Mittwoch, 15. November 1916 – Offene Worte der Gewerkschaft: Neue Arbeitsverträge und mehr Lohn oder Streik

Jakob Jäger wurde am 25.01.1874 in Stein am Rhein (SH) geboren. Er machte eine Lehre als Zimmermann und zog 1900 nach St.Gallen, wo er gewerkschaftlich aktiv wurde. Von 1903 bis 1910 war er Präsident des Zentralverbandes der Zimmerleute der Schweiz. Sein Nachlass kam als Teil des Unia-Gewerkschaftsarchivs ins Staatsarchiv St.Gallen.

Sämtliche Anstrengungen zur Mitgliederwerbung und Mobilisierung der Arbeiterschaft hatten offenbar nicht gefruchtet. Im folgenden Schreiben des Verbandes der Zimmerleute der Schweiz versucht der Vorstand, den Sektionen eine neue Taktik aufzuzeigen:

Zentralverband der Zimmerleute der Schweiz.

An die Mitglieder und Sektionsvorstände.

Werte Kameraden! In den letzten Vorstandssitzungen haben wir uns eingehend mit der Lage unserer Mitglieder beschäftigt und sind dahin einig geworden, dass es auf diesem Wege nicht mehr vorwärts gehen kann, sondern dass mehr seitens unseres Verbandes getan werden muss[,] um gegen die Verschlechterung der Lebenshaltung Front zu machen. Die Lohnerhöhungen unserer Kameraden bleiben in Wirklichkeit noch weit mehr als es den Anschein hat, hinter der Verteuerung der Lebenshaltung zurück. Die Arbeitgeber verbreiten systematisch falsche Nachrichten über die Lohnerhöhungen, um ihre Arbeiterfreundlichkeit zu zeigen und wir unterstützen sie indireckt [sic] dabei, indem auch wir unsere Errungenschaften im besten Lichte zeigen, um so die Unoragnisierten [sic] besser mit vorwärts zu bringen. In Wirklichkeit bleiben die Erfolge oft weit hinter den Angaben zurück. Die von den Arbeitgebern zugebilligten Lohnerhöhungen und Teuerungszulagen werden oft garnicht [sic] bezahlt oder durch den steten Wechsel der Arbeitskräfte illusorisch gemacht. Könnten wir eine umfassende und genaue Statistik beschaffen über die Löhne, wie sie jetzt bezahlt werden und wie sie unmittelbar vor dem Kriege bezahlt worden sind, die Zugeständnisse der Arbeitgeber würden in einem ganz anderen Lichte erscheinen.

Schuld an diesen traurigen Zuständen sind nicht allein die wirtschaftlichen Verhältnisse sondern auch unsere Kameraden, die zu wenig Energie auf die Verbesserung ihrer Lage verwenden. Wir haben uns deshalb auch eingehend mit den Fragen befasst[,] wie wir diesem Energiemangel abhelfen, wie wir unseren Bewegungen mehr Schwung geben und wie wir sie auch erfolgreicher machen können. Und da sind wir zu der Ansicht gekommen, dass es an der Zeit ist, unseren Lohnbewegungen mehr Einheitlichkeit zu geben, wie es schon an der letzten Delegiertenversammlung so dringend verlangt worden ist.

Dies könnte erreicht werden, wenn wir im nächsten Frühling etwa in folgender Weise vorgehen würden:

Wo die Kameraden einigermassen Aussicht auf Beschäftigung für den nächsten Frühling haben, sollte die Sektion eine Lohnbewegung organisieren, und dies so rechtzeitig, dass die Forderungen den Arbeitgebern spätestenst [sic] Anfang März zugestellt werden können. Das Ziel der Bewegung sollte die Schaffung eines Arbeitsvertrages sein, der eine geregelte Arbeitszeit bringt und wenigstenst [sic] als Nettoergebnis einen blanken Zehner [= 10 Rp.] als Erhöhung des Stundenlohnes. Die Forderungen, über die sich noch näher zu verständigen wäre, müssten möglichst einheitlich auf der ganzen Linie sein, zum wenigsten aber so gehalten sein, dass die Sektionen sich nicht gegenseitig damit schaden. Das Einbringen und Verhandeln über die Forderungen wäre, wie bisher, Sache der Sektionen selb[s]t, ebenso der endgültige Entscheid über das Abkommen mit den Unternehmern. Aber jede Sektion müsste sich zur dringendsten Pflicht machen, auch keinen Vergleich abzuschliessen, der die anderen schädigen könnte. Wo die Kraft der Organisation nicht ausreicht, nennenswerte Zugeständnisse zu erreichen, sollte mit dem Abschluss der Bewegung gewartet werden, bis die stärkeren Sektionen ihre Sache geregelt haben.

