Gerichtsbuecher

Dienstag, 15. Mai 1917 – Was zu einem Kino gehört

Am 15. Mai 1917 trafen sich vor der Gerichtskommission des Bezirksgerichts Rorschach die folgenden Parteien: R. Timeus, Elektriker von Rorschach als Kläger und Widerbeklagter sowie die Theatergesellschaft der katholischen Abstinentenliga Rorschach als Beklagte und Wiederklägerin. Der Kläger forderte Fr. 46.95, die Beklagte als Widerklägerin total Fr. 176.75 abzüglich der Fr. 46.95, also netto Fr. 129.80.

Der Hintergrund der Geschichte: Beide Parteien waren gemeinsam Eigentümer eines Kinos (im damaligen Wortgebrauch: einer Kinematographenanlage) im alkoholfreien Restaurant Schäfle-Garten in Rorschach (Bilder dazu: vgl. Beitrag zum 26. November 1916). Sie stritten sich über die Erstellungskosten dieser Einrichtung und hatten bereits durch ein Expertengutachten deren Wert feststellen lassen. Nun ging es noch darum, die Differenzen zu bereinigen. Das Gericht entschied, Zeugen zu befragen, was am 19. Juni und 10. Juli gleichen Jahres geschah.

Die Streitigkeit an sich wäre nicht interessant, wenn das Gerichtsurteil nicht Hinweise enthielte, mit welchen Gegenständen das Kino eingerichtet war. Erwähnt sind zwei Objektive, 2 Filmrollen à 6 frs [sic] und 10 Bilderrahmen à 1.20 sowie ein Ventilator. Dieses Zubehör war von der Gesellschaft Pathé Frères in Paris geliefert worden. Die ganze Einrichtung kostete rund 2500 Fr. Von einem Projektionsapparat, einer Leinwand oder Sitzgelegenheiten für das Publikum ist nicht die Rede.

Warum beteiligte sich ausgerechnet die katholische Abstinentenliga an einem Unternehmen, das den Kontostand einer zeitgenössischen Vereinskasse bei weitem überstieg? Die Abstinenzbewegung bemühte sich stets darum, sich ein modernes Image zu geben. Ein eigenes Kino konnte deshalb dazu dienen, die Mitgliederzahlen des Vereins zu erhöhen. Mit Hilfe von Filmen oder Lichtbildern liess sich Propaganda für ein gesundes, alkoholfreies Leben machen. Indem man moralisch Unbedenkliches zeigte, bot man ärmeren Gesellschaftsschichten geistige Anregung und eine Freizeitbeschäftigung in einem Umfeld ohne Verlockungen durch geistige Getränke.

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, G 2.7.1 (Protokolle Gerichtskommission Rorschach vom 15.05.1917, 19.06.1917, 10.07.1917)

 

Sonntag, 13. Mai 1917 – Zufall? Schicksal? Oder doch göttliche Fügung?

Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, trifft zu seinem Leidwesen viel zu selten auf die von ihm verehrte Margrit Peter. Umso kostbarer sind deshalb diese Momente des Aufeinandertreffens:

Ich komme in Versuchung, an einen Zufall mit eigenem Willen zu glauben, und glaube, er ist mir günstig gesinnt. Es ist das dritte Mal, dass ich mit Margrit P. zusammengekommen bin, ohne es zu ahnen. Nein, das ist falsch; ich will sagen, ohne einen Anhaltspunkt für diese Möglichkeit zu haben; denn geahnt habe ich es jedesmal so ungefähr; jedesmal habe ich vorher immer noch viel mehr als sonst an sie denken müssen. – Dieses Zusammenkommen war gestern am 12. Mai.

Wir, die ganze Familie, machten einen Ausflug ins Nidelbad und wollten um 2 Uhr mit dem Schiff abfahren, haben dann dieses Schiff verpasst und warteten auf das nächste (um 3 Uhr ab). War jetzt das ein blinder Zufall, dass wir das erste Schiff verpassen mussten und erst das zweite nahmen, auf dem Margrit P. war? Und weiter war es gewiss auch nicht blinder Zufall, der sie allein auf das Schiff brachte, während sie es mit einer Freundin ausgemacht hatte. Sie wollte nämlich zu einer anderen Freundin nach Kilchberg; weil sie nun ganz allein war, setzte sie sich zu uns her und wir unterhielten uns, bis sie in Kilchberg ausstieg. Diese freundliche Begegnung ist mir umso wichtiger, weil ich gerade vorher noch mich ihretwegen sehr aufgeregt hatte. Sie hatte nämlich in der letzten Woche, wie es mir schien, absichtlich alles versucht, mich nicht zu sehen, wenn wir in der Rämistrasse uns begegneten. Einmal versteckte sie sich geradezu hinter einer andern und eben gestern Samstag Morgen bemerkte ich, dass nur ihre Freundin meinen Gruss erwiederte, sie hingegen gradaus sah. Das konnte ich mir nicht erklären; es regte mich sehr auf; zuerst war ich sehr erstaunt, dann unglücklich und schliesslich empört. Denn ich war mir keiner Dummheit oder Flegelhaftigkeit ihr gegenüber bewusst. Dass sie aber launisch sei und einfach nicht mehr grüssen wollte, konnte ich natürlich nicht glauben; deshalb quälte mich ihr Benehmen, aber immer mehr kam ich bei meinem eigenen ruhigen Gewissen in Ärger und Trotz. Es kostete mich allerdings viel, meinen Kummer in Trotz umzusetzen; aber da ich glaubte, ihn so schneller verwunden zu haben, bemühte ich mich darum und war schon im Begriff, ein paar wutentbrannte (d.h. im Innersten natürlich unwahr empfundene) Verse zu leimen, die etwa so begonnen hätten:

«Die Liebe ist zum Teufel,

Die Sehnsucht hat ein End.

