Fieberkurve

Montag, 1. Juli 1918 – Spanische Grippe in St.Gallen

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost. Im Juli hielt sie fest:

Die Folgen des Krieges machen sich immer mehr fühlbar. Eine furchtbare Krankheitsepidemie, die sog. Spanische Grippe, ist ausgebrochen & fordert unzählige Opfer. Die Krankheit ist sehr ansteckend & da mit hohen Fiebern verbunden, auch gefährlich. St.Gallen ist bis jetzt noch ziemlich gut dran. Im Bureau haben wir erst 2 Fälle gehabt, die sich wieder bald erholten. Dennoch sind alle Volksversammlungen, wie Theater, Kinos, Konzerte, Kirche, ja sogar die 1. August-Feier verboten. Da die Kaserne so viele Kranke hat, ist auch die Rekrutenschule bis auf Weiteres aufgehoben. Die Schüler bekamen Ferien. – Am Schlimmsten wütet es in der Westschweiz, sowie in Zürich & Bern, wo es über 20‘000 Kranke hat. Man musste den Postdienst & Eisenbahnverkehr einschränken & Telephongespräche, die mehr wie 3 Zentralen in Anspruch nehmen, werden auch verweigert. – Da die Bazillen hauptsächlich in den Schleimhäuten von Nase & Rachen hausen, so empfiehlt man viel Gurgeln mit Salbei Wermutthee & auch davon trinken zum desinfizieren von Hals, Magen & Gedärmen. –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917, 1. Oktober 1917 und 20. April 1918.

Der Psychiater Franz Beda Riklin, der vom August bis Oktober 1918 als Kommandant der Etappen-Sanitäts-Anstalt Solothurn amtierte und dort für hunderte von erkrankten Soldaten zuständig war, beschrieb seine eigenen Präventionsmassnahmen gegen die Grippe in einem Brief vom 25. Juli 1918 an seine Ehefrau in ähnlicher Weise: Zudem bin ich sehr vorsichtig, gurgle, schnupfe Flüssigkeiten, wasche die Hände, meide die Menschen u. die Menge – was will man mehr? Ich lebe auch absolut geregelt, überanstrenge mich gar nicht. Überdies glaube ich, nachdem ich die Sache in Lyon überstanden habe, nicht nochmals ausgesetzt zu sein.

Zu Riklin sind ebenfalls etliche Beiträge erschienen, u.a. über seine Zeit in Lyon am 7. und 13. Mai 1918 sowie am 8 Juni 1918.

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser) und Staatsarchiv St.Gallen, A 553/1.6 (Bildtafel aus: Langstein, Leo und Rott, Fritz: Atlas der Hygiene des Säuglings und Kleinkindes, 1918-1922) sowie W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin)

Soldaten mit Gasmasken

Samstag, 20. April 1918 – Lage der Zivilbevölkerung und der Truppen im Aktivdienst

Hedwig Haller (1884-1963), aus deren Tagebuch das folgende Zitat stammt, wuchs am St.Galler Marktplatz auf. Dort betrieb ihr Vater eine Flaschnerei (Spenglerei). Die aus Württemberg stammende Familie war 1886 eingebürgert worden. Hedwig hatte den «Talhof» besucht und arbeitete als Telefonistin in der St.Galler Hauptpost.

20. April. Es wird immer schlimmer. Die Teuerung wächst zusehends. 1 Liter Milch kostet 40 cts. Die Kohlennot ist so gross, dass fast keine Bahnzüge mehr verkehren. Es ist nur ein Glück, dass es der bessern Jahreszeit entgegen geht & man bald nicht mehr heizen muss. Der Vater hat zwar schon vorgesorgt & hat buchene Scheiter gekauft, die er nach & nach versägen will. Der Meter kommt auf 40 frs.! Wer irgendwie kann, der pflanzt Gemüse & Kartoffeln. Der Staat verlangt, dass der Boden dazu verwendet wird & gibt die Steckkartoffeln gratis & den m2 Land zu nur 5 fr. zu pachten. –

