagte, wenn ich mit groben benagelten Schuhen in die Kirche käme, würden die Leute losen [sic].

Auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen hat sich nichts Besonderes zugetragen. Die Montenegriner haben die Waffen gestreckt. Österreich hat jetzt ganz Montenegro besetzt. Die Österreicher u. die Bulgaren erobern jetzt Albanien. England u. Frankreich bekamen Besuche von Zeppelinen. Auch andere Städte von England, darunter Manchester, wurden schwer heimgesucht. Rosa Gehringers Eltern wohnen in Manchester. Der serbische König befindet sich in Rom. Der montenegrinische König ist nach Frankreich geflohen.

Am Mittwoch wurde ein Kind vorgestellt. Es ist taub von Geburt an. Es ist ein intelligentes Kind. Es ist von Gossau, ist aber Bürgerin von Heiden. Es heisst Elsa Hohl. Der Vater möchte es im Frühling schon geben. Die Mutter ist viel krank u, kann darum das Kind nicht beaufsichtigen. Es läuft oft auf der Strasse herum u. verwildert. Es war schon oft in Gefahr, überfahren zu werden. Es wohnt an der Züricherstrasse. Dort verkehren viele Automobile. Wunderbarerweise ist es noch nie verunglückt. Es wird kaum im Frühling eintreten können, denn es ist erst 6 Jahre alt. Nächsten Sonntag wird wieder ein Mädchen vorgestellt. Es muss einen ziemlich weiten Weg zurücklegen, bis es nach St.Gallen kommt. Es kommt von Hätzingen an der Eisenbahnlinie Glarus-Linthal. Herr Bühr sagte, es sei schade, dass ich im Frühling austrete. Sonst könnte ich das Mädchen in die Ferien mitnehmen u. wieder in die Anstalt bringen.

Elsi Brügger bekam gestern einen Brief von ihrem Vater. Er schreibt, er sei letzte Woche nicht wohl gewesen; da habe er sich in das Bett gelegt, er habe tüchtig geschwitzt, jetzt gehe es ihm besser; ihre Schwester Greti habe Lungenkatarrh, auch viele andere Leute in Churwalden haben Influenza wegen dem ungesunden Wetter. Er hofft, es gebe bald Schnee. Sein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Der Vater schreibt auch, er wolle Elsi nächstens ein Mode-Journal schicken. Dann könne Frau Bühr mit Elsi das Konfirmationskleid auslesen. Herr Bühr hat gesagt, dass sei eine kolossal umständliche Geschichte. Erst schicke man das Mode-Journal heim. Dort werde das Kleid gemacht u. dann in die Anstalt geschickt zum Anprobieren. Dann schicke man das Kleid wieder heim zum Fertigmachen. Dann schicke die Schneiderin das fertige Kleid in die Anstalt. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn man da das Kleid gemacht hätte. Herr Bühr sagte, Frau Bühr wolle dem Vater schreiben, ob er nicht lieber den Stoff schicken wolle. Herr Bühr sagte auch, schwarze Konfirmationskleider seien nicht haushälterisch. Man brauche sie im Jahr 1 oder 2 mal. Weisse Kleider seien praktischer. Man könne sie den ganzen Sommer anziehen.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Tagebuch) und W 238/04.06-12 (Druck von 1913)

 

Samstag, 5. Februar 1916 – Eine gehörlose Schülerin blickt auf die vergangene Woche zurück

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Am Sonntag bekam Herr Bühr ein Trauerzirkular. Alfred Knaus, unser früherer Mitschüler, ist gestorben. Herr Bühr weiss nicht, woran. Er vermutete, dass Alfred an Lungenentzündung erkrankt u. rasch gestorben sei. Herr Bühr hat den Vater angefragt, woran er gestorben sei. Er hat auch einen Kranz auf sein Grab geschickt. Als Alfred in der Anstalt war, hatte er auch einmal eine schwere Lungenentzündung durchgemacht. Man befürchtete schon damals, er müsse sterben. Vor 2 Jahren starb seine Mutter. Sie hatte ihn sehr lieb. Bei dem Vater hätte er es wahrscheinlich nicht so schön gehabt. Jetzt sind seine Mutter u. er wieder beieinander. Wir mögen es ihm wohl gönnen.

Am Montag hatten wir Frost. In der Nacht vom Montag auf Dienstag hat es einwenig geschneit. Eine ganz dünne Schicht Schnee bedeckte den Boden. In einem Konfektionsgeschäft an der Neugasse ist ein Skifahrer ausgestellt. Der Boden des Schaufensters ist mit einer dicken Lage Salz bedeckt. Es sieht dem Schnee täuschend ähnlich. Einmal lebte ein König im Königreich Bayern [gemeint ist Ludwig II. von Bayern]. Dieser war geistesgestört. Er lebte sehr verschwenderisch. Einmal sagte er mitten im Sommer, er wolle schlittenfahren. Die Diener u. Beamten sagten zu ihm, sie können nichts machen, es habe keinen Schnee. Da liess der König die Strassen mit Salz bestreuen. Es wurden viele tausend Säcke voll Salz verbraucht. Der König konnte schlittenfahren. Aber es war eine teure Schlittenfahrt. Später wurde er sehr geisteskrank. Er stürzte sich in einen See u. ertrank.