In dieser Weise würden unsere Bewegungen im ganzen mehr Bedeutung erhalten und die kleinen Sektionen würden auch besser mit fortgerissen werden. Wenn wir dann überall den kommenden Winter zur energischen Rüstung benutzen, die Unorganisierten in den Verband bringen, gutes statistisches Material über die Löhne beschaffen und uns einrichten, dass wir auch den Streik als Pressionsmittel mit in Erwägung ziehen können, so werden unsere Bemühungen sicher erfolgreicher werden, als bisher.

Wir ersuchen nun die Sektionen, die Angelegenheit in den nächsten Versammlungen zu behandeln. Der beiliegende Fragebogen kann wegleitend für die Diskussion sein. Nach gründlicher Klarstellung der Meinungen der Mitglieder sollten die Fragen gemäs[s] der Mehrheit beantwortet und der Bogen uns bis zum 18. Dezember wieder zugeschickt werden.

Von den Antworten der Sektionen wird es abhängig sein, in wieweit der Zentralvorstand in die Bewegungen eingreifen kann. Falls die Sektionen es wünschen, sind wir gerne bereit, an einer Versammlung teilzunehmen und weitere Auskunft zu geben.

In der Hoffnung, alle Sektionen werden uns ihre Antworten zu dem erwähnten Termine zukommen lassen, grüsst kameradschaftlich

Der Zentralvorstand.

Basel, den 15. Nov. 1916.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 240/1.3-10 (Korrespondenz im Nachlass von Jakob Jäger (1874-1959)) und ZMA 18/06.00-04 (Streik der Rickentunnel-Arbeiter, Auszug aus einer Ansichtskarte von 1904)

Mittwoch, 18. Oktober 1916 – Nochmals Mitgliederwerbung für die Gewerkschaften

Jakob Jäger wurde am 25.01.1874 in Stein am Rhein (SH) geboren. Er machte eine Lehre als Zimmermann und zog 1900 nach St.Gallen, wo er gewerkschaftlich aktiv wurde. Von 1903 bis 1910 war er Präsident des Zentralverbandes der Zimmerleute der Schweiz. Sein Nachlass kam als Teil des Unia-Gewerkschaftsarchivs ins Staatsarchiv St.Gallen.

Im folgenden Schreiben des Verbandes der Zimmerleute der Schweiz geht es erneut um die Mitgliederwerbung für die Gewerkschaften:

Basel, den 18. Okt. 1916.

An Genossen G. Lautenschlager, St.Gallen.

Werter Kamerad! Wir haben Deinen Bericht zur Kenntnis genommen und verdanken denselben aufs beste. Wenn auch kein Erfolg zu verzeichnen ist, so darfst Du Dir [sic] deswegen nicht von weiterer Arbeit abschrecken lassen. So schnell geht es heute nicht mit der Organisation. Es wird noch grosser Mühe bedürfen, den Sumpf trocken zu legen in dem unsere Berufskollegen herumstiefeln.

Bei meiner Anwesenheit in Rheineck wurde von den Mitgliedern beschlossen, an Deine Hilfe zu appellieren und Dich nächstenst [sic] zu einer Versammlung kommen zu lassen. Ich denke Du wirst bereits einen diesbezüglichen Auftrag von Rheineck empfangen haben, und wir ersuchen Dich dem Wunsche der Sektion zu entsprechen wenn irgend möglich. Auch hier ist ein weites Agitationsfeld und wenn wir die Leute nicht in ihren Hütten aufsuchen, so werden wir sie nicht bekommen.

