Mittwoch, 4. April 1917 – Sleepless in St.Gallen

Auch bei seinem Aufenthalt in St.Gallen denkt der Kantonsschüler Ernst Kind unentwegt an seine Tanzstundenbekanntschaft:

(St.Gallen.)

Fern von der Liebsten bin ich jetzt

Und denke Stund um Stunde nur an sie,

Die Augen tränenfeucht, im Herzen süsse Furcht

Und hilflos wie ein Kind, das nach der Mutter weint.

In tiefem Sehnen liegt mein Sinn,

Mein Geist ist wach und sieht doch einen Traum,

Denn wach und träumend seh die eine ich allein,

Die meinen Geist erweckt und Liebe mich gelehrt.

Ich glaube, schon lange ist mit mir keine so starke Veränderung vorgegangen wie jetzt, seit ich Margrit Peter kenne. Ich bin überhaupt in allem anders; ich erkenne in mir einen andern Menschen als vorher. Ohne Pause trage ich denselben Gedanken mit mir herum und lebe nur noch für diesen Gedanken. War ich früher so leidenschaftlich? Jetzt bin ich es.

Und ich, den sie «Cato» nennen und der als Mädchenverächter bekannt ist, gerate wegen einem Mädchen in diesen kuriosen Traumzustand; ich fange sogar an zu dichten; ich möchte immer nur von diesem Mädchen reden und wage es doch nicht; ich spüre, wie ich tiefrot werde, wenn ihr Name einmal über meine Lippen kommt; ich betrachte auf dem kleinen Bild, das ich von unserer Tanzgesellschaft habe, nur dieses einzige Gesicht und (am merkwürdigsten bei meinem schlechten Gedächtnis) ich erinnere mich an jedes Wort, das sie zu mir sprach, an jedes kleine Ferienerlebnis, das sie mir erzählte; ich erfahre von ihr, dass sie diese Frühlingsferien in Peseux ob Neuenburg sein wird, und sofort steht mein Plan fest, meine Velotour nicht nur bis Solothurn, sondern weiter bis zum Neuenburgersee auszudehnen und einen kleinen Abstecher auf gut Glück eines zufälligen Begegnens nach Peseux hinauf zu machen. –

(Margrit P. ist gar nicht etwa hübsch zum Ansehen. Aber sie hat ein liebes Gesicht und ihre Art ist natürlich und vertrauend.)

 

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)

Samstag, 31. März 1917 – Nächtlicher Heimweg in lyrischer Stimmung

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Ich glaube, heute kann ich nicht so schreiben, wie es mir zumute ist. Und doch kann ich an ein Erlebnis denken, das mir unerwartet kam und eine tiefinnere Freude gebracht hat: Ich bin einen ganzen Abend neben Margrit Peter gesessen und habe mit ihr reden können! Und zum Schluss konnte ich sie noch heimbegleiten, einen langen Weg und in erhobenster Stimmung. (Übrigens muss ich jetzt über meinen Patrouillengang vom 24. März lachen; ich bin mit meiner Sehnsucht an den falschen Ort gekommen. Dort in der Nähe wohnt wohl ihre Freundin, die ich übrigens vorgestern gerade auch heimspedieren musste, aber sie wohnt noch weiter draussen in der Blümlisalpstrasse. (Die Nummer habe ich nicht nachgesehen, das Haus weiss ich aber.)