Soldaten beim JassenWährend Schweizer Soldaten an ihren Posten an der Grenze höchstens einen «Gasmaskentürk» über sich ergehen lassen mussten, daneben Wartezeiten aber auch mit Jassen zubringen konnten, sah das Leben der kämpfenden Truppen im Ausland ganz anders aus:

Am 21. März hat die grosse Offensive begonnen im Westen, an der wieder unsäglich viel Blut vergossen wird. Louis [Verwandter von Hedwig Haller] schreibt: „Die Kämpfe mit den Engländern sind furchtbar hart. Wir kampieren immer im Freien, da die Gegend so verwüstet ist, wie glatt rasiert dem Boden gleich ist Alles.“ – Wenn nur einmal eine triftige Entscheidung käme, die all dem Elend endlich Halt gebieten würde. ! –

Zitate aus Hedwig Hallers Tagebuch sind bereits erschienen am: 11. Februar 1917, 23. Februar 1917 und 1. Oktober 1917

Quellen: Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription und Hinweis zur Autorin: Markus Kaiser) sowie Staatsarchiv St.Gallen, W 132/2-337 und W 132/2-338 (Bilder aus dem Erinnerungsalbum des Geb. Sch. Bat. 8 im Aktivdienst an der Grenze bei Basel vom 18. März bis 2. Juni 1918)

Ansichtskarte "Gruss aus Necker*

Samstag, 2. Februar 1918 – Jung-männerzweifel: Gedanken über die «sittliche Geschlechtsliebe»

Fortsetzung der Liebesgeschichte des Ernst Kind, späterer Rektor der Kantonsschule St.Gallen (vgl. früher erschienene Beiträge):

2. Februar 1918. Heute habe ich einen Vortrag von Prof. Ludwig Köhler über «Sittliche u. natürliche Geschlechtsliebe» gehört. Seine klaren u. in ihrer tiefen Menschlichkeit so reinen, vornehmen Auseinandersetzungen haben mich tief berührt. Die Begründung einer sittlichen Geschlechtsliebe, die sich mit der natürlichen verbinden muss, steht auf dem erlösenden u. beglückenden Satz, hinter dem er mit seiner festen Überzeugung steht: Für jeden jungen Menschen wächst irgendwo in der Welt ein junges Mädchen auf, das ihm bestimmt ist, und er ist diesem Mädchen bestimmt. Ihre Bahnen werden zusammenlaufen; zur rechten Zeit werden sie sich begegnen, und beide werden einander erkennen als die Richtigen. Nur diese beiden können miteinander glücklich werden. Weil das aber so ist, so muss der junge Mensch seinen sinnlichen Trieb in der Faust halten, dass er sich rein erhalte [um seinetwillen und] um des ihm bestimmten Mädchen willen. Denn das Mädchen muss sich ganz an den Geliebten anlehnen können, muss an ihm Halt und Schutz haben. – Dass sich ein junger Mensch leicht verlieben kann, ist Natur, denn sein Trieb wird von der Schönheit des Weibes gezeigt; weil aber der Mensch gerade in der Liebe seinen «Menschen» gegenüber dem «Tier» zeigen muss, wird er solchen Reizen sich widersetzen. Das Tier muss, der Mensch will. Die Unterscheidung zwischen Liebe u. Verliebtheit ist leicht. Köhler drückt es ganz drastisch in mathematischer Formel aus: Liebe wächst mit dem Quadrate der Entfernung! Bei der Verliebtheit ist es umgekehrt. Verliebtheit muss zeitlich vor der Liebe kommen; das ist klar. Denn Verliebtheit, die doch das Objekt oft wechselt, ist einfach das Zeichen, dass man infolge des Geschlechtstriebes einfach begehrt, was weiblich ist. Aber das Ziel dieses Kampfes ist das, dass die Begehrlichkeit ganz persönlich wird, dass man die Richtige findet und dann mit seiner ganzen Kraft liebt. Das höchste Glück kann man nur so erlangen, wenn man in der Geliebten den Kameraden erkannt hat.