Von den Adressen habe ich Kenntnis genommen und ich werde diese Kameraden noch in dieser Woche zu Eurer nächsten Versammlung einladen und sie [sic] die Zeitung nebst anderem Agitationsstoff senden. Es wäre gut, wenn Eure Agitationskommission sich auch hier sofort an die Arbeit an die Arbeit [sic] machen würde.

Wir müssen die Leute haben, sollen sich unsere Lohnverhältnisse nicht noch mehr verschlechtern und in der Hoffnung, dass Du recht bald über bessere Erfolge berichten kannst,

grüsst kameradschaftlich

W. Schrader.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 240/1.3-10 (Korrespondenz im Nachlass von Jakob Jäger (1874-1959)) und W 076/4.7 (1. Mai-Feier in Rheineck, 1919)

 

Donnerstag, 5. Oktober 1916 – Die Arbeiter gehen nicht zum Coiffeur, dieser macht Verluste und erhöht die Preise

Jakob Jäger wurde am 25.01.1874 in Stein am Rhein (SH) geboren. Er machte eine Lehre als Zimmermann und zog 1900 nach St.Gallen, wo er gewerkschaftlich aktiv wurde. Von 1903 bis 1910 war er Präsident des Zentralverbandes der Zimmerleute der Schweiz. Sein Nachlass kam als Teil des Unia-Gewerkschaftsarchivs ins Staatsarchiv St.Gallen.

Im folgenden Schreiben geht es um das Coiffeurgewerbe. In St.Gallen existierte in der Brühlgasse eine Coiffeur-Gewerkschaft, die von den Arbeitern frequentiert werden sollte. Da in Arbeiterhaushalten das Geld in Kriegszeiten knapp war und die Arbeiter teilweise wegen Dienstverpflichtungen abwesend waren, beklagten die Coiffeure eine Frequenzeinbusse:

St.Gallen, den 5.X.16

Werte Genossen!

Der Verwaltungsrat der Coiffeur-Gewerkschaft Brühlgasse 39 hat in seiner Sitzung vom 27.IX. beschlossen ab Montag, den 2. Oktober den Tarif II in Anwendung zu bringen. Maassgebend [sic] war in erster Linie die Steigerung der Materialpreise für den Service um 50 bis 100%. Zweitens muss in Folge der bestehenden Teuerung eine höhere Löhnung der Angestellten eintreten. Und drittens wird das Geschäft seitens der Genossen noch immer nicht in der Anzahl besucht, welche notwendig ist, damit das Unternehmen für die Dauer gehalten werden kann.

Seit der Zeit des Krieges arbeiten wir mit einer Unterbilanz. Diese muss unbedingt wieder gehoben werden, was nur geschehen kann durch zeitgemässe Regulierung der Bedienungspreise u. bessere Frequentierung durch unsere Genossen[.] Würden diese mehr vom Genossenschaftswesen durchdrungen sein, so hätten die Unterzeichneten nicht immer und immer wieder Veranlassung mit einem Appel [sic] für die Genossenschaften an die Genossen heranzutreten.

Wenn diese überhaupt eine Ahnung davon hätten, wie geringschätzig sie von den Coiffeur-Meistern, deren Geschäfte sie ihrem eigenen vorzuziehen belieben, taxiert werden, namentlich in Zeiten von Streiks etc und welch heftige Gegner die Coiffeurmeister der Arbeitergenossenschaft gegenüber sind[,] so sind wir der Ueberzeugung, dass die Genossen ihre Genossenschaft nicht so in Stücke [im Stiche] lassen würden.

Alles das in Erwägung gezogen wird Euch, Genossen, veranlassen, dem Preisaufschlag keine Schwierigkeiten in den Weg zu legen und Eure Genossenschaft nach wie vor fleissig in Anspruch zu nehmen.