Dieser glückliche Tag war vorgestern, Donnerstag, am ersten Ferientag. Am Morgen hatten die Examen aufgehört und am Abend war das Konzert des Schülerorchesters. Ich hatte sowieso im Sinn gehabt, mit Doris [Schwester von Kind] hinzugehen. Als ich erfuhr, dass die Klasse 2 b, das bedeutet mir vor allem Margrit Peter, zu diesem Konzert eingeladen worden sei, war das ein Anziehungspunkt, der noch stärker als die Musik war, obschon ich noch nicht wusste, dass nach dem Konzert noch eine Zusammenkunft im «Zimmerleuten» vorausgesehen war. Doris und ich gingen mit Herrn Federer ins Konzert. (Ich will bei Gelegenheit einmal über diese Freundschaft mit Heinrich Federer [der Dichter!] schreiben, die ich seit letztem Herbst habe; jetzt ist mir für den Augenblick sogar Federer im Hintergrund!) Die erste Freude erlebte ich, als ich bemerkte, dass Margrit P. wirklich auch da war, und ich habe während des ganzen Konzertleins (das übrigens sehr hübsch war), immer abwechselnd auf das Orchester und dann flüchtig zu ihr hinüberschauen müssen. Das konnte ich umso leichter, als ich wegen der vielen Leute an der Wand stand. Vielleicht habe ich meinen Platz diesmal nicht nur aus Höflichkeit aufgegeben! Ich konnte an der Wand beim Stehen weiter sehen. Zum zweitenmal freute ich mich, als zwischen zwei Nummern meine Augen unversehens zu Margrit P. hinsahen, als sie zu unserer Wand herüberschaute. Sie erkannte mich und grüsste schnell herüber. In der Pause sah ich sie wieder.

Aber für die «Zimmerleuten» hatte ich keine Einladung, also keine Gelegenheit, mitzukommen. Nach dem Konzert erfuhr ich aber, dass man keine besondere Einladung geschickt habe und konnte also ohne Aufdringlichkeit mit Doris hingehen, nachdem ich von einem der Mitmachenden wiederholt aufgefordert worden war. – Wie es zugegangen ist, dass ich neben Margrit Peter zu sitzen kam, weiss ich kaum mehr recht. Ich weiss nur noch, dass wir während des ganzen Abends zusammen blieben und uns mancherlei erzählten. Wievielmal ich mit ihr getanzt habe, weiss ich nicht; aber es war beinahe jeder dritte Tanz. Während unserer Unterhaltung ist auch das Thema vom Katerbummelgespräch, der Egoismus, wieder aufgetaucht und hat den Erfolg gehabt, dass wir uns darin einigten, es sei doch nicht alles an unserem Tun bloss durch den Egoismus bedingt. Ich glaube das auch, seit ich in ihre ruhigfreundlichen Augen sah, deren Ausdruck nicht der eines Menschen ist, welcher nur an sich denkt. –

Als wir um 4 Uhr aufbrachen, hatte ich mich anerboten, sie heim zu begleiten. Weil aber Doris mit einem Husten zu tun hat, musste zuerst sie heimbefördert werden. So zogen wir also zu vieren nach unserer Wohnung, Margrit P. mit ihrer Freundin, Doris und ich. Nachdem dort Doris versorgt war, ging die Reise weiter bis ins Rigiviertel, und ich fühlte mich in geradezu lyrischer Stimmung! Sie erzählte viel von ihrem Sommeraufenthalt in Sertig [bei Davos], wo einige Mädchen ein Häuslein gemietet hatten und natürlich gefährliche Abenteuer zu bestehen hatten. (Das sind ja eigentlich Sachen, die kaum wert sind, aufgeschrieben zu werden; aber ich habe mich eben recht gefreut, und schreibe überhaupt, was mir in den Sinn kommt. Wie es mir zumute war, das kann ich ja doch nicht schreiben.) Als wir endlich miteinander zu ihrem Haus kamen, fing es schon an, hell zu werden; (es war etwa 5 ¼ Uhr.) Mein Heimweg war natürlich ziemlich trübselig. Erstens war ich wieder allein, dann brach jetzt die Müdigkeit durch, und der entstehende Katzenjammer ist immer stimmungslos. – Ich will mich jetzt über jenen Abend freuen, nachdem der gestrige Kater mehr oder weniger weg ist, dass ich wieder Gelegenheit gefunden habe, mit einem lieben Menschen zusammen zu sein. Dass das nicht jeden Tag möglich ist, soll mir kein Grund sein, um in Erwartung zu vergehen; es würde auch seinen Reiz verlieren, wenn es sich so oft wiederholen würde. Aber ich freue mich doch jetzt schon wieder auf die Maifahrt, die von unserer Tanzgesellschaft in Aussicht genommen ist.

