Riklin-Bild, Skizze

Dienstag, 14. August 1917 – Der Psychiater pflückt Obst, dörrt Bohnen und kocht Konfitüre

Der Psychiater Franz Beda Riklin, aus dessen Ehekorrespondenz 2017 schon etliche Beispiele publiziert wurden (vgl. Beiträge ab dem 11. April) weilte nach langer Militärdienstzeit wieder zu Hause in Küsnacht. Er ordnete sein Berufs- und Privatleben und nahm wieder Patientinnen und Patienten auf. Seine Familie war im Toggenburg in den Ferien. An sie schrieb er:

Küsnacht, den 14. August 1917.

Liebste Frau!

Es war mir am Sonntag komisch zu Mute, ganz allein hier zu sein. Jetzt bin ich schon etwas eingewöhnt und benütze die Zeit[,] um viel Arbeit zu erledigen: Viel liegende Correspondenz u kleine u. grössere Angelegenheiten, Geldgeschichten u.s.f., um reinen Tisch zu bekommen. Eigentlich ists [sic] angenehm, wieder gründlich aufzuräumen. Uniform ist bestellt. Baumann Morgen do. Rähmchen für kl. Bildchen Looser. Visitkarten. Lang hat 100 frs. bezahlt. Wasserzins erledigt. 20 gr. Rexeinmachgläser bestellt. Torfgeschichte morgen persönlich. Carl [vermutlich Carl Gustav Jung] wegen Frl. Walch [ev. Patientin?] geschrieben. Fortwährend Obstpflücken: Pfirsiche, Pflaumen, Zwetschgen, Marillen [Aprikosen], Aepfel. Es reift alles heran. Bohnen werden gedörrt und Holundergelée ist fertig, die erste Rata.

Lang [ev. Josef Bernhard Lang, Dr. med., Psychoanalytiker, geb. 1881] hat mir auch einen netten Brief geschrieben. Er möchte Freundschaft und ich habe ihm per Du geantwortet. Er hat mir die «Nachtwachen des Bonaventura» geschenkt; es ist romantisch – interessant, ähnlich E. Th. Hoffmann, u. ist aus der Romantikzeit.

Es kommen etwas Patienten: Looser, Frau Fridori (will sich während der übrigen Ferien die Annehmlichkeit leisten. Sie verliert das eigentlich Schöpferische im Kunstgewerbe noch, wenn sie nicht zu mir kommt.[)]

Sonst sehe ich niemand. Ich brauche auch die Zeit nötig, samt den Abenden.

Das Bild geht mehr zusammen u. wird dadurch weich u. schön. [vgl. Skizze im Beitragsbild, das Original im Brief misst rund 20 mm x 25 mm]

Es ist nur soviel weiss, als ich hier schwarz bezeichnet habe, eher weniger; noch 3 leere Flecken.

Man meint, in diesen Tagen sollte es fertig sein; aber wir wollen noch etwas zugeben, auch wegen des Auges. Übermorgen ist 1 Monat seit Beginn. 

Das Modejournal u. weitere Zeitungen kommen mit gleicher Post.

Vom Armeearzt noch nichts Neues. Dafür habe ich wegen Paul einen energischen Militärbrief schreiben müssen, weil noch keine Antwort auf das Zeugnis da ist u. er nächsten Montag einrücken sollte u. den Dienst verweigert. Ich habe vom Divisionsarzt Antwort bis Ende Woche gewünscht; sonst gelange ich telegraphisch nach Bern.

Wenn immer möglich komme ich über Sonntag, od. sonst für einen Restteil der nächsten Woche.

Philosophisches will ich nichts schreiben. Lang musste sich von mir trennen wegen noch starker Bindung, u. weil er das individuelle Schaffen auf seinem wirklichen Wege finden muss u. nicht in Anlehnung an mich den gleichen Gott verehren, sondern ihn erschaffen. Ich konstati[e]re x) [Einschub am Rand: x) aus 1. Brief u. Material] mit Belustigung, dass wahrscheinlich Maria Moltzer die Kunst doch noch nicht ganz als endgültig annehmen kann. Das zeigt mir, dass ich auf dem wirklich selbständigen Wege des Schaffens bin.

Auf d. Postcheckkonto sind noch 577 frs. greifbar. Morgen verteile ich.

Was machen wohl meine lieben Kinder, u. mein ältester Sohn? Ich muss sie wirklich wieder einmal sehen. Dies Jahr lebe ich bereits 14 Wochen ohne sie.

Wie hast Du es droben wohl angetroffen und was leben all die kleinen Leute? Sag[‹,] wenn Ihr Obst braucht. Es gibt jetzt fortwährend.