Mit Genossengruss zeichnet

per [Stempel] Coiffeur-Genossenschaft St.Gallen

(sig) Emil Schweizer, Kassier (sig) Jakob Staudenmeier, Präsident

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 240/1.3-10 (Korrespondenz im Nachlass von Jakob Jäger (1874-1959))

Donnerstag, 28. September 1916 – Die Gewerkschaften auf Mitgliederwerbung

Jakob Jäger wurde am 25. Januar 1874 in Stein am Rhein (SH) geboren. Er machte eine Lehre als Zimmermann und zog 1900 nach St.Gallen, wo er gewerkschaftlich aktiv wurde. Von 1903 bis 1910 war er Präsident des Zentralverbandes der Zimmerleute der Schweiz. Sein Nachlass kam als Teil des Unia-Gewerkschaftsarchivs ins Staatsarchiv St.Gallen.

Im folgenden Schreiben geht es um die Mitgliederwerbung für die Gewerkschaften:

Zentralverband der Zimmerleute der Schweiz.

An die Sektionsvorstände!

Werte Kameraden! Wie s bisher fast in jeder Nummer unseres Berufsorgans betont und auch jedenfalls von den Delegierten der letzten Generalversammlung noch besser erläutert worden ist, müssen wir es als dringendste Pflicht betrachten, das Tätigkeitsfeld unseres Verbandes wieder zu erweitern und die Zahl der Mitglieder zu heben.

Unsere Lebenshaltung ist bereits soweit heruntergedrückt, dass eine weitere Verschlechterung nicht mehr erträglich ist. Würde eine solche eintreten, so kommen unsere Berufskollegen in die Gruppe jener Proleten, die den letzten Rest von Energie verloren haben und sich aus eigener Kraft nicht mehr auf ein höheres Kulturniveau schwingen können.

Das müssen wir um jeden Preis verhindern. Und wir können es verhindern, wenn wir ein reges Organisationsleben entfalten. Ueberall, wo nur die geringste Aussicht ist, eine Lohnerhöhung zu erhalten, sollten die Mitglieder aufgefordert werden, eine solche zu erlangen. Die Organisationsidee muss mehr in die praktische Tat umgesetzt werden. Das imponiert auch am ersten die unorganisierten Berufskollegen, die zu gewinnen wir keine Opfer und Mühe scheuen dürfen.

In der letzten Vorstandssitzung haben wir uns mit der Frage befasst, wie wir die Agitation beleben und die Sektionen am besten unterstützen können. Nach Erwägung aller Umstände haben wir gefunden, dass am ersten Erfolge zu erwarten sind, wenn wir die Agitation möglichst in der Stille, aber um so energischer betreiben. Wir denken uns die Sache so:

Die Sektionen sammeln in den nächsten Tagen die Adressen der unorganisierten Zimmerleute und schicken uns dann dieses Material zu. Dabei teilen sie uns mit, wann und wo die nächste Versammlung ist und unter welchen Bedingungen sie bereit sind, die in Frage kommenden unorganisierten Kameraden wieder aufzunehmen. Wir werden dann, gestützt auf diese Angaben, für jede Sektion ein besonderes Einladungsschreiben machen und dieses mit noch anderem Agitationsmaterial an die Unorganisierten senden.

Wo Aussicht vorhanden wäre, einige oder eine Anzahl der Unorganisierten in die Versammlung zu bringen, oder wo eventuell auch die Mitglieder einmal wieder Lust haben, ein Referat über unsere beruflichen und wirtschaftlichen Verhältnisse anzuhören, sind wir gerne bereit, einen Referenten aus unserem Berufskreise für die geplante Versammlung zustellen [sic]. Wo dieses hingegen nicht gewünscht wird, sollte die Einladung doch stattfinden. Kommen einige der Eingeladenen, so wird es überall fähige Mitglieder geben, die den Leuten den Kopf waschen und ihnen die Notwendigkeit der Organisation erklären können. Im anderen Falle wird aber Arbeit und Porto auch nicht unnütz sein, da die Unorganisierten doch einmal wieder an ihre Pflichten gegenüber ihren Nebenarbeitern erinnert worden sind.