Jetzt möchte ich gern hie und da an der Blümlisalpstrasse vorbeireiten, wobei ich dann sehr auf guten Zufall rechnen würde.

Ich hoffe, dass dieser Ferienanfang nicht der einzige Glanzpunkt dieser Ferien sein wird; aber es wird schwer halten, ohne sie nochmals so vergnügt und zufrieden sein zu können.

 

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)

Samstag, 24. März 1917 – Kontaktaufnahme ohne Smartphone

1917 mussten die Jugendlichen noch ohne Smartphone und Social Media wie Facebook oder WhatsApp auskommen. Um sich dem Objekt des Begehrens – einer jungen Dame oder einem jungen Herrn – möglichst diskret zu nähern, war also romantische Kreativität gefragt. Daran fehlte es auch dem mütterlicherseits aus St.Gallen stammenden Ernst Kind, welcher in Zürich die Kantonsschule besuchte, ganz und gar nicht:

Im Telephonbuch spürte ich heraus, dass Margrit Peter wahrscheinlich an der Vogelsangstrasse (No 54) wohnt. Dorthin machte ich heute einen Patrouillengang. Tante Emmy war vormittags von St.Gallen angekommen und ich musste am Nachmittag ihr Köfferchen am Bahnhof holen. Weil es noch nicht vorhanden war, hatte ich gerade Gelegenheit zu meinem Spaziergang. Ich fand das Haus; aber meine geheime Hoffnung, sie bei dieser Gelegenheit zu entdecken, ging nicht in Erfüllung. Ich bin deshalb ein wenig deprimiert weggegangen. (Ich weiss ja zwar gar nicht, ob ich die rechte Adresse gefunden habe; aber es ist ziemlich wahrscheinlich.) Leider hören jetzt die Begegnungen an der Rämistrasse auf, da die Töchterschule schon heute Ferien hat, und während der Ferien ist wahrscheinlich gar keine Möglichkeit eines Antreffens da. Ich wollte, es käme bald wieder zu einer Tanzzusammenkunft, wie man ja ausgemacht hat. Dann würde ich wenigstens wieder mit ihr sprechen können. Das blosse Grüssen auf der Strasse ist doch nicht genug, wenn es mich auch jedesmal freut. – Wie ich schon einmal gemerkt habe: normal ist diese Freude nicht. Wann habe ich je eine solche Freude gehabt, wenn ich einen Menschen grüssen durfte? Aber nicht nur das. Ich träume auf offener Strasse und den ganzen Tag von ihr, und ich male mir auf die farbigste Weise Situationen aus, bei denen sie zeigen könnte, ob ihr auch an mir etwas liegt. Obschon ich es lächerlich finde, freue ich mich an solchen Gedanken und will 2 meiner Hirngespinste festhalten:

Ich komme vom Zeltweg her beim Pfauen ums Eck. Sie kommt die Rämistrasse herunter und ist von mir nur noch einige Schritte entfernt. In diesem Moment fällt ein Schuss. (Irgend ein Wahnsinniger kann geschossen haben.) Der Schuss trifft mich auf die Brust und ich stürze hintenüber. Da springt sie herzu und stützt meinen Kopf in ihrer Hand, bis ich aus meiner Ohnmacht erwache. (Der Schuss kann ja abgeprallt sein.) Ich bin selig und danke ihr. Aber weil ich so schwach bin, führt sie mich nachhause, und dabei kann ich ihr unterwegs erzählen und mit ihr sprechen, worüber ich will, vielleicht gerade über den Egoismus, nachdem sie gerade vorhin meine bittere Ansicht davon durch ihre Tat besiegt hat.

Eigentlich braucht da gar kein Schuss mitzuspielen. Ich brauche ja nur mit dem Velo zu stürzen oder vielleicht, indem ich ein paar durchgebrannte Pferde aufhalte und mich ihnen in die Zügel werfe.