Ich pfeife auf ein Mädchen,

Das mich mit Fleiss nicht kennt.»

Denn ich war schon ganz überzeugt, dass ich nichts mehr dagegen machen könne. Erklärung verlangen konnte ich nicht, da ich sie nicht einfach auf der Strasse anreden wollte und konnte, umso weniger, als sie mich ja scheinbar nicht mehr kannte. Und auf anderm Weg als durch mich selber wollte ich nichts erfahren, schon weil ich überhaupt niemand etwas davon wissen lassen wollte.

Und jetzt kam mir der gute Zufall wieder zu Hilfe, wie schon 2 mal. (Das erste Mal, dass ich mit ihr zusammen kam nach dem Konzert des Schülerorchesters, das andere Mal im Nikisch-Konzert.) Die Bekanntschaft wurde wieder aufgefrischt und gleichzeitig brachte sie die Nachricht, dass nächsten Mittwoch unsere Tanzgesellschaft im Zürichhorn zusammenkomme. Dort bietet sich mir vielleicht Gelegenheit, Aufschluss über ihr sehr rätselhaftes Gebahren zu bekommen. Denn soviel vertraue ich meinen Augen doch, dass sie auch noch nicht falsch sehen, selbst wenn sie Margrit P. sehen. Freilich schaue ich immer nur so ganz schnell hin beim Grüssen, dass ich doch nicht so ganz sicher bin. Immerhin bin ich jetzt sehr gespannt auf den Mittwoch-Abend.

Ich will hier noch einen Zettel abschreiben, den ich vor einigen Wochen vollgeschrieben habe. Woher ich damals den Gedanken bekam, weiss ich nicht:

Meine Lebensanschauungen haben immer gewechselt und haben in gewissem Sinn schon die meisten der unterschiedlichen Formen gehabt:

1.) Als Kind vor dem Beginn selbständigen Denkens: Realist; die Sachen, soweit man sie kennt, werden genommen, wie sie sich darstellen, und was sich nicht darstellt, existiert nicht. Der liebe Gott stellt sich auch dar; nämlich im Himmel sitzt er. Er ist nur zu weit weg, um gesehen zu werden. Aber hinter dem blauen Vorhang sitzt er und sieht uns doch, weil er ja durch alles durchsieht. (Mit 11 Jahren schwache Ahnung von Liebe, die sich aber mit Eintritt der Flegeljahre in eine Art trotzige Feindschaft gegen das betreffende Wesen umwandelt. Von da an eine Zeitlang überhaupt Mädchenfeind, nachher tritt an Stelle der Feindschaft Gleichgültigkeit, bis auf weiteres.

2.) Selbständiges Denken. Trotz Konfirmation Ausbildung zum Skeptiker, aber gleichzeitig infolge vieler neuer Eindrücke starker Mystiker. Zeitweise verschwindet der Zweifel, kommt aber immer bald wieder.

3.) Mit 18 Jahren Sieg des Skeptizismus über die Mystik. Eine oberflächlich verstandene Religionsphilosphie in der Schule verschärft den Kampf um einen persönlichen Gott. Bald ist der persönliche Gott ganz verloren gegangen. (Abendmahl unmöglich geworden, ebenso Beten.) Oft beinahe Ausbruch der Verzweiflung oder bittere Resignation, die sich sogar manchmal Spöttereien gegen religiöse Dinge erlaubt. Allmählich geistige Erschlaffung; das Gedächtnis ist ganz unfähig.

4.) Erste Liebe (mit 19 Jahren), urplötzliches Aufrütteln des Lebensmutes. Romantik. Ein wenig: carpe diem!

Ich werde alles versuchen, mir den Glauben an einen persönlichen Gott wieder zu erringen und darauf eine eigene Religion aufzubauen; denn unsere Kirchenreligion kann ich nicht halten.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 076/3.27.109 (Hafen von Rheineck, Anlegestelle mit Schiff «Bavaria», ca. 1914)

Freitag, 4. Mai 1917 – Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte…

Der beginnende Frühling weckt – unterstützt durch die schönen Künste – auch beim Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, Ernst Kind (Jg. 1897), die Lebensgeister:

Aus der Ferienreise in den Jura ist nichts geworden. Bis Schulanfang war das Wetter ganz abscheulich und Papa [Schweizer Berufsoffizier] hatte von der Grenze geschrieben, dass der Schnee im Jura das Fortkommen mit Wagen fast nicht möglich mache; also für eine Radfahrt absolut ungangbare Strassen. Nach Peseux bin ich nun natürlich auch nicht gekommen und habe darüber im Stillen viel getrauert. Aber schon am ersten Schultag haben wir uns wieder begegnet. –