Auch das Sinnliche der Liebe wird etwas Heiliges. Denn die 2 Menschen, die sich als die besten Freunde erkannt haben, vereinigen sich miteinander[,] neues Leben zu erwecken und dieses heilige Gut der Menschheit weiterzugeben. Die Frau gibt dem Mann alles, ihren Körper u. ihre Seele; sie muss deshalb ganz in seinem unbedingten Schutz stehen; er muss geradezu ein Vater seiner Frau sein. Immer aber muss der Mann trotzdem fast vor seiner Frau knien können; sie lebt nur von seiner Achtung; denn jedes schwache Wesen lebt nur, wenn man ihm Achtung schenkt; sie sich zu verschaffen, ist es meist zu schwach.

Ich liebe Margrit Peter; das weiss ich sicher. Ich glaube, es kann nicht Verliebtheit sein; ist es denn nicht gewachsen mit dem Quadrat der Entfernung?! [5. April 1917.] Doch merke ich, dass ich viel leeres Geschwätz in dieses Buch geschrieben habe über diese Liebe. Warum mich aber doch der Zweifel plagt, ob sie wirklich die Rechte sei, das kommt daher, dass ich sie noch so wenig kenne. Bewahre mich der Himmel, dass nicht auch meine Liebe nur eine Halbheit ist wie sonst alles andere.

Der nächste Eintrag im Tagebuch Kind trägt das Datum vom 31. Oktober 1918, in der Zwischenzeit leistete er Militärdienst.

Die Zweifel, ob sie wirklich die Rechte sei, hatten offenbar ihre Berechtigung: Ernst Kind verheiratete sich schliesslich 1932 mit Wanda Bolter (1908-1995).

Ludwig Köhler (1880-1956) war Theologieprofessor an der Universität Zürich, vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10710.php

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/7.2 (Tagebuch Ernst Kind) und W 238/08.12-24 (Beitragsbild mit Vergissmeinnicht, Veilchen und Rosen: Auszug aus Ansichtskarte «Gruss aus Necker!», 1903)

Kriegsjahr 1917

Montag, 31. Dezember 1917 – Apfelkuchen zum Silvester, Schweinebraten zum Neujahr

Tagebucheintrag von Johann Baptist Thürlemann, Architekt im Ruhestand, wohnhaft in Oberbüren:

Montag, den 31. Dezember 1917 sehr kalter, theils dunkler, theils heller Tag. Morgens bedeckt & etwas neblig; im Verlaufe des Vormittags leicht aufheiternd; Matter Sonnenschein. Ueber Mittag wieder bedeckt und düster. Nachmittag wieder eine Zeit lang aufhellend – Sonnenschein. Abend düster & bedeckt. Leichter Nebel. Nacht kalt, neblig. matter Mondschein. – Den ganzen Tag scharfer, eindringlicher Nordostwind; in den Höhenlagen Südwestwind. –

Morgens 8h holte Caroline auf der Gemeinderathskanzlei die Rationenkarten für den Monat Januar 1918.

Ich besorgte vormittags schriftliche Arbeiten & sandte einige Neujahrskarten ab.

Nachmittags bereinigte ich das Tagebuch von gestern & besorgte weitere schriftliche Arbeiten.

Abends von ½7 Uhr bis ¾8 Uhrhatte ich Besuch von meinem Neffen [sic] Carl. – Während dieser Zeit holte Caroline den von uns in die Bäckerei Müller dahier zum Backen gegebenen Aepfelfladen mit Rahm. – (:Bäckerlohn: 45 Rp.:)

Später las ich die Zeitungen, schrieb noch eine Neujahrskarte nach Andwyl und begab mich um ½10 Uhr zu Bette. –

Ansichtskarte Frieden

In seinem Eintrag zum 1.  Januar 1918 berichtete Thürlemann über die Neujahrspredigt in der katholischen Kirche Oberbüren zum Text «Erneuert euch aber im Geiste eueres Gemüths!» Ep. Pauli ad Ephes. 4.23. [Brief des Paulus an die Epheser, 4,23]:

Das abgelaufene, blutrauschende Kriegsjahr gehört hinsichtlich seiner völkermordenden Geschehnisse zu den «schlimmen Zeiten«. Die schlimmen Zeiten werden aber nicht allein – wie die guten – von Gott verhängt, sondern auch die Menschen wirken bestimmend darauf ein.