Solche kindische Gedanken können mich wirklich freuen; das ist ganz ungewöhnlich, und ich würde mich überhaupt über die ganze Geschichte schämen und meine Gedanken einfach abschütteln, wenn nicht immer eine so tiefe und süsse Freude daraus entstrahlte, die mich wach hält und meinem Leben ein wenig Sinn gibt, während ich vorher lange keinen dahinter habe finden können.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), P 770 («Offizielles Adressbuch von Gross-St.Gallen 1917». Das Adressbuch umfasste auch die Gemeinden Straubenzell und Tablat, welche bereits vor ihrer Verschmelzung mit der Stadt St.Gallen faktisch mit dieser zusammengewachsen waren; die meisten Haushalte besassen noch keinen Telefonanschluss.)

Sonntag, 18. März 1917 – Ein junger Gentleman verguckt sich

Bereits im Frühjahr 1914 hatte der damals siebzehnjährige Kantonsschüler Ernst Kind begonnen, ein Tagebuch zu führen. Der Jugendliche lebte nach Kinder- und Jugendjahren in Chur nun mit seinen Eltern und einer Schwester in Zürich. Sein Vater, ein Berufsoffizier, hatte 1894 die elf Jahre jüngere Ida Aldinger geheiratet, die Tochter eines in St.Gallen ansäs­sigen süddeutschen Kaufmanns. Ernst Kind weilte deshalb – gerade auch in Ferienzeiten – oft in St.Gallen bei seiner von ihm verehrten Grossmutter.

Nach einem Geschichtsstudium unterrichtete Kind ab 1925 als Geschichtslehrer an der Kantonsschule St.Gallen, welcher er von 1932-1963 auch als Rektor vorstand. 1932 heiratete Kind die elf Jahre jüngere Arzttochter Wanda Bolter.

Die erste Jugendliebe von Kind entspann sich freilich nicht in St.Gallen, sondern im Spätwinter 1917:

Heute vor 2 Wochen war der Tanzstundenball, auf dem ich mich zum Teil gefreut und zum Teil gelangweilt habe. (Diese Privattanzstunde im Saal zu «Zimmerleuten» ging von Doris› Parallelklasse an der Töchterschule aus, und Doris [die 1899 geborene Schwester von Ernst Kind] und ich waren dabei auch aufgefordert worden.) Diese Tanzstunden fanden ihren Abschluss am Donnerstag (8. März) und auf einem Katerbummel ins Nidelbad am 11. März am Sonntag Nachmittag. Ich hatte dabei ein starkes Erlebnis, das ich mir nicht recht deuten kann, das aber so sehr jetzt in mir nachwirkt, dass ich es beinahe keinen Augenblick aus meinen Gedanken bringe. Wieso kam ich dazu, mich mit einem bestimmten Mädchen lieber zu unterhalten als mit den anderen? Ich spürte das erst am Donnerstag in der letzten Tanzstunde, das [sic] es etwas anderes war, mit ihr zu reden als mit andern. (mit Margrit Peter; was soll ich den Namen nicht hinschreiben, mein Tagebuch soll jedes Geheimnis wissen, und was brauche ich mich zu schämen – meiner ersten Liebe! Ich glaube, das ist es, Liebe.

Wie anders habe ich mir diese vorgestellt. Liebe ist etwas rein geistiges, eine magnetische Wirkung der Seele, von Seele zu Seele, aber eben nicht von jeder Seele zu jeder. Wenn ich jetzt immer an dieses Mädchen denke, so ist es eigentlich nur die Sehnsucht, mit ihr zu sprechen, und zwar über das Ernsteste, Tiefste, was mich bewegt. Daher kommt es auch, dass ich gerade mit diesem Mädchen darüber sprechen will, dass ich schon einen Anfang gemacht habe. Letzten Sonntag im Nidelbad kam ich während eines Tanzes darauf, einen meiner traurigsten Gedanken auszusprechen, nämlich den Glauben an den Egoismus, der uns Menschen alle erfüllt. Ich glaube, ich sagte, alle Menschen handelten nur aus Egoismus und könnten sich nicht höher hinaufringen. Es wurde mir von ihr widersprochen und ich gab dann zu, dass nicht alles rein aus Selbstsucht getan werde. – Aber es ist ja eigentlich einerlei, was ich damals gesagt habe; Hauptsache ist, dass ich etwas sprach, was mich nicht nur äusserlich berührte. Ich spreche sonst zu keinem Menschen etwas von tiefern Fragen und wie ich dazu stehe. Ich wage das nicht; (sogar meinen Eltern gegenüber schweige ich über alles und trage deshalb an allem unendlich schwerer, und komme vielleicht deshalb zu keiner Klärung.) Deshalb liegt es also ganz am Charakter dieses Mädchens, dass ich mich entschliessen konnte, solches zu sprechen.