Ungefähr seit 26. April ist das Wetter jetzt herrlich, auch warm, und das hat ein beinahe unglaublich plötzliches Wachstum in der Natur zustande gebracht, sodass der Maianfang mitten ins allererste Grünen gefallen ist. Mir ist dieser Mai ein Erlebnis geworden; ich habe den Frühling noch nie mit so starken Gefühlen erlebt; ich bin geradezu in ein romantisches Schwärmen geraten; es mag sein, dass dazu noch beigetragen hat, dass in den letzten herrlichen und warmen Nächten der Mond sich dem Vollmond nähert. Und ich glaube, ein seelisch irgendwie empfindsamer Mensch wird jedesmal zum Romantiker, wenn er eine warme Frühlingsnacht erlebt, besonders wenn er vorher wochenlang nichts als Regen und Schnee gesehen hat. Letzte Woche bin ich dreimal von Herrn Federer in die Konzerte des Klingler-Quartetts eingeladen worden und habe ihn nachher heimbegleitet; dann haben wir beide miteinander Mondscheinspaziergang gemacht und unsere romantische Sehnsucht zu stillen gesucht. Mein Sehnen hat ja einen realen lebendigen Hintergrund; er wird eben als Dichter gefühlt haben. –

Ein grösseres Erlebnis aber war für mich der Konzert-Abend von Nikisch am 30. April. Ich hatte ewas wie eine Ahnung; ich hoffte heimlich, Margrit P. dort zu sehen. In der Pause sah ich sie mit ihrer Freundin. Aber ich wagte nur einen Gruss mit dem Kopf; angesprochen habe ich sie nicht. Nachher fühlte ich, dass das eigentlich etwas ganz natürliches gewesen wäre; gekannt hätte ich sie doch genug dazu, nachdem ich einen ganzen Winter mit ihr zusammen Tanzstunde gehabt habe. Aber ich bin eben so viel in Gedanken mit ihr beschäftigt, dass ich fürchtete, ein Anreden hätte auffallen müssen. Aber ich bin eigentlich glücklich gewesen, dass ich es doch nicht tat. Ich glaube, sie geht auch nicht gleichgültig an mir vorbei. In meinen aufgeregten und sehnlichen Stimmung habe ich auf dem Heimweg vom Konzert noch auf der Strasse (bei einer Laterne) ein paar seltsame Verse geschrieben, die ich aber nicht verbessern will, trotzdem sie nur im ersten Taumel geschrieben wurden. Auch weiss ich wohl, dass ich mich (damals zwar kaum bewusst) in den letzten 4 Zeilen an eines aus der Müller-Liedern anlehne. Übrigens haben die Verse keinen Anfang, ich begann eben gerade da, wo meine Erregung ihren Höhepunkt erreicht hatte, als ich an Margrit P. vorbei gegangen war, aber nach 10 Schritten, einem heftigen Zwang folgend, mich umgedreht hatte und in gleicher Richtung wie sie ging.

Die Liebste sah ich wohl,

Wie sie ihr Köpfchen wandte und ihr ängstlich Auge

Schon durch die Menge streifte.

Doch als meinen Blick sie traf,

(Der ich beklommen in die Ecke war getreten)

Da schlug sie schnell die Augen nieder

Und ihr Köpfchen drehte rasch sich weg.

Mir aber ist der Blick

Ins Herz gedrungen, und es bebte lange. –

Ich gehe langsam heim durch stille Strassen.

Der Mond spielt mit den Wolken seltsam Spiel;

Sie gleiten schnell an ihm vorbei und ziehen weiter

Am einsam funkelnden Nachthimmel hin,

Wie weisse Schwäne ziehen auf dem dunkeln Wasser.

Ihr stillen Wolken, fragen wollt ich euch

– Doch wüsstet ihrs, ihr könntets doch nicht sagen –

Hat wohl das liebe Mädchen mich gesucht,

Als es sein Köpfchen scheu und ängstlich wandte?

(Geschrieben auf Notizblatt unter einer Strassenlaterne beim Mühlebachschulhaus Nachts 11 Uhr, 30 April.)

Vor 3 Tagen, also am ersten Mai, war Herr Federer Abends ein wenig bei uns, und ich musste ihm u.a. auch das herrliche Lied «Frühlingsglaube»: «Die linden Lüfte sind erwacht», vorspielen. Die Singstimme konnten wir uns jeder selbst denken, (Mama war ja nicht da; also wurde sie nicht gesungen) und die Begleitung ist schon für sich etwas Wunderbares. Jetzt erst verstehe ich dieses Lied und fühle, wie tief es in Wort und Melodie ist. Ausser diesem Lied gehen mir jetzt noch einige andere immer wieder durch den Kopf, die ich alle jetzt so recht mitfühle, vor allem die ersten Verse von Lenau’s Lied: «Lieblich war die Maiennacht», … dann auch ein einfaches Mittelhochdeutsches mit unbekanntem Verfasser: In liehter varve stât der walt, der vogel schal nu doenet …. . Und schliesslich habe ich wieder Horazens einzigartig schönes Lied auswendig gelernt: «Solvitur acris hiems…» (carm. I, 4) Es liegt etwas Sehnsuchtstärkendes darin, diese schönen Lieder wieder zu lesen; aber ich tue es deswegen doch, denn eigentlich ist dieses ständige Hoffen und Denken an etwas, das einem lieb ist, etwas Schönes, Belebendes, trotzdem es verzehrt, wie zwar eine grosse Flamme sich schneller verzehrt, aber dafür auch desto heller und schöner brennt. Einmal verbrennt auch die kleine, trotzdem sie nie hell gebrannt hat. Mein Lieben hat mich gerettet vor einem immer ärger werdenden philiströsen Pessimismus. Jetzt muss ich vor allem etwas zustande bringen: Ein Zurückfinden aus dem träumenden romantischen Schwärmerzustand zur Fähigkeit, zu arbeiten (das kann ich nämlich jetzt nicht recht und muss es doch wegen der nahenden Matura tun) und daneben die Kunst, meine Liebe in aller ihrer jetzigen Kraft und Sehnsucht zu erhalten. Das erstere wird schwer sein, das zweite nicht; sonst müsste ich an mir selbst irre werden.