Looser muss ich auch in den Beschwerden seiner Dissertation helfen.

Eigentlich möchte ich am liebsten weitermalen u. bedaure in einer Beziehung den kommenden Unterbruch. Es melden sich allerlei Probleme, nicht bestimmte Bilder, sondern mehr über Bildgestaltung; aber noch nichts Fertiges. Ich habe ein Gefühl von fester drin sein [sic] u. fester Hineinkommens, wenn ich auf die frühern zurückblicke.

Ich möchte Dich gerne noch etwas haben, bevor ich fortgehe; es war schön[,] die letzten Wochen; überanstrenge Dich ja nicht u. pflege Dich wirklich; das andere ist teils unsichere Hatz, u. Du musst Dir sehr Sorge tragen. hoffentlich hast Du eine angenehme Zeit oben.

Gestern wollte scheints [sic] eine Dame zu Dir, weigerte Clara [Hausangestellte] die Namensangabe, da Sie [sic] Dich brauche. Das klingt fast nach Frau Rudolf am Telephon, oder?

Viele herzliche Grüsse u. Küsse an Dich u. die gesamten Kinderlein von Deinem treuen

Franz.

Hinweis: Franz Beda Riklin war später im Jahr (September und Oktober) als Mitglied der Commission militaire médicale Suisse in England und besuchte Kriegsgefangenenlager.

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Korrespondenz Franz Beda Riklin an seine Ehefrau)

Verkuendigung von Franz Beda Riklin

Dienstag, 24. April 1917 – Lawinengefahr und saubere Wäsche

Franz Beda Riklin sorgte sich um seine Ehefrau, die aus dem Tessin nach Zürich zurückreiste, und bestellte saubere Wäsche. Der Dienst ödete ihn an, er litt unter zu wenig geistiger Auseinandersetzung und Anregung:

Château d’Oex, 24. April 1917.

Liebste Frau!

Danke vielmal für Deine Briefe. Ich hofe, diese Zeilen teffen Dich gesund u. munter zuhause [sic] an. Ich habe etwas Angst wegen der Lawinengefahr auf der Reise. Ich lasse auch den Kindern recht herzlich für die Geburtstagswünsche danken. [Riklin hatte am 22. April Geburtstag gehabt.] Ich schicke heute die schmutzige Wäsche u. bin froh, recht bald saubere zu bekommen: Unterleibchen, 1 Nachthemd, Unterhosen, Manschetten u. Nastücher sind nötig.

Ich habe Mühe, mich geistig aufrecht zu erhalten. Das ganze Gschiss [sic], Pla[c]kereien u. Intrigen geben mehr Arbeit als die Sache wert ist. Verzeih[‹] mir drum [sic], wenn ich nicht immer geistreich bin. Das Wetter ist etwas besser, aber kalt ist es immer noch; es wird Zeit brauchen, bis es hier Frühling ist. Ich vermisse Dich auch sehr. Aber zur Eröffnung am 15. Mai werde ich kommen.

Maria Moltzer schreibt mir, dass sie das Bild bezahlt hat. Wo? Auf dem Postcheckkonto od. Kreditanstalt?

Ich schreibe Dir gleich wieder, wenn ich etwas mehr bei der Sache bin.

Tausend herzliche Grüsse von Deinem treuen

Franz

Offenbar hatte die Psychiaterin und Kollegin von Franz Beda Riklin, Maria Moltzer, das Bild «Verkündigung» von Franz Beda Riklin mit dem Titel «Verkündigung» gekauft (vgl. dazu Beitrag vom 11. April 1917). Eine Reproduktion des Gemäldes (vgl. Beitragsbild) findet sich unter: http://www.e-periodica.ch/digbib/view?var=true&pid=smh-002:2001:81::829#360. Zu Maria Moltzer vgl. http://www.psychoanalytikerinnen.de/niederlande_biografien.html#Moltzer

Zum Thema grosse Wäsche vgl. den Beitrag vom 2. April.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Briefe an seine Ehefrau; Text), Beitragsbild: s. oben

Montag, 4. Dezember 1916 – „An die Kunst“

Sucht man im Katalog des Staatsarchivs St.Gallen im Zeitraum von ca. 1900 bis 1920 nach einem Bild zum Thema Kunst, so findet man diverse Begriffe: Kunsthonig, Kunststein, Kunstbutter, Kunstgärtnerei, Kunststickerei, Kunstschlosserei, Kunstmarmor, Kunstdruckerei, Kunstmalerutensilien, Kunstbuchhandlung, ein Atelier für Bau- und Monumentalkunst, eine kunstgewerbliche Werkstätte, eine Photographische Kunstanstalt, eine Anstalt für kirchliche Kunst.