Wir sind bereits in dieser Weise vorgegangen und haben ganz erfreuliche Erfolge zu verzeichnen. Dabei ist natürlich nicht gesagt, dass die Sektionen nicht noch mehr leisten müssen. Die beste Agitation ist und bleibt die mündliche auf den Arbeitsplätzen und in der Wohnung. Die Hausagitation wird aber sicher bedeutend mehr Erfolg haben, wenn sie in dieser Weise vorbereitet worden ist. Auch die Hausagitatoren werden sich eher finden, wenn sie so quasi nur nachsehen müssen, wie unser Agitationsstoff aufgenommen worden ist.

Wir erwarten also, dass die Frage in der nächsten Versammlung ernstlich behandelt wird und in der Hoffnung, recht bald Aufträge und Material zu erhalten, zeichnet

mit kameradschaftlichem Gruss

Der Zentralvorstand.

Basel, den 28. Sept. 1916.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 240/1.3-10 (Korrespondenz im Nachlass von Jakob Jäger (1874-1959)) und A 151/4.3-34-07-42 (Bau der Thurbrücke zwischen Brandholz und Giselbach in der (heutigen) Gemeinde Ebnat-Kappel, 1913)

Sonntag, 10. September 1916 – „Die Arbeiterschaft will nicht Unterstützungen, sondern eben Arbeit, Verdienst.“

Ostschweizerische Delegiertenversammlung       

Casino – St. Gallen. 10. September 1916.

Christlich-soziales Kartell Rorschach

Leofeier, abends 4 Uhr im Kasino Rorschach.

Ich halte ein Referat über aktuelle Tagesfragen.

Vikar Frick referiert über die Enzyklika Rerum Novarum.

Im Tagebuch eingeklebt ist ein Zeitungsartikel zur Delegiertenversammlung der Christlich-Sozialen Partei im Casino in St.Gallen, den Scherrer erwähnt:

Notstandstagung der ostschweizer. Christlich-Sozialen.

St.Gallen, 1. September

-sk. Im „Casino“ in St.Gallen tagten heute unter Vorsitz von Kantonsrat und Arbeitersekretär Scherrer-St.Fiden die Delegierten der ostschweizerischen christlich-sozialen Arbeiterorganisationen 108 Personen stark zur Besprechung der gegenwärtig drohenden Notlage der Arbeiterschaft und der Massnahmen zur wirksamen Bekämpfung der Teuerung. Die 108 Delegierten vertragen 11,500 organisierte Arbeiter und Arbeiterinnen.

Kantonsrat Scherrer referierte über die gegenwärtige Teuerungs- und Notstandslage und der durch diese bedingten Massnahmen. Der Referent wies einleitend auf die immer schwieriger sich gestaltenden Verhältnisse unserer Import- und Exportverhältnisse hin und die sich dadurch ergebenden Schwierigkeiten für den Arbeiter; eine steigende Erwerbsunsicherheit, zunehmende Arbeitslosigkeit, grosse Verdienstausfälle sind die für das arbeitende Volk sich ergebenden fatalen Folgen der schlechten Industrielage, besonders in der ostschweizerischen Stickereiindustrie. Aber nicht nur der Ausfall an Lohneinnahmen verschlechtert die Existenzverhältnisse der untern Klassen, sondern äusserst drückend wirkt vor allem die stets noch steigende Teuerung. In vielen Arbeiterfamilien sind die Verhältnisse unhaltbar geworden, eine eingetretene Unterernährung in weiten Kreisen kann nicht bestritten werden. Anerkennend wurde hervorgehoben, dass man der Bundesbehörde und den Regierungen für die zur Sicherung der Verproviantierung unseres Landes getroffenen Massnahmen volles Vertrauen entgegenbringe und gewisse sich den Behörden entgegenstellende Hindernisse auch in der Arbeiterschaft nicht übersehen werden. Dagegen hätte ein hin und wieder früheres und energischeres Eingreifen das Volk noch vor manchen andern Schädigungen und Ausbeutungen durch gewissenlose Spekulanten bewahrt. Dringend muss aber verlangt werden, dass die vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen, Höchstpreise u. dgl. auch glatt zur Durchführung kommen und die heute en gros betriebenen Umgehungen derselben durch die kantonalen und kommunalen Behörden energisch und sofort geahndet und bestraft werden. Es sind hier schreiende Missverhältnisse zu konstatieren, die nicht vorkommen würden, wenn besonders alle kommunalen Behörden ihre Pflicht erfüllen würden. Der Referent postulierte mit vollem Recht eine schärfere und durchgreifende Kontrolle der Höchstpreise, Kontrolle der Märkte usf. Um die Verproviantierung des Volkes für den nächsten Winter sicherzustellen, wurde für das ganze Land die Bestandesaufnahme der Lebensmittel verlangt. Ebenso wurde die sofortige Festsetzung von Höchstpreisen für das Obst, wie der Erlass eines Ausfuhrverbots dringend verlangt. Das Obst soll, da besonders die Aepfel eine normale Ernte haben, dem eigenen Volke zu einem anständigen, käuflichen Preise erhalten bleiben. Dem Obstdörren muss besonders infolge des eintretenden Mangels an Kartoffeln besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Für die Lebensmittel soll auch der Verkaufszwang eingeführt werden, da Höchstpreise praktisch nur so lange Wert haben, als genügend Waren vorhanden sind. Die Ausfuhr von Schlachtvieh muss verhindert werden. Gemeinden, Genossenschaften und Privathandel sollen bei Fürsorgeaktionen für die ärmsten Klassen Lebensmittel zum Selbstkostenpreise abgeben. Die Unkosten sind durch die Gemeinden zu tragen.