Böse Gedanken; Worte; Thaten verkehren die gottgewollte Ordnung & bringen Noth, Elend und Unfrieden in die Welt.

Um bessere Zeiten zu haben muss vor allem der Mensch besser werden & zwar dadurch, dass er sich umgestaltet im «Geiste seines Gemüthes». Er muss sich erwerben:

1.) ein neues Herz;

2. Eine neue Zunge;

3. Eine neue Hand. –

Ein neues Herz, durch Ablegen aller sündhaften Anschläge, Gedanken & Begierden. Entfernung des Hochmuthes; des Geizes; der Unzucht; des Neides; der Feindschaft & des Hasses und durch Erringung der Demuth, der Freigebigkeit; der Keuschheit, des Wohlwollens, der Friedensliebe und der Versöhnlichkeit das Herz umwandeln.

Eine neue Zunge, welche die reine Wahrheit spricht; die sich scheut vor Verleumdung & Ehrabschneidung; vor schmutzigen, die Unschuld verführenden Reden; vor Flüchen & Gotteslästerungen.

Eine neue Hand, die nichts Unreines berührt; die das Besitzthum des Nächsten achtete & keine Ungerechtigkeit begeht; welche den Nächsten nicht misshandelt & verletzt; welche mit Mass und Gewicht unanfechtbar umgeht.

Würden alle Menschen von nun an streng die Gebete der christlichen Sittenlehre halten, so wäre die soziale Frage bald gelöst, und weder Krieg, noch Theuerung, noch schlechte Zeiten  würden die Menschheit bedrängen & dann würde das Jahr 1918 für uns Alle ein Jahr des Glückes, des Segens & des Heiles. –

Sehr schöne, kurze aber inhaltlich reiche Predigt.

Nach dem Gottesdienst gab es ein vorzügliches Essen: Schweinebraten aus dem benachbarten Restaurant Hirschen.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035a (Nachlass Thürlemann, Tagebücher: Text und Beitragsbild) und W 207 (Joseph Fischer: Album «Aus den Kriegszeiten»: ungebrauchte Rationenkarte für Reis)

Freitag, 21. Dezember 1917 – Ein Tag der romantischen Ironie

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Student mit St.Galler Wurzeln:

Heute hatte ich wieder einen merkwürdigen Tag. Ich möchte ihn einen Tag der «romantischen Ironie» nennen: Ich habe mit Margrit P. eine ganz komische Begegnung gehabt, und der Grund davon ist jämmerlich banal gewesen. In den 10 Wochen der Rekrutenschule habe ich sie nie gesehen, wohl aber immer im Gedächtnis gehabt. Ich habe ihr Haus vom Kasernenfenster aus (allerdings vergeblich) gesucht, ich habe es vom Albisgütli aus beinahe gesehen und bin auf dem Rückweg vom grossen Ausmarsch ganz nahe daran vorbeigekommen. Immer habe ich an sie denken müssen. Jetzt nach der Rekrutenschule, freute ich mich auf dem Weg in die Universität hinauf, denn er brachte grössere Begegnungsmöglichkeit als früher der in die Kantonsschule. Tatsächlich habe ich sie in den 2 Wochen seit meiner Zivilwerdung bis heute, da die Weihnachtsferien beginnen, 3 mal gesehen, nur so über die Strasse hin. Was bedeutet das aber, ein Gruss über die Strasse, wenn die Gesichter beinahe unkenntlich in den Krägen stecken? – Heute abends 5 Uhr war die letzte Vorlesung, der letzte Heimweg vor den Ferien, als die letzte Begegnungsmöglichkeit. Ich dachte natürlich schon von oben an wieder an sie. Da stand sie beim Pfauen mit 2 andern Mädchen. Ich wollte im Vorbeigehen grüssen; in diesem Augenblick sprang sie plötzlich, sobald sie mich gesehen hatte, über die Strasse auf mich zu. Nun, das erkannte ich ja gleich, dass es irgend eine unwichtige Frage sein werde, in der sie mich interpellieren würde, vielleicht eine Erkundigung nach Doris, die ja schon 3 Wochen daheim sein muss. Was sie aber wissen wollte, stellte mich wenigstens plötzlich wieder auf einen sehr nüchternen kalten Boden zurück, nachdem mir vorher doch eine kleine Hitze in den Kopf gefahren war. Sie wollte wissen, wie unsere bündnerischen Spezialitätswürste für Neujahr heissen! Natürlich Beinwürste, am besten bei Domenig in Chur zu bestellen! Das sagte ich auch, und dann war das Gespräch mit einer sehr freundlichen Verabschiedung zu Ende. –

