Samstag, 24. März 1917 – Kontaktaufnahme ohne Smartphone

1917 mussten die Jugendlichen noch ohne Smartphone und Social Media wie Facebook oder WhatsApp auskommen. Um sich dem Objekt des Begehrens – einer jungen Dame oder einem jungen Herrn – möglichst diskret zu nähern, war also romantische Kreativität gefragt. Daran fehlte es auch dem mütterlicherseits aus St.Gallen stammenden Ernst Kind, welcher in Zürich die Kantonsschule besuchte, ganz und gar nicht:

Im Telephonbuch spürte ich heraus, dass Margrit Peter wahrscheinlich an der Vogelsangstrasse (No 54) wohnt. Dorthin machte ich heute einen Patrouillengang. Tante Emmy war vormittags von St.Gallen angekommen und ich musste am Nachmittag ihr Köfferchen am Bahnhof holen. Weil es noch nicht vorhanden war, hatte ich gerade Gelegenheit zu meinem Spaziergang. Ich fand das Haus; aber meine geheime Hoffnung, sie bei dieser Gelegenheit zu entdecken, ging nicht in Erfüllung. Ich bin deshalb ein wenig deprimiert weggegangen. (Ich weiss ja zwar gar nicht, ob ich die rechte Adresse gefunden habe; aber es ist ziemlich wahrscheinlich.) Leider hören jetzt die Begegnungen an der Rämistrasse auf, da die Töchterschule schon heute Ferien hat, und während der Ferien ist wahrscheinlich gar keine Möglichkeit eines Antreffens da. Ich wollte, es käme bald wieder zu einer Tanzzusammenkunft, wie man ja ausgemacht hat. Dann würde ich wenigstens wieder mit ihr sprechen können. Das blosse Grüssen auf der Strasse ist doch nicht genug, wenn es mich auch jedesmal freut. – Wie ich schon einmal gemerkt habe: normal ist diese Freude nicht. Wann habe ich je eine solche Freude gehabt, wenn ich einen Menschen grüssen durfte? Aber nicht nur das. Ich träume auf offener Strasse und den ganzen Tag von ihr, und ich male mir auf die farbigste Weise Situationen aus, bei denen sie zeigen könnte, ob ihr auch an mir etwas liegt. Obschon ich es lächerlich finde, freue ich mich an solchen Gedanken und will 2 meiner Hirngespinste festhalten:

Ich komme vom Zeltweg her beim Pfauen ums Eck. Sie kommt die Rämistrasse herunter und ist von mir nur noch einige Schritte entfernt. In diesem Moment fällt ein Schuss. (Irgend ein Wahnsinniger kann geschossen haben.) Der Schuss trifft mich auf die Brust und ich stürze hintenüber. Da springt sie herzu und stützt meinen Kopf in ihrer Hand, bis ich aus meiner Ohnmacht erwache. (Der Schuss kann ja abgeprallt sein.) Ich bin selig und danke ihr. Aber weil ich so schwach bin, führt sie mich nachhause, und dabei kann ich ihr unterwegs erzählen und mit ihr sprechen, worüber ich will, vielleicht gerade über den Egoismus, nachdem sie gerade vorhin meine bittere Ansicht davon durch ihre Tat besiegt hat.

Eigentlich braucht da gar kein Schuss mitzuspielen. Ich brauche ja nur mit dem Velo zu stürzen oder vielleicht, indem ich ein paar durchgebrannte Pferde aufhalte und mich ihnen in die Zügel werfe.

Solche kindische Gedanken können mich wirklich freuen; das ist ganz ungewöhnlich, und ich würde mich überhaupt über die ganze Geschichte schämen und meine Gedanken einfach abschütteln, wenn nicht immer eine so tiefe und süsse Freude daraus entstrahlte, die mich wach hält und meinem Leben ein wenig Sinn gibt, während ich vorher lange keinen dahinter habe finden können.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), P 770 («Offizielles Adressbuch von Gross-St.Gallen 1917». Das Adressbuch umfasste auch die Gemeinden Straubenzell und Tablat, welche bereits vor ihrer Verschmelzung mit der Stadt St.Gallen faktisch mit dieser zusammengewachsen waren; die meisten Haushalte besassen noch keinen Telefonanschluss.)