Im weiteren wurde der entschiedenen, gewerkschaftlichen Aktion gerufen. Besonders soll die Arbeiterschaft den Arbeitslosenkassen grösste Aufmerksamkeit entgegenbringen. Mit Ungeduld erwartet man einmal bestimmten Aufschluss über die längst in Szene gesetzte Notstandsfondsaktion der Stickereiindustriellen. Nach wir vor ist der Arbeitsbeschaffung für die Arbeitslosen dringende Beachtung zu schenken. Die Arbeiterschaft will nicht Unterstützungen, sondern eben Arbeit, Verdienst. Die eidgenössischen, kantonalen und kommunalen Behörden sollen planierte [geplante] Bauten, Strassen, Bachverbauungen, Bodenverbesserungen jetzt durchführen. Der Arbeit steht dann eine effektive Gegenleistung gegenüber, was bei blossen Unterstützungen nicht der Fall ist. Die Vereine werden angehalten, an jedem Orte eine eigene lokale Notstandskommission zu bilden, der der Referent eine Reihe höchst aktueller und wichtiger Aufgaben zuwies. Wir nennen: Kontrolle der Lebensmittelpreise, monatliche Preisstatistik, Fürsorge für bedürftige Mitglieder und unorganisierte Arbeiter, Schaffung einer kommunalen Beratungsstelle, Strafanzeige bei Höchstpreisübertretungen, regelmässige Berichterstattung über Betriebseinstellungen, Lohn- und Arbeitsverhältnisse, Fürsorgetätigkeit an die zentrale Notstandskommission. –

Schliesslich wurde auch die Bedeutung des Anbaues von Pflanzland für den Arbeiter hervorgehoben. Die Gemeinden sollten Pflanzland den unbemittelten Leuten unentgeltlich überlassen, Samen und Setzlinge zum Selbstkostenpreise überlassen, der Staats sollte auch dem Arbeiter, sofern er nicht Gratisland bebauen kann, eine angemessene Anbauprämie geben. Die Vereine sollen über den Gartenbau aufklärende und schulende Vorträge halten. – Den Hypothekarverhältnissen, die heute besonders drückend wirken für die kleinen Leute, soll ebenfalls vermehrte Aufmerksamkeit zugewendet werden. Rigoroses Vorgehen der Bankinstitute soll dem zentralen Notstandskomitee gemeldet werden, damit die geeigneten Schritte unternommen werden können.