Immerhin hat es doch gewiss etwas zu bedeuten, dass gerade sie mich fragte, während die beiden andern ruhig auf der anderen Strassenseite blieben. Das heisst für mich, sie hat das Gefühl, mich doch etwas besser zu kennen, mit mir doch eher bekannt zu sein, als es die andern sind, die doch auch in der Tanzstunde waren.

Nächster Beitrag: 22. Dezember 1917 (erscheint am 22. Dezember 2017)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897). Das Tagebuch war mit einem Schloss abschliessbar (vgl. Abbildung).

 

Baeckerei in Rheineck, ca. 1900

Dienstag, 6. November 1917 – Kriegsbilanz und Tagesgeschäft

Josef Scherrer, der vielbeschäftigte Sekretär des Zentralverbands christlichsozialer Organisationen, schrieb in seinem Tagebuch:

Ich habe seit langer Zeit keine Tagesnotizen mehr geführt. Eine Sünde, die ich immer wieder begehe. Zuviel Arbeit ist mir eine kleine Entschuldigung. Seit den letzten Notizen, die auch hier niedergelegt, ist so vieles wieder anders geworden. 

Der Krieg ist trotz den ernsten Bemühungen des Heiligen Vaters Papst Benedikt XV. weiter gegangen. Letzter Tage hat die gewaltige deutsch-österreichische Offensive den Italienern entscheidend zugesetzt. Heute melden die Österreicher und Deutschen bereits 250,000 Gefangene und eine Beute von 2000 Geschützen. Vielleicht ist das doch Friedensarbeit!

Ende September 1917 habe ich eine neue grosse Arbeit übernommen. Die Regierung des Kantons St. Gallen hat mich als Leiter des kantonalen Brotamtes berufen. Es ist einerseits für mich eine verlockende Arbeit, anderseits werde ich auch hier manche Sorgen zu kosten bekommen. Die Einführung der Brotkarte ist zwar im Kanton St.Gallen noch ziemlich glatt gegangen, Gott sei Dank! Ich hätte mich schon schön blamieren können! Möge Gott mir helfen, das wichtige Amt in schwerer Zeit gut zu verwalten.  

Rechnungskommission der politischen Gemeinde Tablat.

Rechnungskommission Die Sitzungen haben wieder seit einiger Zeit begonnen. Eine Arbeit, die an und für sich nicht uninteressant ist. Ich mache sie jetzt das 6. Mal. Da hat man doch bald genug.  

Konferenz. Vorberatende Kommission zur Baukommission.

Errichtung einer Baukammer des Kantons St.Gallen im Mercatorium in St.Gallen.

Koch & ich sind in die vorberatende Kommission berufen worden. Ich habe namens der christlich-sozialen Organisation grundsätzlich zugestimmt.

Antrag des Ingenieur- & Architekten-Vereins. Es soll das Justizdepartement angefragt werden, ob nicht ein Baugericht bestellt werden soll.