Sonntag, 18. März 1917 – Ein junger Gentleman verguckt sich

Bereits im Frühjahr 1914 hatte der damals siebzehnjährige Kantonsschüler Ernst Kind begonnen, ein Tagebuch zu führen. Der Jugendliche lebte nach Kinder- und Jugendjahren in Chur nun mit seinen Eltern und einer Schwester in Zürich. Sein Vater, ein Berufsoffizier, hatte 1894 die elf Jahre jüngere Ida Aldinger geheiratet, die Tochter eines in St.Gallen ansäs­sigen süddeutschen Kaufmanns. Ernst Kind weilte deshalb – gerade auch in Ferienzeiten – oft in St.Gallen bei seiner von ihm verehrten Grossmutter.

Nach einem Geschichtsstudium unterrichtete Kind ab 1925 als Geschichtslehrer an der Kantonsschule St.Gallen, welcher er von 1932-1963 auch als Rektor vorstand. 1932 heiratete Kind die elf Jahre jüngere Arzttochter Wanda Bolter.

Die erste Jugendliebe von Kind entspann sich freilich nicht in St.Gallen, sondern im Spätwinter 1917:

Heute vor 2 Wochen war der Tanzstundenball, auf dem ich mich zum Teil gefreut und zum Teil gelangweilt habe. (Diese Privattanzstunde im Saal zu «Zimmerleuten» ging von Doris› Parallelklasse an der Töchterschule aus, und Doris [die 1899 geborene Schwester von Ernst Kind] und ich waren dabei auch aufgefordert worden.) Diese Tanzstunden fanden ihren Abschluss am Donnerstag (8. März) und auf einem Katerbummel ins Nidelbad am 11. März am Sonntag Nachmittag. Ich hatte dabei ein starkes Erlebnis, das ich mir nicht recht deuten kann, das aber so sehr jetzt in mir nachwirkt, dass ich es beinahe keinen Augenblick aus meinen Gedanken bringe. Wieso kam ich dazu, mich mit einem bestimmten Mädchen lieber zu unterhalten als mit den anderen? Ich spürte das erst am Donnerstag in der letzten Tanzstunde, das [sic] es etwas anderes war, mit ihr zu reden als mit andern. (mit Margrit Peter; was soll ich den Namen nicht hinschreiben, mein Tagebuch soll jedes Geheimnis wissen, und was brauche ich mich zu schämen – meiner ersten Liebe! Ich glaube, das ist es, Liebe.

Wie anders habe ich mir diese vorgestellt. Liebe ist etwas rein geistiges, eine magnetische Wirkung der Seele, von Seele zu Seele, aber eben nicht von jeder Seele zu jeder. Wenn ich jetzt immer an dieses Mädchen denke, so ist es eigentlich nur die Sehnsucht, mit ihr zu sprechen, und zwar über das Ernsteste, Tiefste, was mich bewegt. Daher kommt es auch, dass ich gerade mit diesem Mädchen darüber sprechen will, dass ich schon einen Anfang gemacht habe. Letzten Sonntag im Nidelbad kam ich während eines Tanzes darauf, einen meiner traurigsten Gedanken auszusprechen, nämlich den Glauben an den Egoismus, der uns Menschen alle erfüllt. Ich glaube, ich sagte, alle Menschen handelten nur aus Egoismus und könnten sich nicht höher hinaufringen. Es wurde mir von ihr widersprochen und ich gab dann zu, dass nicht alles rein aus Selbstsucht getan werde. – Aber es ist ja eigentlich einerlei, was ich damals gesagt habe; Hauptsache ist, dass ich etwas sprach, was mich nicht nur äusserlich berührte. Ich spreche sonst zu keinem Menschen etwas von tiefern Fragen und wie ich dazu stehe. Ich wage das nicht; (sogar meinen Eltern gegenüber schweige ich über alles und trage deshalb an allem unendlich schwerer, und komme vielleicht deshalb zu keiner Klärung.) Deshalb liegt es also ganz am Charakter dieses Mädchens, dass ich mich entschliessen konnte, solches zu sprechen.