Dr. Friedrich (Fritz) Rohrer wurde in Buchs geboren. Er studierte an den Universitäten Würzburg, Wien und Zürich Medizin und schloss mit einer Dissertation über „Das primäre Nierencarcinom“ ab. Er praktizierte von 1871 bis 1874 als Arzt in Buchs, war gleichzeitig Bezirksschulrat und Kantonsrat. Von 1885 bis 1921 war er in Zürich Privatdozent für Ohrenheilkunde. Auch dort wirkte er als Politiker im Kantonsrat. Rohrer war auch begeisterter Botaniker und legte ein Herbarium von ca. 50‘000 Blättern an.

An die Kunst.

Aus Lilien zart und weiss

Und purpurroten Rosen

Erhebt sich sanft und leis

Das holde Bild der Kunst;

Umschwebt in Farbenpracht

Von Faltern, meisterlosen

So emsig Tag und Nacht

Wohl um des Himmels Gunst.

Sei uns gegrüsst

Aus Blumen traut Geborne;

Du goldner Hoffnungsstern,

Vom Schicksal Auserkorene

Der Menschheit, nach und fern.

 

Du bist und fern, doch nah

Dem unbeschwerten Herzen.

Verschmachtend, wer Dich sah

Fühlt selig sich erquickt.

Hoch flammt Dein heil’ger Chor!

In tausend Königskerzen

Brunsthell Dein Trieb empor

Und hat die Welt beglückt.

Sie uns gegrüsst,

Du Born, aus ew’gen Auen,

Du strahlend kühner Held,

Dir wollen wir vrtrauen

So lang es Gott gefällt.

Zürich, 4.XII.1916              Dr. Fritz Rohrer

Portraet

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 009 (Gedicht „An die Kunst“ von Dr. med. Friedrich Rohrer (1848-1932)), BMA 406 (Porträt), ZDA 2/2.18.0120 (Informationen zur Biografie) und ZMH 02/030 (Briefkopf, 1901)

Freitag, 1. Dezember 1916 – Die Artistenfamilie Nock logiert im Hotel Bahnhof in Gossau

Oben: Seiltänzer auf einem Bild von Eugen Blondin, 1897.

Am 1. Dezember 1916 findet man im Fremdenbuch des Hotels Bahnhof in Gossau folgende Gäste eingetragen:

Fremdenbuch

Beim Cinematographenbesitzer Nok Vater und seinem Sohn Nok Carl handelte es sich um Mitglieder der aus Baden-Württemberg stammenden Artistenfamilie Nock. Diese Familie verbindet man weniger mit dem Kanton St.Gallen als die Zirkusfamilie Knie, welche in Rapperswil ansässig ist.

Wohnwagen

Eugen Blondin (1871-1960), der Maler der Beitragsbilder, war der Sohn von Henri Eugen und Nina Blondin-Knie (1844-1916, Schwester von Ludwig Knie-Heim). Zunächst wie seine Eltern als Zirkuskünstler tätig, ging er ab 1887 bei einem Deokorationsmaler in die Lehre. Nach mehreren Jahren der Wanderschaft erhielt er 1900 eine Anstellung in der Firma Reinwald in Stuttgart, wo er nebenberuflich zusätzlich mehrere Semester an der Kunstgewerbeschule studierte. 1912-1914 war er als Gehilfe des Professors Cissarz, dem Vorstand der grafischen Abteilung der Stuttgarter Kunstgewerbeschule, tätig. Nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit konnte er 1915 wieder bei Reinwald eintreten. 1917 zog man ihn in den Landsturm ein. Nach Kriegsende war er nochmals zwei Jahre bei Reinwald angestellt. Ab 1921 wohnte Blondin in der Schweiz, wo er bis Anfang der 1930er Jahre im Zirkus Knie den Kassierdienst versah. Danach arbeitete er wieder als Dekorationsmaler.

Unterschrift Blondin

1897 malte er ein Bild (s. Ausschnitte oben), das die Grössenverhältnisse zwischen Zirkusartisten, Arbeitern und einzelnen Maschinenteilen des englischen Schnelldampfers Lucania darstellt. Die Lucania war bis 1897 das weltgrösste Schiff und mit dem Blauen Band ausgezeichnet. Letzteres wurde an Passagierschiffe vergeben, welche einen Schelligkeitsrekord bei der Überquerung des nördlichen Atlantik aufgestellt hatten:

Bild

Es ist das bisher einzige Bild im Staatsarchiv St.Gallen, welches Leben und Arbeiten von Zirkusartisten illustriert.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 037 (Auszug aus dem Fremdenbuch des Hotels Bahnhof in Gossau) und W 236 (Bild von Eugen Blondin, 1893)