Schirmer [?]. Das Justizdepartement wird nicht dafür zu haben sein. Ein ganzes Baugericht wird so rasch nicht eintreten. Aber es wäre ein freiwilliges Baugericht doch zu gründen.

Dr. Wyler will wissen, wie sich das Kantonsgericht dazu stellt.

Ingenieur Sommer referiert über die Geschichte der Vorberatungen. Die Fachleute Kantonsbauamt, Stadtbauamt, die Bundesarchitekten sind gegen die Bildung.

Kantonsgerichtspräsident Dr. Geel hat sich gegen die gesetzlichen Fachgerichte ausgesprochen, da das Kantonsgericht nach und nach ausgeschaltet würde. Wenn alle Interessen-Kreise für ein Spezialgerichtswort einträten, so ist die Einführung möglich. Das Kantonsgericht lehnt die Errichtung eines Baugerichtes einstimmig ab.

Dr. Wyler ist für die Spezialgerichtsbarkeit.

Stauber, Zimmermeister Ich spreche mich grundsätzlich für eine Baukammer aus, immerhin unter gewissen Vorbehalten.

Koch sozialdemokratischer Sekretär spricht sich ebenfalls grundsätzlich für die Baukammer aus.

Högger will die Sache weiter verfolgen.

Es wird beschlossen, eine Konferenz mit den Behörden angestrebt. [sic]

Nächster Beitrag: 7. November 1917 (erscheint am 7. November 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch Scherrer) und W 076/3.27.092 (Bäckerei und Conditorei von J. H. Tobler in Rheineck, ca. 1900)

Caroline

Mittwoch, 31. Oktober 1917 – Der Hausfrieden kehrt wieder ein

Johann Baptist Thürlemann schrieb am Mittwoch, 31. Oktober 1917 in sein Tagebuch:

Von 8 Uhr morgens bis ½ 1 Uhr hatten wir im Hause grosse Unruhe, da die seit 1. September 1916 bei uns in Miethe wohnende Wittwe Josepha ScheiwillerDudli & ihre Tochter Lydia auszogen, um bei Wagner Friedr. Lengg im Unterdorf Wohnung zu nehmen.

Die Söhne August & Emil Scheiwiller & ihr Knecht Frauenknecht halfen beim Aufladen & Wegführen des Hausrathes, der in 2 Fuhren an seinen neuen Bestimmungsort gebracht wurde. Den ganzen Nachmittag und Abend putzten und scheuerten Marie Gehrig (Frau Frefel) von Niederbüren und Lydia Scheiwiller die verlassene Wohnung.

Abends 6 Uhr kam Wittwe Scheiwiller zu uns[,] um sich zu verabschieden; sie hatte dabei noch einen kleinen Strauss mit meiner Haushälterin Caroline Wick bezügl. des im Juli d. Js. wegen des Putzens veranlassten Streites. – Ich mahnte zur Beilegung der Feindseligkeiten & zum Frieden.

Damit wurden schon länger schwelende Unstimmigkeiten in Thürlemanns Haus beigelegt (vgl. Beitrag vom 30. August 2017).

Ob Thürlemanns Ermahnungen an die beiden Frauen fruchtete, schrieb er nicht. Die Episode hatte jedenfalls noch zwei kleine Nachspiele. Der Architekt notierte am Freitag, 2. November 1917:

Von ½ 11 Uhr bis ½ 12 Uhr vormittags erschien Lydia Scheiwiller in unserem Hause, um in der von ihnen verlassenen Wohnung die Fenster zu putzen. Sie verabschiedete [sic] sich hernach bei uns und übergab die Schlüssel. – Die Zimmer & namentlich die Küche, sind sehr flüchtig & oberflächlich gereinigt, ebenso die Fenster.

Scheuermaedel

Damit war die Putzerei aber noch nicht beendet. Im Tagebucheintrag vom Freitag, 9. November 1917 heisst es weiter:

Caroline war den ganzen Tag mit Putzen & Fegen des ganzen Treppenhauses beschäftigt; es war aber auch nöthig, da die Familie Scheiwiller das Haus in wirklich ordnungswidrigen [sic] Zustande verlassen hatte.