Schliesslich werden die Vereine aufgefordert, während der kommenden Winterszeit nicht müssig zu bleiben, sondern alles einzusetzen, um Not zu lindern und zu verhüten. Wir wollen auf dem Boden der Gesetzlichkeit, des bestehenden Rechts und der bestehenden Ordnung die Interessen des arbeitenden Volkes mit aller Entschiedenheit vertreten und wahren. Wir hoffen dabei aber zum allermindesten eine Unterstützung und Berücksichtigung seitens der Bundes- und kantonalen Regierungen, wie die antinationale, radikale und revolutionäre Sozialdemokratie. Gegen die im „System“ liegende Zurücksetzung der christlich-nationalen Arbeiterschaft ist der laute und nachdrückliche Protest heute doppelt notwendig.

Die lebhaft einsetzende Diskussion, die die Ausführungen des Referenten übereinstimmend und energisch unterstützte, wurde benützt von Gemeinderat Braun, Verbandspräsident der Genossenschaften Konkordia, Kantonsrat Dr. Duft, Sekundarlehrer Pfister, Vikar Kissling, Schönenberger, Sticker, Hutter-Gschwend, Commis, Kantonsrat Bruggmann, Frl. Braun, Schwizer, Sticker, Täschler, Verwalter Eisele, Kantonsrat Klaus u.a.

Die Versammlung nahm hierauf einstimmig eine von Kantonsrat Brielmaier gestellte Resolution an, die den vom Referenten aufgestellten Postulaten zustimmt und das ostschweizerische Komitee beauftragt, die notwendigen Schritte zur Bekämpfung des Wuchers und der Lebensmittelspekulation bei den eidgenössischen und kantonalen Regierungen unverzüglich zu unternehmen und für die Durchführung der Postulate rastlos tätig zu sein.

Das bestehende ostschweizerische Komitee der christlich-sozialen Arbeiterverbände wurde mit Kantonsrat Scherrer an der Spitze einstimmig bestätigt.

Die Christlichsozialen drei Jahre später (Oktober 1919) an der Feier im Casino St.Gallen anlässlich der Nationalratswahlen. Von links nach rechts: Gewerkschaftssekretär Gustav Helfenberger, Albert Rütsche, Dr. Max Rohr, ein Kollege aus Bruggen, Joh. Müller, Dr. Johannes Duft, Josef Bruggmann, Josef Scherrer, Lehrer J. Seitz, Bankdirektor John Merten, Zeughausarbeiter Josef Odermatt, Baumberger (?), Zugführer Bischof, Conducteur Mösle

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108 (Tagebucheintrag) und P 907 (Die Ostschweiz, 43. Jg., Nr. 211 vom 11.09.1916, Abendblatt) sowie W 268/05.01 (Foto der Wahlfeier)

Mittwoch, 28. Juni 1916 – 10% mehr Lohn für Glasergehilfen

Jakob Jäger wurde am 25.01.1874 in Stein am Rhein (SH) geboren. Er machte eine Lehre als Zimmermann und zog 1900 nach St.Gallen, wo er gewerkschaftlich aktiv wurde. Von 1903 bis 1910 war er Präsident des Zentralverbandes der Zimmerleute der Schweiz. Sein Nachlass kam als Teil des Unia-Gewerkschaftsarchivs ins Staatsarchiv St.Gallen. Mit folgendem Schreiben verlangten die Glasergehilfen in St.Gallen von ihren Arbeitgebern eine Teuerungszulage von 10% und begründeten diese:

St.Gallen, den 28. Juni 1916.

Mit dieser Eingabe gestatten wir uns, an Sie das Ansuchen zu stellen, Sie möchten den Arbeitern eine Teuerungszulage von zehn Prozent zu dem bisherigen Lohn gewähren.

Zur Begründung brauchen wir nur auf die durch den Weltkrieg so enorm verteuerte Lebenshaltung hinzuweisen, auf die ganz bedeutende Steigerung der Preise der Lebensmittel und der Gebrauchsgegenstände. Man hat ausgerechnet, dass der Familienunterhalt sich um 30 bis 50 Prozent kostspieliger gestaltet hat. Und immer noch ist kein Ende abzusehen. Wie soll der Arbeiter sich in dieser Zeit ehrlich und recht durchschlagen? Wie soll er für sich und seine Familie die notwendigen Lebensmittel beschaffen, dass alle Familienmitglieder genügende Nahrung erhalten und keines infolge Unterernährung an der Gesundheit Schaden leidet? Der Arbeiter hat über nichts anderes zu verfügen als über seine Arbeitskraft und den für dieselbe bezahlten Lohn, aus dem er alles und jedes bestreiten muss, mag es noch so viel kosten.