Donnerstag, 20. Juli 1916 – „Liebster Schatz!“: Artischocken im Toggenburg

Franz Beda Riklin (1878-1938) war nicht nur Psychiater, sondern auch ein begabter Kunstmaler. Er nahm Unterricht bei seinem Freund, Augusto Giacometti (1877-1947). Riklins Frau weilte im Juli 1916 mit den Kindern im Ferienhaus der Familie auf dem Kühboden bei Unterwasser im Toggenburg. Die im Brief erwähnte Holländerin Maria Moltzer (1874-1944) war Psychoanalytikerin. Sie liess sich zunächst bei Carl Gustav Jung, später bei Franz Beda Riklin ausbilden. Ab 1913 führte sie in Zürich eine eigene Praxis. Der ungarische Tänzer Rudolf von Laban (1879-1958) war Gründer und Leiter einer Schule für Bewegungskunst in Zürich.

Küsnacht, Montag, 20 Juli 1916

Liebster Schatz!

Also mit den Bodmern ist nichts. Von Dir ist bis jetzt noch nichts hiehergelangt, aber ich nehme inzwischen an, es sei alles wohl. Heute male ich wieder. Gestern mittag war ich also bei M. Moltzer; wir haben ganz interessante Fragen durchgenommen. Ich erzähle Dir am Sonntag davon. Augusto [Giacometti, Kunstmaler, 1877-1947] war besetzt; hingegen telephonierten abends Siggs, u. ich dachte, ich gehe; ich nehme Dir gewissermassen einen Gang ab. Es war wie es ist: Ich musste viele Zeichnereien u. Malereien von Frau Sigg ansehen; sie hat Sehnsucht nach den Farben. Mir scheint, sie geht den umständlichen Weg eines Setzgrinds: denn es ist auch ein Weg des Erlebens u. Erfahrens, um einen gewissen Grad von Selbständigkeit zu erlangen; u. so wird noch das Beste draus, darum hat sie Augusto instinctiv richtig behandelt, als er sie zu den Zeichnern schickte. Es scheint nur, dass sie der freimütigen Anerkennung von dem, was ihr wirklich den grossen Eindruck macht, nicht fähig ist; es würde sie zu sehr aus der Ruhe bringen. Frau Scherrer war dort; sie wird einmal kommen u. tanzen. Sie machte einen merkwürdig ordentlichen und bescheidenen Eindruck. Sie hatte eine komische Erfahrung: Wenn Sie für sich das Beste tanzte, verdiente sie nicht, u. wenn sie sich, mit Laban in Verbindung, um’s Stundengeben kümmerte u. sich den andern u. den Bedürfnissen anpasste, so revolti[e]rte ihr Inneres. Bis sie nach einer neuntägigen völligen Tanzabstinenz, die sehr schmerzlich war, weil alles unwillkürliche Tanzen eingeschränkt war, sich vor einer Lösung fand: Es organisi[e]rten sich zwei verschiedene Funktionen des Tanzens: Eine, wo ihr Bestes ist; das dürfe sie nur wenigen guten Freunden zeigen, wo sie Verständnis dafür erwarten dürfe. Eine andere Funktion ist die, welche mit den Vielen[,] den Andersbedürftigen, zusammenkommt, wo man sich um deren Bedürfnisse kümmert; das ergibt eine Anpassung an die andern; es braucht nicht viel, wenn man sich nur mit ihren Nöten auskennt.

Deine Karte hat mich etwas erschreckt; Du scheinst da droben zusehr [sic] zu leiden. Habe noch ein klein wenig Geduld; lass die Kühbodener feindlich sein. Ich komme bald auch in die Ferien, u. da können wir reden. Es sind auf der Alp eine Menge Eindrücke u. Bilder auf mich eingestürmt, u. es gibt mir viel, hauptsächlich auch Abklärungen über meine Arbeit u. Zukunft. Der dritte Ort scheint sehr plausibel; er ist ein Hülfsmittel. Aber eben, man muss dann alles dransetzen, um zu verkaufen.

Eben kommt Dein Brief; ich danke vielmal dafür u. werde Dir gleich darüber antworten. Aber jetzt muss ich machen, dass der fortkommt. Guten Ap[p]etit zu den Artischoken [sic]. Und herzliche Grüsse u. Küsse

Dein treuer           Franz.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Brief) und W 283/1-00167 (Kühboden bei Unterwasser, wo Franz Beda Riklin mit seiner Familie regelmässig Ferien verbrachte; Bild: Foto Gross, 1924)