Am zweiten Mai habe ich vor dem zu Bette gehen im Schlafzimmer versucht, meine Stimmung festzuhalten und mir einige Sätze aufs Papier geschrieben: «Die Maiennacht hat ihren Zauber über der Erde ausgebreitet, und die linde Luft fliesst durch mein Fenster herein. Ich fühle, dass etwas treibt und schafft in der stillen Natur. Der Nachtwind ist wie ein leises Streicheln, und er streicht über mein Gesicht wie beim Tanz das weiche Haar der Liebsten, wenn sie ihr Gesicht zur Seite neigt. Der herrliche Himmel glänzt aus unendlicher Ferne; seine strahlenden Sterne leuchten der Liebsten so hell wie mir. Alle Bäume stehen in ihrem Licht und wachsen; die volle Knospe ist zersprengt und hält das Leben nicht mehr, das jetzt zart aus ihr entspriesst.»

Nächster Beitrag: 6. Mai 1917 (erscheint am 6. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897) und W 238/04.06-07 (Postkarte um 1900, Originaltitel: «Schloss Werdenberg: Mondschein, Gruss aus Buchs»)

 

Sonntag, 18. März 1917 – Ein junger Gentleman verguckt sich

Bereits im Frühjahr 1914 hatte der damals siebzehnjährige Kantonsschüler Ernst Kind begonnen, ein Tagebuch zu führen. Der Jugendliche lebte nach Kinder- und Jugendjahren in Chur nun mit seinen Eltern und einer Schwester in Zürich. Sein Vater, ein Berufsoffizier, hatte 1894 die elf Jahre jüngere Ida Aldinger geheiratet, die Tochter eines in St.Gallen ansäs­sigen süddeutschen Kaufmanns. Ernst Kind weilte deshalb – gerade auch in Ferienzeiten – oft in St.Gallen bei seiner von ihm verehrten Grossmutter.

Nach einem Geschichtsstudium unterrichtete Kind ab 1925 als Geschichtslehrer an der Kantonsschule St.Gallen, welcher er von 1932-1963 auch als Rektor vorstand. 1932 heiratete Kind die elf Jahre jüngere Arzttochter Wanda Bolter.

Die erste Jugendliebe von Kind entspann sich freilich nicht in St.Gallen, sondern im Spätwinter 1917:

Heute vor 2 Wochen war der Tanzstundenball, auf dem ich mich zum Teil gefreut und zum Teil gelangweilt habe. (Diese Privattanzstunde im Saal zu «Zimmerleuten» ging von Doris› Parallelklasse an der Töchterschule aus, und Doris [die 1899 geborene Schwester von Ernst Kind] und ich waren dabei auch aufgefordert worden.) Diese Tanzstunden fanden ihren Abschluss am Donnerstag (8. März) und auf einem Katerbummel ins Nidelbad am 11. März am Sonntag Nachmittag. Ich hatte dabei ein starkes Erlebnis, das ich mir nicht recht deuten kann, das aber so sehr jetzt in mir nachwirkt, dass ich es beinahe keinen Augenblick aus meinen Gedanken bringe. Wieso kam ich dazu, mich mit einem bestimmten Mädchen lieber zu unterhalten als mit den anderen? Ich spürte das erst am Donnerstag in der letzten Tanzstunde, das [sic] es etwas anderes war, mit ihr zu reden als mit andern. (mit Margrit Peter; was soll ich den Namen nicht hinschreiben, mein Tagebuch soll jedes Geheimnis wissen, und was brauche ich mich zu schämen – meiner ersten Liebe! Ich glaube, das ist es, Liebe.

Wie anders habe ich mir diese vorgestellt. Liebe ist etwas rein geistiges, eine magnetische Wirkung der Seele, von Seele zu Seele, aber eben nicht von jeder Seele zu jeder. Wenn ich jetzt immer an dieses Mädchen denke, so ist es eigentlich nur die Sehnsucht, mit ihr zu sprechen, und zwar über das Ernsteste, Tiefste, was mich bewegt. Daher kommt es auch, dass ich gerade mit diesem Mädchen darüber sprechen will, dass ich schon einen Anfang gemacht habe. Letzten Sonntag im Nidelbad kam ich während eines Tanzes darauf, einen meiner traurigsten Gedanken auszusprechen, nämlich den Glauben an den Egoismus, der uns Menschen alle erfüllt. Ich glaube, ich sagte, alle Menschen handelten nur aus Egoismus und könnten sich nicht höher hinaufringen. Es wurde mir von ihr widersprochen und ich gab dann zu, dass nicht alles rein aus Selbstsucht getan werde. – Aber es ist ja eigentlich einerlei, was ich damals gesagt habe; Hauptsache ist, dass ich etwas sprach, was mich nicht nur äusserlich berührte. Ich spreche sonst zu keinem Menschen etwas von tiefern Fragen und wie ich dazu stehe. Ich wage das nicht; (sogar meinen Eltern gegenüber schweige ich über alles und trage deshalb an allem unendlich schwerer, und komme vielleicht deshalb zu keiner Klärung.) Deshalb liegt es also ganz am Charakter dieses Mädchens, dass ich mich entschliessen konnte, solches zu sprechen.