Sie hat sich auch früher in der Tanzstunde oft nachher erkundigt nach Dingen, von denen ich ein anderes Mal geredet hatte. (Oft z. B. von Musik) daraus bekam ich das Gefühl, sie kümmere sich doch auch ein wenig um das, was ich redete; einfach gesagt, was ich zu ihr bekam und jetzt zu ihr habe, ist viel Vertrauen. Wenn ich jetzt eine so starke Sehnsucht nach ihr habe, so kommt das, weil ich mit aller Kraft einen Menschen suchte, mit dem ich es wagte, zu sprechen. Nun habe ich den Vertrauten in einem mir bisher ganz unbekannten Mädchen gefunden, und die Freude darüber heisse ich Liebe. Jetzt sind die Tanzstunden vorbei, also auch die Möglichkeit weiterer Unterhaltung mit diesem Mädchen. Deshalb ist meine Liebe zur Sehnsucht geworden. Ich bin in einem anormalen Zustand. Instinktiv und beobachtend (schärfer, als ich es sonst kann) treffe ich es immer so, dass ich am Morgen oder am Mittag zur gleichen Zeit auf dem Schulweg bin wie sie. Dann begegne ich sie [sic] in der Rämistrasse, wenn sie von oben herunter kommt und zum Schulhaus an der Hohen Promenade hinaufgeht. Ich gehe links der Strasse (vom Pfauen her)[,] sie kommt mit einer anderen Freundin (die auch an der Tanzstunde war) rechts herunter. Ich entdecke sie schon ganz von weitem und schaue nicht weiter hin, bis ich sie grüsse und für eine halbe Sekunde ansehe. Ich grüsse sie höflich und ruhig; ich verändere mein Gesicht ganz gewiss um keine Spur. Auch sie nickt höflich und freundlich herüber. Ich spüre es aber, wenn ich sie [sic] einmal nicht begegne; es tut mir ganz leis weh; aber wenn ich sie sehe, freue ich mich sehr. Ich kann mir das nicht erklären, denn das hat offenbar nichts mit dem ersehnten ernsten Gespräch zu tun.

Es ist eigentlich eine Art Romantik, finde ich. Ich will aber dafür sorgen, dass das nicht aufhört; denn es ist merkwürdig, wie ich seit diesem ganzen Erlebnis wacher bin als vorher. Der Halbschlaf, in dem mein Geist immer war und den meine Anstrengungen nicht durchbrachen, ist nicht mehr so stark; ich werde etwas frischer. Das ist eine ganz gewaltige Erlösung für mich; denn es hat schon oft nicht viel gefehlt, dass ich beinahe an mir verzweifelt bin. Alles, was ich lerne, bleibt unproduktiv. Ich nehme auf und spüre nichts davon. Es ist, wie wenn sich alles im Hirn verhärten und absterben wollte. Ich kann mein Wissen nicht anwenden, ich kann es nicht wiedergeben. Oft habe ich das Gefühl, selbst etwas schaffen zu können, aber es bleibt in Gedanken verworren und kommt zu keinem Ausdruck. Ich wünschte mir deshalb schon lange eine starke Seelenerregung, weil ich hoffte, damit geistig zu erwachen. Diese Seelenbewegung hat jetzt stattgefunden. Jetzt muss ich nur hoffen, dass sie nicht einschläft oder im anderen Fall nicht noch stärkere Depression schafft.

Wenn ich Margrit Peter sehe, empfinde ich eine tiefinnere Freude und daneben eine Sehnsucht, die mich gleicherweise schmerzt und mir wohl tut. Meine Gefühle den andern gegenüber zu verbergen, ist mir nicht schwer. Ich habe das eigentlich von jeher getan, seit ich überhaupt gelernt habe, über ernsthafte Dinge, die nicht erklärt sind, nachzudenken.

 

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), die Fotografie stammt wie das Tagebuch aus dem Nachlass von Ernst Kind.