Am Montag trat Lydia Henseler aus. Sie wurde vom Vater in der Anstalt abgeholt. Lydia war nur 3 Wochen bei uns. Sie hat in der ersten Klasse ziemlich gute Fortschritte gemacht. Herr Bühr zeigte dem Vater, was sie in der Schule gelernt hat. Der Vater bedauerte, dass er das Kind heimnehmen musste. Die Mutter ist schuld daran. Es hat ihr in der Anstalt nicht gut gefallen. Sie hat behauptet, Lydia habe im Sprechen viel verlernt. Herr Bühr schreibt dann an den Schulrat u. der Jugendkommission von Rorschach. Man darf Lidya [sic] nicht ohne Unterricht aufwachsen lassen. Wir hoffen, sie komme bald wieder oder werde in eine Schwachsinnigenanstalt versorgt.

Letzte Woche war ein Herr bei Hrn. Bühr. Er sagte zu ihm, er habe zu Hause einen Luftballon, ob wir ihn wollen. Frieda u. ich holten ihn. Es ist ein ziemlich grosser, runder Ballon. Er ist ziemlich schwer u. ist aus Blech. Wir können mit ihm nicht viel anfangen. Man kann ihn nicht steigen lassen, nur anschauen. Herr Bühr glaubt, er hing einmal in irgend einem Schaufenster. Herr Bühr schenkt ihn den Knaben. Sie sollen ihn irgendwo an der Decke aufhängen oder kaput[t] machen. Am Tage vorher war auch ein Herr da. Er brachte etwas Besseres, nämlich eine Gabe von 1000 Franken von der schweizerischen Mobiliarversicherung. Da hat Herr Bühr geschmunzelt. Am Dienstag überbrachte er die Summe unserem Kassier, Hrn. Diethelm. Auch über sein Gesicht lief ein Schmunzeln. Herr Bühr ist in vielen Versicherungen.

Am Mittwoch war Hr. Dr. Wenner im Hause u. besuchte Hans. Hans hat ausser der vierten Krankheit [Scharlach- oder Röteln-Infektion] auch einen leichten Brustkatarrh. Der Arzt verschrieb ihm Wybert-Tabletten [ein Hustenmittel]. Ein Apotheker, namens Wybert, hat sie gemacht. Er verdient viel Geld. Er hat eine Fabrik errichtet. Dort macht man nur Wybert-Tabletten. Manche Leute glauben, die Wybert-Tabletten seien nur für W[e]iber, weil sie gerne schlecken. Herr Bühr gab uns ein Täfelchen. Sie schmeckten uns gut; Hans schmecken sie nicht. Er sagte, sie beissen auf der Zunge. Jedesmal, wenn er eine Tablette nehmen muss, gibt es Tränen.

Am Abend des gleichen Tages bekam Herr Bühr einen Brief von Josef Bigger. Er ist ein kleines schwarzes Kerlchen mit zugekniffenen Äuglein. Familie Bigger hat bei Lugano ein Heimetli gepachtet. Der Brief ist miserabel geschrieben. Einen so miserabeln Brief hat Herr Bühr in seinem Leben noch nie gesehen. Die Mutter hat ihn aufgesetzt u. Josef hat ihn einfach abgeschrieben.

Herr Bühr bekam am Donnerstag Bericht von Alfred Knaus Vater. Er schreibt, Alfred sei Ski gefahren, er habe in der Nacht darauf über Leibschmerzen geklagt. Der Vater hat geglaubt, es sei eine einfache Erkältung. Die Schmerzen seien immer heftig[er] geworden. Alfred bekam Blinddarmentzündung u. nachher noch Bauchfellentzündung. Man konnte ihn nicht mehr reparieren, weil der nächste Spital zu weit weg ist.

Am Abend gingen einige Lehrerinnen u. Frau Bühr in das Konzert der Mädchen-Realschule. Trudi Bühr durfte auch zuhören. Rösli Bühr u. Anna Thurnheer sangen mit. Um halb 7 Uhr assen sie u. kamen erst um halb 11 Uhr zu [sic] Hause.

Was das gestern ein Sturm! War das ungemütlich! Er schüttelte die Bäume u. warf die Häuser fast um. Man konnte fast die Türen nicht mehr aufmachen, so drückte der Föhn. Der Beobachter auf dem Säntis hat es gut vorher gesagt; er meldete Föhn. Nachher gebe es Westwind mit Niederschlägen.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Tagebuch) und W 291/09-1.10 (Werbekarte)