Sie hat sich auch früher in der Tanzstunde oft nachher erkundigt nach Dingen, von denen ich ein anderes Mal geredet hatte. (Oft z. B. von Musik) daraus bekam ich das Gefühl, sie kümmere sich doch auch ein wenig um das, was ich redete; einfach gesagt, was ich zu ihr bekam und jetzt zu ihr habe, ist viel Vertrauen. Wenn ich jetzt eine so starke Sehnsucht nach ihr habe, so kommt das, weil ich mit aller Kraft einen Menschen suchte, mit dem ich es wagte, zu sprechen. Nun habe ich den Vertrauten in einem mir bisher ganz unbekannten Mädchen gefunden, und die Freude darüber heisse ich Liebe. Jetzt sind die Tanzstunden vorbei, also auch die Möglichkeit weiterer Unterhaltung mit diesem Mädchen. Deshalb ist meine Liebe zur Sehnsucht geworden. Ich bin in einem anormalen Zustand. Instinktiv und beobachtend (schärfer, als ich es sonst kann) treffe ich es immer so, dass ich am Morgen oder am Mittag zur gleichen Zeit auf dem Schulweg bin wie sie. Dann begegne ich sie [sic] in der Rämistrasse, wenn sie von oben herunter kommt und zum Schulhaus an der Hohen Promenade hinaufgeht. Ich gehe links der Strasse (vom Pfauen her)[,] sie kommt mit einer anderen Freundin (die auch an der Tanzstunde war) rechts herunter. Ich entdecke sie schon ganz von weitem und schaue nicht weiter hin, bis ich sie grüsse und für eine halbe Sekunde ansehe. Ich grüsse sie höflich und ruhig; ich verändere mein Gesicht ganz gewiss um keine Spur. Auch sie nickt höflich und freundlich herüber. Ich spüre es aber, wenn ich sie [sic] einmal nicht begegne; es tut mir ganz leis weh; aber wenn ich sie sehe, freue ich mich sehr. Ich kann mir das nicht erklären, denn das hat offenbar nichts mit dem ersehnten ernsten Gespräch zu tun.

Es ist eigentlich eine Art Romantik, finde ich. Ich will aber dafür sorgen, dass das nicht aufhört; denn es ist merkwürdig, wie ich seit diesem ganzen Erlebnis wacher bin als vorher. Der Halbschlaf, in dem mein Geist immer war und den meine Anstrengungen nicht durchbrachen, ist nicht mehr so stark; ich werde etwas frischer. Das ist eine ganz gewaltige Erlösung für mich; denn es hat schon oft nicht viel gefehlt, dass ich beinahe an mir verzweifelt bin. Alles, was ich lerne, bleibt unproduktiv. Ich nehme auf und spüre nichts davon. Es ist, wie wenn sich alles im Hirn verhärten und absterben wollte. Ich kann mein Wissen nicht anwenden, ich kann es nicht wiedergeben. Oft habe ich das Gefühl, selbst etwas schaffen zu können, aber es bleibt in Gedanken verworren und kommt zu keinem Ausdruck. Ich wünschte mir deshalb schon lange eine starke Seelenerregung, weil ich hoffte, damit geistig zu erwachen. Diese Seelenbewegung hat jetzt stattgefunden. Jetzt muss ich nur hoffen, dass sie nicht einschläft oder im anderen Fall nicht noch stärkere Depression schafft.

Wenn ich Margrit Peter sehe, empfinde ich eine tiefinnere Freude und daneben eine Sehnsucht, die mich gleicherweise schmerzt und mir wohl tut. Meine Gefühle den andern gegenüber zu verbergen, ist mir nicht schwer. Ich habe das eigentlich von jeher getan, seit ich überhaupt gelernt habe, über ernsthafte Dinge, die nicht erklärt sind, nachzudenken.

 

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), die Fotografie stammt wie das Tagebuch aus dem Nachlass von Ernst Kind.

Fastnacht

Donnerstag, 15. Februar 1917 – Fasnachtstreiben

Polizeiliche Bekanntmachung

betreffend die

Fastnacht-Anlässe 1917.

Gestützt auf den Regierungsratsbeschluss vom 30. Dezember 1916 wird bekanntgegeben:

  1. Oeffentliche Tanzanlässe sind nur Samstag, den 17., Sonntag, den 18. und Dienstag, den 20. Februar gestattet. An diesen Tagen darf bis morgens um 3 1/2 Uhr getanzt werden. Um 4 1/2 Uhr müssen alle Wirtschaftsräumlichkeiten von den Gästen geräumt sein.
  2. Für Theateraufführungen, musikalische Unterhaltungen und Vereinsanlässe mit Tanz in geschlossener Gesellschaft wird bis morgens 3 Uhr Freinachtbewilligung erteilt, mit der Weisung, das Tanzen bis 2 1/2 Uhr zu beendigen.
  3. Kleine Wirtschaften ohne Saal erhalten während der Fastnachtszeit Freinachtbewilligung bis morgens 2 Uhr für einen Anlass.
  4. Maskengehen und Maskeraden jeder Art (Maskenbälle, öffentliche und in geschlossener Gesellschaft), Fastnachtumzüge, Konfettiwerfen, Abbrennen von Feuerwerk auf öffentlichen Strassen und Plätzen, Bockabende, Kappenfeste und ähnliche Veranstaltungen sind verboten.