Mittwoch, 11. Oktober 1916 – Jung und verliebt

Irma Frieda Gsell („Friedel“, geboren 1895), jung und verliebt, schreibt kurz vor ihrer Hochzeit mit dem Rechtsanwalt und Mitglied der Studentenverbindung Zofingia, Hermann Walter Im Hof, an ihre Freundin Emmy Pestalozzi. Diese hatte sie, wie man aus den anderen Briefen im Dossier schliessen kann, wohl während eines Welschlandaufenthaltes kennengelernt.

10. Oktober 1916

Liebes, altes Emmeli,

Dein Brief ist so lieb, dass ich ihn Dir sofort beantworten muss – Ja gelt, ich habe lange geschwiegen auf Deinen so lieben Gratulationsbrief & auf den langen Erzählbrief vorher. Hab innigen Dank für alle 3. Du weisst schon wie es geht, wenn da plötzlich immer jemand da ist, der einem voll & ganz haben möchte, & dem man sich so gern von ganzer Seele hingiebt [sic].

Da bleibt eben nicht viel mehr Zeit zum Schreiben, aber zum Denken & im Herzen haben für Andere, da ist immer noch genug Platz – Emmigaugg! Was ist alles geschehen in diesem Sonnen-Sommer! Man kann es ja nie beschreiben, aber es ist alles vollkommen & schön & wunderbar! Wenn nur alle, alle Menschen das erleben dürften was ich in diesen wenigen Monaten erleben durfte – Es ist ja noch so viel 1000x schöner als man es sich vorher vorstellen & ersehnen konnte. Denk, seit dem 17. Juli ist er jeden Tag bei uns, machen wir Spaziergänge, oder bleiben auf seiner Bude, um zu lesen oder einander zu spielen. Letzte Woche waren wir 3 Tage in Basel, Wonnetage!

Und nun ist unsre Hochzeit ja ganz nah, am 24. October, also in 14 Tagen schon – Wir gehen in den Tessin. Walter war ½ Jahr dort im Dienst & will mir all seine lieben Plätzli zeigen. Nun bin ich direct froh, dass ich damals nicht mit au grand voyage war!

Ob unser Wohnunglein bis dann fertig wird[,] ist eine Frage. Es ist ganz oben an der Berneck [heute Bernegg], nahe beim Nest, mit feiner Aussicht über die Stadt & die Westhügel & hinten kommen dann grad die Wiesen & der Wald. Wir freuen uns schrecklich darauf – Wann besuchst Du uns wohl darin?

Zu Deiner neuen Schwester wünsch ich Dir viel Glück. Eure Familie vergrössert sich ja herrlich – – Was sagst Du eigentlich[,] dass ich von den Singstudenten mit fliegenden Fahnen zu den Zofingern abgeschwenkt bin? Gelt das ist lustig – – Bist Du immer auf dem Gefangenen-Büro? Das ist gewiss fein & riesig interessant, aber auch traurig & wohl oft entmutigend. Schreib mir wieder gelt, & sei innig gegrüsst von Deinem alten Friedel

neue Adresse: Fellenbergstrasse 71.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 112, Nachlieferung 2012 (Dossier: Briefe von Mama an Emmy (Funk-)Pestalozzi 1913-1925, am 11. Oktober abgestempelter Brief von „Friedel“ an ihre Freundin Emmy Pestalozzi)

Sonntag, 20. Februar 1916 – Marie schreibt ihrer Schwägerin Fanny aus Saint-Maurice

Die Adressatin des Briefes, Fanny Lutz-Giger (geboren 1876), war seit 1911 mit Gebhard Lutz (1870-1946) verheiratet. Die Briefschreiberin und Schwägerin, Marie Lutz (1885-1955), war offenbar aus dem Kloster Menzingen ausgetreten. Sie lebte danach zuerst bei den Familien ihrer Geschwister, wo sie sich mit Handarbeiten und Kinderhüten beschäftigte. Dem nachstehenden Brief nach zu schliessen, war sie im Winter 1916 in Stellung bei einem „Fräulein“ in Saint-Maurice. Später arbeitete sie als Lehrerin in Thal.

St.Maurice, 20. Februar 1916.

Liebe Fanny!