Sie hat sich auch früher in der Tanzstunde oft nachher erkundigt nach Dingen, von denen ich ein anderes Mal geredet hatte. (Oft z. B. von Musik) daraus bekam ich das Gefühl, sie kümmere sich doch auch ein wenig um das, was ich redete; einfach gesagt, was ich zu ihr bekam und jetzt zu ihr habe, ist viel Vertrauen. Wenn ich jetzt eine so starke Sehnsucht nach ihr habe, so kommt das, weil ich mit aller Kraft einen Menschen suchte, mit dem ich es wagte, zu sprechen. Nun habe ich den Vertrauten in einem mir bisher ganz unbekannten Mädchen gefunden, und die Freude darüber heisse ich Liebe. Jetzt sind die Tanzstunden vorbei, also auch die Möglichkeit weiterer Unterhaltung mit diesem Mädchen. Deshalb ist meine Liebe zur Sehnsucht geworden. Ich bin in einem anormalen Zustand. Instinktiv und beobachtend (schärfer, als ich es sonst kann) treffe ich es immer so, dass ich am Morgen oder am Mittag zur gleichen Zeit auf dem Schulweg bin wie sie. Dann begegne ich sie [sic] in der Rämistrasse, wenn sie von oben herunter kommt und zum Schulhaus an der Hohen Promenade hinaufgeht. Ich gehe links der Strasse (vom Pfauen her)[,] sie kommt mit einer anderen Freundin (die auch an der Tanzstunde war) rechts herunter. Ich entdecke sie schon ganz von weitem und schaue nicht weiter hin, bis ich sie grüsse und für eine halbe Sekunde ansehe. Ich grüsse sie höflich und ruhig; ich verändere mein Gesicht ganz gewiss um keine Spur. Auch sie nickt höflich und freundlich herüber. Ich spüre es aber, wenn ich sie [sic] einmal nicht begegne; es tut mir ganz leis weh; aber wenn ich sie sehe, freue ich mich sehr. Ich kann mir das nicht erklären, denn das hat offenbar nichts mit dem ersehnten ernsten Gespräch zu tun.

Es ist eigentlich eine Art Romantik, finde ich. Ich will aber dafür sorgen, dass das nicht aufhört; denn es ist merkwürdig, wie ich seit diesem ganzen Erlebnis wacher bin als vorher. Der Halbschlaf, in dem mein Geist immer war und den meine Anstrengungen nicht durchbrachen, ist nicht mehr so stark; ich werde etwas frischer. Das ist eine ganz gewaltige Erlösung für mich; denn es hat schon oft nicht viel gefehlt, dass ich beinahe an mir verzweifelt bin. Alles, was ich lerne, bleibt unproduktiv. Ich nehme auf und spüre nichts davon. Es ist, wie wenn sich alles im Hirn verhärten und absterben wollte. Ich kann mein Wissen nicht anwenden, ich kann es nicht wiedergeben. Oft habe ich das Gefühl, selbst etwas schaffen zu können, aber es bleibt in Gedanken verworren und kommt zu keinem Ausdruck. Ich wünschte mir deshalb schon lange eine starke Seelenerregung, weil ich hoffte, damit geistig zu erwachen. Diese Seelenbewegung hat jetzt stattgefunden. Jetzt muss ich nur hoffen, dass sie nicht einschläft oder im anderen Fall nicht noch stärkere Depression schafft.