Das Herumgehen kostümierter Kinder ist Fastnachtsonntag und -dienstag zur Tageszeit gestattet.

Den Serviertöchtern ist das Tragen von Kostümtrachten in ihren Wirtschaftslokalen bewilligt.

Zuwiderhandlungen gegen diese Vorschriften werden mit Polizeibusse von Fr. 5. bis auf Fr. 150.- bestraft.

St.Gallen, Bruggen, St.Fiden, den 14. Februar 1917.

Die städtische Polizeidirektion.

Das Polizeikommissariat Straubenzell.

Das Polizeikommissariat Tablat.

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, P 909 (St.Galler Tagblatt, 15.02.1917, Abendblatt, Bekanntmachung und Anzeige Kinderfasnacht; Beitragsbild: 14.02.1917, Abendblatt)

SAC Briefkopf

Donnerstag, 1. Februar 1917 – Reklamationen wegen Champagner-Stübli

Im Vorstandsprotokoll des SAC St.Gallen steht zu lesen:

Über den am 1. Febr. 1917 in der Tonhalle stattgehalten[en] [sic] sind uns von verschiedenen Seiten Klagen eingegangen; erstens wegen der Aufstellung von nicht bestelltem Tischwein; zweitens war der Saal zu wenig geheizt & drittens missfiel speziell die Errichtung einer Champagnerlaube mit dito-Damen. Herr Brand erläutert seine mit dem Tonhalle-Wirt getroffenen Abmachungen; aus denen geht hervor, dass wegen des Tischweines die Abmachung bestand, je eine halbe Flasche pro Couvert [pro Gedeck] aufzustellen, wobei aber nicht gemeint war, dass die Restauration die Weine vorher nach der Karte auswählen lasse, um dann ausserdem noch Tischwein mit Extraberechnung aufstellen zu sollen. Wegen des Champagner-Stüblis hat Herr Brand nichts abgemacht. Ferner sind in der Rechnung des Restaurateurs einige Punkte, die Anstoss erregen. Er errechnet 168 Bankette,während unsere Kontrolle 157 angibt. Die Rechnung ist aber schon bezahlt & es lässt sich daher nichts anderes mehr machen. Nach ausgiebiger Erörterung beschliesst man, in einem Brief dem Tonhalle-Restaurateur unsern Standpunkt klar zu legen; er habe uns überfordert [sic] & wir überlassen es ihm, die Sache so weit als möglich zu verbessern.

Der Familienabend wurde im Tagblatt inseriert. Aus der Anzeige ist ersichtlich, welches Programm geboten wurde:

Familienabend SAC

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 023 (Protokoll des Vorstands vom 14.02.1917) und P 909 (St.Galler Tagblatt, 29.01.1917, Abendblatt)

Oberbueren

Sonntag, 7. Januar 1917 – Verspätete Dreikönigspredigt und Theater im «Rössli»

Tagebucheintrag von Johann Baptist Thürlemann (1852-1939):

Sonntag den 7. Januar 1917, sehr kalter, etwas wolkiger Morgen. Starker Reif; hart gefroren. Tagsüber zeitweilig sonnig; öfters düster bewölkt. Nachmittag ziemlich hell. Der ganze Tag war rauh & kalt; es herrschte ein sehr scharfer, kalter Nordwind.  Man musste 2 Mal einheizen. – Abend ziemlich bedeckt; Nacht klar, mondhell & sehr kalt. Gegen Morgen bedeckt. –

Heute wurde das aufgehobene Fest der Hl. Dreikönige gefeiert. –

Morge[n]s nach dem Kaffee machte ich in meinem Schlafzimmer Sonntagstoilette. (Rasieren). – 8-9 Uhr.

Von 9 Uhr bis 3/4 11 Uhr vormittags wohnte ich dem Gottesdienste in der Kirche bei. Zuerst gesungenes Asperges ; Hernach Amt (: mit Rauchwerk: ). –

Nach dem Evangelium Predigt über den Text:

«Gehet hin und forschet genau nach dem Kinde, und wenn ihr es gefunden habet, so zeiget es mir an, damit auch ich komme, es anzubeten!» Matthäus, 2. Cap. 8. V.

Die Hl. Dreikönige wurden durch den Stern im Morgenlande zu Jesus berufen & sie eilten den Weltheiland zu sehen, zu erkennen & der Erlösung durch ihn theilhaftig zu werden.

Durch die Hl. Dreikonige [sic] hat sich Christus auch uns als der erwartete Messias kund gegeben und daher wurde das Fest der Erscheinung des Herrn, die Epiphania Domini schon in den frühesten Zeiten festlich begangen.

Wir sollen uns dieser Offenbarung innig freuen und nicht wie Herodes & die Juden voll Schrecken & Furcht über den neugeborenen König ??? von ihm uns abwenden.

Das neugeborene Kind in der Krippe beseligte die Hl. Dreikönige, erfüllte aber Herodes & Jerusalem mit Angst & Besorgnis, daher die Feindschaft gegen diesen König der Juden & die Anschläge des Herodes gegen dasselbe.