Weil das bei der jetzigen Teuerung und Lohnzahlung absolut unmöglich ist, bleibt auch den Glasergehilfen nichts anderes übrig, als sich an die Arbeitgeber zu wenden mit dem Gesuche, in Würdigung der besonders für die Arbeiterschaft so schwierigen Zeitverhältnisse die Zulage von 10 Prozent zu gewähren. Wir geben gerne zu, dass auch der Gewerbestand unter all den schlimmen Kriegsfolgen leidet, aber die Situation ist für ihn doch bedeutend besser, es stehen ihm noch andere Wege, andere Möglichkeiten offen, so die Preiserhöhung für Produkte, welche in den meisten Berufsbranchen erfolgt ist, in welchen den Arbeitern Teuerungszulagen gewährt wurden.

Wir geben uns der Erwartung hin, Sie werden unser Gesuch einer wohlwollenden Prüfung unterziehen und ihm entsprechen. Allgemein wird ja die Berechtigung der Begehren um Lohnzulagen anerkannt. Eine ganze Reihe von Geschäften hat solche gewährt, auch Regierung und Stadtrat prüfen eine solche Zulage an die untern Angestellten und die Arbeiter. Da werden gewiss auch Sie nicht zurückstehen und dem durch die Not der Zeit diktierten Gesuche um Lohnerhöhung entsprechen. Die Arbeiter werden Ihr Entgegenkommen anerkennend würdigen und auch fernerhin die Geschäftsinteressen nach bester Möglichkeit wahrnehmen.

Mit aller Hochachtung!

[Stempel:] Holzarbeiter-Gewerkschaft St.Gallen

Wie ein Brief vom 1. August 1916 im gleichen Dossier belegt, waren die Arbeiter mit ihrem Begehren teilweise erfolgreich. Sie hatten sich bei den organisierten Schreinermeistern eine Teuerungszulage von zwei bis fünf Rappen pro Stunde erkämpft.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 240/1.3-10 (Korrespondenz im Nachlass von Jakob Jäger)

Sonntag, 18. Juni 1916 – Die St.Galler Kameraden sollen ihre Teufener Kameraden unterstützen

Jakob Jäger wurde am 25. Januar 1874 in Stein am Rhein (SH) geboren. Er machte eine Lehre als Zimmermann und zog 1900 nach St.Gallen, wo er gewerkschaftlich aktiv wurde. Von 1903 bis 1910 war er Präsident des Zentralverbandes der Zimmerleute der Schweiz. Sein Nachlass kam als Teil des Unia-Gewerkschaftsarchivs ins Staatsarchiv St.Gallen.

Am 18. Juni 1916 sollte in Niederteufen eine grössere Arbeiterkundgebung stattfinden, zu der die St.Galler Genossen durch den Verband der Zimmerleute der Schweiz mittels Brief vom 8. Juni eingeladen worden waren:

Basel, den 8. Juni 1916.

An die Sektion St.Gallen.

Werte Kameraden! Wie aus der letzten Nummer unseres Berufsorgans ersichtlich ist, haben die Kameraden in Teufen eine grössere Agitationsversammlung auf Sonntag, den 18. Juni [sic], nachmittags 2 Uhr in den Sternen in Niederteufen einberufen und den Unterzeichneten beauftragt, dazu auch die Kameraden von St.Gallen einzuladen.

Wir hoffen, dass die St.Galler Kameraden diese Gelegenheit benutzen werden, um das freundschaftliche Band mit der Sektion Teufen etwas fester zu machen und in Erwartung eines zahlreichen Besuches zeichnet

mit kameradschaftlichem Gruss

W. Schrader

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 240/1.3-10 (Korrespondenz im Nachlass von Jakob Jäger, 1874-1959)