Wenn ich Margrit Peter sehe, empfinde ich eine tiefinnere Freude und daneben eine Sehnsucht, die mich gleicherweise schmerzt und mir wohl tut. Meine Gefühle den andern gegenüber zu verbergen, ist mir nicht schwer. Ich habe das eigentlich von jeher getan, seit ich überhaupt gelernt habe, über ernsthafte Dinge, die nicht erklärt sind, nachzudenken.

 

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), die Fotografie stammt wie das Tagebuch aus dem Nachlass von Ernst Kind.

Auszug aus dem Bürgerrechtsdossier von Gertrud Honegger

Freitag, 22. Dezember 1916 – Heimatloses Mädchen erhält Bürgerrecht

Der Grosse Rat verhandelte auf Antrag des Regierungsrates am 22., 23.und 30. November 1916 über insgesamt 153 Kantonsbürgerrechtsgesuche. Das Dossier von Angelina Honegger wurde am 30. November unter Nummer 142 behandelt. Sie erhielt das Bürgerrecht von St.Gallen gegen eine Taxe von 100 Franken.

Angelina Honegger war gemäss Mitteilung der Hebamme Isabella Sacchi am 31. Mai 1901 um 1 Uhr 55 als Kind unbekannter Eltern in Rom geboren worden. Die Hebamme gab ihr den Namen Angelina Vrasini. Das Mädchen war 1902 in die Schweiz gekommen, vom Ehepaar Bertha und Rudolf Honegger-Dieth angenommen und 1912 adoptiert worden. Rudolf Honegger, Bürger von St.Gallen, war seit 1909 als praktischer Arzt in Egg im Kanton Zürich tätig. Da die leiblichen Eltern des Mädchens unbekannt waren, galt Angelina Honegger als heimatlos. Die Adoptiveltern stellten deshalb ein Einbürgerungsgesuch und später noch ein Namensänderungsgesuch, das am 22. Dezember 1916 vom Departement des Innern des Kantons St.Gallen wie folgt beantwortet wurde:

Mit Zuschrift vom 8. ds. Mts. stellen Sie das Gesuch, es möchte Ihrer Adoptivtochter Angelina die Bewilligung erteilt werden, inskünftig den Vornamen „Gertrud“ führen zu dürfen. Nachdem dieser Tochter mit Schlussnahme des Grossen Rates vom 30. November lf. J. das Bürgerrecht des Kantons St.Gallen zuerkannt wurde, ist der herwärtige Regierungsrat zur Bewilligung der Namensänderung gemäss Art. 30 ZGB kompetent; die zuständigen Behörden der Stadt St.Gallen haben gegen diese Namensänderung nichts einzuwenden, so dass der Vorlage Ihres Gesuches an den Regierungsrat von dieser Seite aus nichts mehr im Wege steht.

Dagegen ist laut Mitteilung der Staatskanzlei die Kantonsbürgerrechtstaxe für die genannte Tochter im Betrage von Fr. 100.- noch ausstehend und es kann Ihr gestelltes Namensänderungsgesuch für so lange vom Regierungsrate nicht behandelt werden, bis dieser Betrag einbezahlt ist. Bis zur erfolgten Einzahlung dieser Taxe muss daher auch das Namensänderungsgesuch zurückgelegt werden, wovon wir Ihnen Mitteilung machen.

Hochachtungsvoll

Für das Departement des Innern,

Der Regierungsrat:

sig. Rukstuhl.

Geht – in Abschrift – an die Staatskanzlei zur Kenntnisnahme und zur sofortigen Berichtgabe an das Departement, so bald die Kantonsbürgerrechtstaxe für die Tochter Angelina Honegger einbezahlt worden ist. Das oberwähnte Namensänderungsgesuch soll dann dem Regierungsrate gleichzeitig mit der Erteilung des Kantonsbürgerrechtes vorgelegt werden. Bis zur Behandlung des erstern soll auch mit der Ausfertigung des Bürgerrechtsbriefes zugewartet werden.

St.Gallen, den 22. Dezember 1916.

Rukstuhl.

Nachbemerkung: Um 1930 war Gertrud Honegger als Büroangestellte in Arosa tätig. Später lebte sie in Ringgenberg BE. (Quelle: Bürgerbuch St.Gallen)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.88-5-a (Text und Abbildung)