1. Thl. Der zitternde Herodes, trotz seiner Macht.

2. Thl. Der überlistete Herodes trotz seiner Schlauheit!

3. Thl. Der besiegte Herodes, trotz seiner heimtückischen Anschläge. 

1. Charakter des Herodes & seiner 40-jährigen Regierung.

2. Der heuchlerische, scheinheilige Mann, voll Ehrsucht & Herrschsucht.

3. Der grausame, blutdürstige Verbrecher, der vor keinem Mittel zurückschreckt, um sein Ziel zu erreichen, der aber vor der Weisheit & Allmacht Gottes zu Schanden wird. –

Sehr schöne, beschreibende & charakterisierende Predigt. –

Hernach Verkündung des Wochenkalender & der Gottesdienstordnung. Friedensgebet & 5 Vater Unser.

Fortsetzung des Amtes vom Credo an. Opfer für die afrikanische & inländische Mission.

Am Schlusse Grabbesuch mit Ludwig. Wir kehrten gemeinsam nach Hause [zurück]. Bald nach 11 Uhr speisten wir zu Mittag.

Von 1h bis 1/2 2 Uhr nachmittags wohnte Caroline dem Gottesdienste wieder bei ( : Rosenkranz, Allerheiligenlitanei & Te Deum – Dreikönigswasser und Salzweihe. Ich liess ebenfalls eine Schale Salz in die Kirche bringen.

Den Nachmittag & Abend brachte ich zu Hause mit Lektüre zu. 

Im «Rössli» dahier spielte wieder der Jünglingsverein Theater, von 3h bis 7 1/4 Uhr. – Der Besuch soll ein starker gewesen sein.

Um 1/2 10 Uhr begab ich mich zu Bette.

Nächster Beitrag: 9. Januar 1917 (erscheint am 9. Januar 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035b (Familie Thürlemann zum Hirschen, Tagebücher von Architekt Johann Baptist Thürlemann, 1852-1939) und ZOA 008/1.014 (Oberbüren, 3.10.1907, Fotografie von Johann Baptist Thürlemann)

 

Haus zum Hirschen

Samstag, 6. Januar 1917 – Kinderbegräbnis

Tagebucheintrag von Architekt Johann Baptist Thürlemann (1852-1939), Oberbüren:

6. Januar 1917.

wolkig & bedeckt, theils mondhell.

Leichter Schneefall. Gegen Morgen hell & sehr kalt. Der kleine Schnee gefror hart. – Starker Reif bis Mittag.

Morgens stand ich ziemlich frühe auf & machte noch dem Morgenessen Toilette. –

Gegen 3/4 8h begab ich mich in’s Unterdorf – zum Hause des Wagners Friedrich Lengg, um an der Beerdigung seiner 2 kleinen Kinder [teilzunehmen], die am 1. Januar geboren wurden und wegen Lebensschwäche schon nach 2 Tagen wieder starben.

Als Gespan hatte ich den Nachbar[n] J. B. Kempter. – Es war empfindlich kalt. Nach der Beerdigung wurde in der Kirche vom Ortspfarrer, vom Chore aus, das Geburts- & Todesdatum der 2 Mädchen: Pauline Frieda und Hedwig Lydia, sowie die bei diesem Anlasse von deren Eltern gemachten Vermächtnisse verlesen.

Fr. 5 an den hies. Friedhofsverein.

» [Wiederholungszeichen von obiger Zeile für «Fr.»] 5 an die Anstalt für Epileptische

sowie ein Quantum Brod für die Hausarmen.

Hierauf fand eine stille Messe mit Rosenkranz statt. – Hernach Grabbesuch. – Die Zahl der Teilnehmer war nicht gross. – 3/4 9h.

Hernach hatte die Verwandtschaft ein Essen im «Eidgenöss. Kreuz» dahier. (: Es bestand in Fleischsuppe, Kalbsbraten, KartoffelnSchnitzen & Kopfsalat. Dessert: Bisquittorte & schwarzer Kaffee. – Das Essen soll vorzüglich gewesen sein : )

Vormittags besorgte ich die üblichen Samstagsarbeiten: Ordnen & Aufräumen etc. –

Nachmittags von ca. 3/4 2 Uhr bis gegen 1/2 5 Uhr machte ich einen Spaziergang über die Wiesen zum Wald. Von dort auf die Höhe des Bürerwald & auf dem Höhenrücken südlich vom «Buchen» zur Landstrasse nach Niederwil. Von dort auf einem Fusswege in’s Schlosstobel bis hinauf nach Storchegg. Von Storchegg gegen Rätenberg. Dann zurück gegen Städeli & zur Höhe des StorcheggerWaldes am Abhange des Schlosstobels. Hierauf trat ich den Rückweg an, den waldigen Abhang hinunter gegen «Städeli» & «Wieden«. Vom «Wieden» durch den «Schalmenacker» zu den Corporationswiesen, zum «Berg«; «Brandkropf» Unterziel & über die Wiesen nach Hause. –

Nach dem Kaffee besorgte ich einige Arbeiten im Hause & las später die Zeitungen.

Um 9 Uhr begab ich mich zur Ruhe.

Nächster Beitrag: 7. Januar 1917 (erscheint am 7. Januar 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035b (Familie Thürlemann zum Hirschen, Tagebücher von Architekt Johann Baptist Thürlemann, 1852-1939) und ZOA 008/1.052 (Oberbüren, Haus zum Hirschen, Wohnort von Ludwig Thürlemann, Bruder von Johann Baptist, der im Tagebuch oft erwähnt wird)

 

Sonntag, 15. Oktober 1916 – Der Architekt fotografiert auf dem Sonntagsspaziergang

Oberbüren, Dorfpartie (Negativ auf Glasplatte).