Der Eintrag belegt eine Konstante bürgerlicher Haushaltführung: Üblicherweise wurde am Freitag geputzt – was die junge Frau Scheiwiller auch getan hatte.

Warum aber hatte Caroline nicht ebenfalls schon eine Woche vorher dieses Treppenhaus geputzt, gleich nach dem Auszug der Mieterinnen? Die Einträge im Tagebuch belegen, dass Caroline Wick und Johann Baptist Thürlemann es mit den Feiertagen genau nahmen. Freitag, der 2. November, war das Fest AllerSeelen, wie Thürlemann es nannte. An diesen Tagen ging man zur Kirche, kochte und ass und machte ansonsten höchstens Besuche oder vielleicht Botengänge. Gearbeitet wurde nicht.

Nächster Beitrag: 1. November 1917 (erscheint am 1. November 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035a (Tagebuch Thürlemann) und P 909 (St.Galler Tagblatt, 03.03.1917, Morgenblatt, Anzeige für Teigseifen)

Coupon für Brot

Montag, 1. Oktober 1917 – Lebens-mittelrationierung: Brot und Mehl sind nicht mehr frei erhältlich

Mit dem 1. Oktober 1917 waren in der Schweiz Brot und Mehl rationiert. Bereits früher schon waren Reis, Zucker, Mais, Teigwaren, Hafer und Gerste der Rationierung unterstellt worden. Ab März 1918 wurden die Massnahmen noch verschärft, indem man auch Butter, Fett und Öl, später zusätzlich Käse und Milch rationierte.

Für Personen mit speziellen Bedürfnissen wurden bereits im Oktober 1917 Zusatz-Brotkarten ausgegeben. Sie berechtigten zum Bezug von weiteren 100g Brot pro Tag.

Mit diesen Massnahmen versuchte man, die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Erst ab April 1920 waren wieder alle Lebensmittel ohne Einschränkung verfügbar.

 

Die Rationierungskarten wurden je nach Landesgegend in deutscher, französischer oder italienischer Sprache gedruckt. Sie bestanden neben dieser Titelseite aus drei weiteren Seiten mit Coupons, einer Doppelseite mit Abschnitten zu 25g und 50g sowie einer Einzelseite mit Abschnitten zu 250g:

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Die St.Galler Telefonistin Hedwig Haller schrieb an diesem Tag in ihr Tagebuch:

1. Oktober 1917. Nun haben wir auch noch Brot- & Butter-Marken, so dass jede Person pro Tag ½ Pfund Brot und im Monat 100 gr. Butter bekommt. – Ich habe vorher noch eine Schachtel gefüllt mit Zwieback, Biber, Birnweggen etc., um im Notfalle nicht hungern zu müssen ! –

(122) Im Bureau erlebten wir die grosse Freude, dass nun endlich einmal der 8-Stunden-Tag fürs ganze Jahr bewilligt wurde & jedes die Teuerungszulage von 225 frs. für das Jahr 1917 erhielt. – Fein ! Wunderbar ! – wir haben immer enorm viel Arbeit, da die Brieftaxen erhöht wurden, so greift Alles zum Telephon. Wir haben z.B. über eine Million mehr Gespräche wie vor dem Krieg (pro Jahr). –

Zum Thema Rationierung vgl. den Eintrag im Historischen Lexikon der Schweiz: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D13782.php

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 200/61 und Privatbesitz (Tagebuch Haller, Transkription: Markus Kaiser)

Heuen in Pfäfers, zwischen 1901 und 1919

Samstag, 1. September 1917 – Landleben

Tagebucheintrag von Architekt Johann Baptist Thürlemann (1852-1939), Oberbüren:

Samstag, den 1. September 1917

meist heller & sonniger Tag. – Morgen angenehm kühl, etwas wolkig, doch ziemlich schön. Tagsüber vorherrschend Ostwind; gegen Abend Westwind. Himmel stets mit leichtem, wechselndem Gewölke besetzt. Nachmittag warm; es wurde geemdet; abend wolkig, Nacht ebenso; zeitweilig mondhell (Vollmond). Gegen Morgen trübe & bedeckt.