Zu Deinem baldigen Geburtsfeste wünsche ich Dir von ganzem Herzen Glück und Gottes Segen. Als meine liebe Mutter sel. diesen Geburtstag feierte, war ich noch ein gutes Weilchen hinter Gotterbarm.

Als ich gestern Abend vor dem Nachtessen noch auf der „Reise nach Jerusalem“ [Gesellschaftsspiel] war, kam ein Abgesandter von den Fleischtöpfen Ägyptens, eine im ménage beschäftigtes Mädchen mit dem „gediegenen Schweinefleisch“, wofür ich vielmals danke. Das Salsiz war so fein, dass ich es abends 9.30 noch verspeiste. Nur fand ich leider den Klupperlisack [Sack für Wäscheklammern] nicht. Hie u. da kann man ja die Rekreation nach dem Abendessen schon mit Schreiben zubringen, aber für gewöhnlich ist dies doch auch eine gute Gelegenheit zum Sprechen. Die letzte Woche verhinderte das schlechte Wetter auch öfters den gewohnten Spaziergang nach dem Mittagessen.

Dass Du die Zahnoperation so mutig bestanden [hast], erfuhr ich schon am andern Tage durch unsere getreue Berichterstatterin, der es aber scheints auch nicht gelingt, die Herren Gebrüder Lutz etwas zu magnetisieren. Mir ste[h]ts halt nicht an, denn Neutralität u. noch manch‘ anderes ist nicht meine starke Seite. Aber wenn ich Frau Seitz wäre, würde ich die messieurs ein wenig verklagen bei unsern gemeinsamen Eltern. – Dass Du den zärtlichen Papa auf der Bahn gern schon möchtest, begreife ich. Ich beobachtete ihn einmal, wie er von der lb. Kleinen Abschied nahm, als sie im Wägeli auf dem Strässchen war. Dabei paarte sich zur Zärtlichkeit auch noch Schläue, indem er noch einen Blick auf die Fenster des Hauses warf, ist halt auch ein Bruder vom „unvertrauten Gaul“. Wie lange letzterer in St. Maurice bleibt, weiss ich selber nicht. Meine Freundschaft mit dem Mond ist halt auch nicht umsonst, manchmal denke ich so u. dann wieder anders. Wegen der police ist das ewige Wechseln etwas langweilig & auch kostspielig. Auch ist ein Spatz in der Hand sicherer als so auf dem Dache. Auch kann ich mich nicht so gut umtun, obwohl die Briefe ja geschlossen kommen & gehen & die abgehenden kann ich selber einwerfen, wenn wir am Morgen in die Abtei gehen. In den Zeitungsabschnitten lese ich immer nur, dass cuisinière oder Leute, um ein ménage zu führen, gesucht sind. Im grossen ganzen bin ich auch gern hier; dass ich bei 8 Stunden Arbeit auch lieber etwas verdienen würde, ist ja klar, obwohl ich das Frl. von ihrem Standpunkte aus auch begreifen kann. Mein Nähen wiegt Kost & Logis nicht auf, obwohl es anfangs [in der Zwischenzeit] besser geht. Aber allein die Heizung kommt dem „oeuvre“ in einer Woche auf 14-15 frs. zu stehen. – Gewaschen wird recht schön hier, dabei geht es patriarchalisch langsam zu. Vor 3 Wochen gab man sie zum waschen & jetzt bin ich „fangs“ im Besitze der Taschentücher, Handtücher, Handschuhe, Strümpfe & etc. Eine der im „ménage“ beschäftigten Mädchen hatte eben auch etwa 12 Tage Influenza, also eine weniger & alle werden wohl denken: „Was lange währt, wird endlich gut.“ – Morgen geht Monseigneur Marietan für 15 Tage fort; eine Walliserin durfte auch 8 Tage nach Hause, weil die Brüder mobilisi[e]rt wurden. Darum hören wir gewiss so oft die feine Musik, welche gestern Abend den Bernermarsch spielte.

Herzlichsten Gruss an Alle & nochmals innigsten Segenswunsch zum 24. von Deiner treuen

Marie Lutz.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 289/20-2 (Brief), W 289/23-01.20 (Bild von Marie Lutz als ca. vierjähriges Mädchen)