Johann Baptist Thürlemann, Architekt in Oberbüren, hinterliess eine sorgfältig datierte Negativsammlung. Diese beiden Bilder schoss er am Sonntag, den 15. Oktober 1916.

Thurau

Thurau bei Oberbüren, im Hintergrund Niederbüren (Negativ auf Glasplatte).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZOA 008/1.028 und ZOA 008/1.018 (fotografischer Nachlass von Johann Baptist Thürlemann (1852-1939), Architekt in Oberbüren)

Sonntag, 17. September 1916 – Der Arbeitersekretär macht sich Gedanken zum eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag und entwickelt Familienfotos

Von Josef Scherrer geknipstes und selbst entwickeltes Bild vom Familientreffen am Bettag 1916 in Wittenbach bei seinen Eltern. Das Bild ist hinten in einem seiner Tagebücher eingeklebt.

Eidgenössischer Dank-, Buss- & Bettag.

Der eidgenössische Dank-, Buss- & Bettag kehrt zum drittenmal in der Kriegszeit. Tod und Schrecken sind rings an den Grenzen unseres Landes an die Stelle des Friedens getreten. Ein Ende des Ringens der Völker ist nicht zu denken. Da müssen wir Schweizer Gott, unserem einzigen Schirmherrn und König, mit umso grösserer Liebe danken, dass er unser Land nicht in den Krieg führte, sondern gnädiglich verschonte. Wir haben diese Gnade zwar nicht verdient, nicht verdient hat sie unser Volk und zuletzt ich selbst. Wir hätten eigentlich die gleichen Strafen verdient wie die übrigen Völker! Denn auch unser Vaterland ist von den alten Fehden der ewigen sittlichen Normen abgewichen. Mit bangem Herzen denkt man in dieser Gerichtsstunde daran. Möge Gott der Herr uns auch fernerhin, für uns und unsere Kinder das hohe Gut des Friedens bewahren!

Am Morgen empfange ich gemeinsam mit meiner lieben Gattin in der Kathedrale in St. Gallen das heiligste Altarsakrament. Oh wie unendlich gut ist doch Gott, dass er sich mit uns sündigen schwachen Menschen in der heiligen Brotsgestalt vereinigt und sich uns zur Seelennahrung gibt. Ich opfere die heilige Kommunion auf in erster Linie für meine herzensgute, treue und liebe Gattin, die vor ca. 15 Tagen durch Gottes Willen wieder Mutter geworden ist. Ich bete auch für meine Kinder, meine Eltern, Geschwister und Verwandten. Möge Gott sie alle auf dem rechten Wege führen und sie einst in das ewige Vaterland einziehen lassen.

Am Nachmittag gehen wir alle zusammen zu meinen Eltern nach Wittenbach. Ich freue mich immer darauf[,] auch meinen lieben Eltern einige Stunden zu widmen. Ich bin immer so stark engagiert, dass ich ja nur selten das grosse Glück habe, mit meiner Familie den ganzen Sonntag teilen zu können. Heute konnte ich das wieder einmal. Wittenbach ist immer noch ein liebes trautes Dörfchen. Tausend Jugenderinnerungen verbinden mich noch mit meiner eigentlichen Heimat. Denn da, wo man geboren und aufgewachsen ist, da grüsst die Heimat. Ich will damit nicht meinen Bürgerort Mosnang an zweite Stelle setzen. Mosnang mochte für meine Ahnen die Heimat sein, ich kenne es nicht und muss mich eigentlich schämen, noch nie meine Heimatgemeinde gesehen zu haben. In den Kirchturm hat vor einigen Wochen der Blitz eingeschlagen und bedeutenden Schaden verursacht. Man ist gegenwärtig daran, den Schaden zu reparieren.

Meine Mutter ist verhältnismässig ordentlich daran, meinem Vater geht es augenscheinlich nicht gut. Er hat sehr gealtert. Die Tage des Alters mit allen Gebrechen haben begonnen und ich bete zu Gott, dass er meinen lieben Eltern in den vielen Widerwärtigkeiten Trost und Geduld geben möge. Meine Eltern haben nur ein Leben der Sorge durchgekostet, besonders meine[r] liebe[n] Mutter möchte doch die Sonne noch etwas scheinen an ihrem Lebensabend!

Ich fotografiere noch die ganze Gruppe, ob die Bilder etwas werden, ich weiss es nicht, denn ich arbeite auf diesem Gebiete bis jetzt bedenklich schlecht! Möchte der heutige Tag aber doch in einem schönen Bildchen für immer festgehalten sein.

Der Abend führt uns zurück nach dem Krontal, wo wir seit Mai 1916 unsere Niederlassung genommen haben. Die Kinder und meine liebe Gattin, alle meine Herzlieben sind müde und gehen bald ins Bett. Ich gönne mir noch keine Ruhe, denn die aufgenommenen Bildchen müssen noch entwickelt sein! Die kommende Woche würde ich hiezu doch keine Zeit finden.

Gott, ich danke dir für den heutigen, so schönen Tag! Mögen solche Tage, die nur der Familie gehören, wiederkehren und möge der rotleuchtende Liebesmorgen immer bleiben, bis ein feierlicher Abend blinkt zum ewigen Start!

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Text und Bild)