Morgens 6 h stand ich auf & trank den Kaffee. –

Von 7 bis gegen ¾ 8 h wohnte ich der Dreifaltigkeitsmesse bei. Hernach Grabbesuch.

Vormittags nahm ich die üblichen Samstagsarbeiten vor.

Nachmittags bereinigte ich mein Tagebuch & beschrieb hernach die Rückseite einer Photographie unseres sel. Grossvaters mit den Personalien desselben, in lateinischer Druckschrift.

Abends von 6 ¼ h bis gegen ½ 9 Uhr machte ich einen Spaziergang über das «Bild«, zum «Reckholder[«], zur Thur & deren Ufer entlang abwärts. Hernach quer über die Thurau zum «Burg«, Rütti, Buchen, Obergstalden & durch den Wald & die Wiesen nach Hause zurück. –

Hier durchgieng [sic] ich kurz die Zeitungen, nahm noch eine kleine Kollation & begab mich um ¾ 10 Uhr zu Bette. –

Mein Bruder Carl führte heute noch ein Fuder Emd vom «Unterziel» heim.

Nächster Beitrag: 3. September 1917 (erscheint am 3. September 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035b (Familie Thürlemann zum Hirschen, Tagebücher von Architekt Johann Baptist Thürlemann, 1852-1939, Text) und ZOF 002/01.56 (Bildarchiv Psychiatrische Klinik Pfäfers, Fotograf unbekannt, zwischen 1901 und 1919, Beitragsbild)

Lumiere Glasplatten

Freitag, 31. August 1917 – Architekt Thürlemann entwickelt Fotos

Tagebucheintrag von Architekt Johann Baptist Thürlemann (1852-1939), Oberbüren:

Freitag den 31. August 1917

trüber, bedeckter & kühler Herbstmorgen. Zeitweilig Regen. – Tagsüber meist wolkig & windig. Frischer Westwind. Hie & da ein Sonnenblick. Nachmittag meist düster & zuweilen etwas regnerisch. Sehr kühl. Abend eine Zeit lang sonnig; hernach stark bewölkt & dunkel. Nacht theils mondhell, theils bewölkt und regnerisch.

Vormittags bereinigte ich mein Tagebuch & besorgte Büreauarbeiten. Von 1 bis 4 Uhr nachmittags war ich mit Tonen & Fixieren der 6, gestern hergestellten Photographien beschäftigt. (1- ¾ 3h Tonen & Fixieren, ¾ 3 h bis 4 ¼ Uhr Wässern der Copien am Küchenbrunnen. – Die 4 Bilder 13 x 18 waren sehr befriedigend.

Abends stellte ich frischen Kleister her & zog die obigen 4 Bilder auf Carton auf.

Von 7 bis ½ 8 h abends besuchte mich mein Bruder Ludwig, wobei ich ihm ein Exemplar von obigen Bildern zum Geschenke machte. Er hatte grosse Freude daran & war voll Lobes über die gelungene vergrösserte Copie von Grossvaters Bildnis. –

Später las ich die Zeitungen und begab mich um ¾ 10 Uhr zur Ruhe.

Thürlemann verwendete Glasplatten der Firma A. Lumière & Ses Fils, Paris in drei Negativgrössen. In seinem Nachlass findet sich auch die im Beitragsbild zu sehende, nicht angebrochene Schachtel unbelichteter Negativplatten – sie sind über 100 Jahre alt. Die belichteten Negative bewahrte er in diesen Originalschachteln auf und schrieb auf die Deckel in seiner kleinen Schrift Sujets und Aufnahmedatum auf.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035b (Familie Thürlemann zum Hirschen, Tagebücher von Architekt Johann Baptist Thürlemann, 1852-1939 und Negativschachtel)