Montag, 11. November 1918 – Bolschewisten überall: Grippe und Landesstreik

Ernst Kind, der einundzwanzigjährige, frischgebackene Offizier der Schweizer Armee über die Lage in Europa, seine Sympathien nicht verhehlend:

8. November 1918: Folgende Worte, die ganz aus der momentanen Stimmung heraus, aber wie ich überzeugt bin, immerhin noch mit klarem Blick in die Verhältnisse geschrieben werden, sind vielleicth das letzte, was ich in ruhiger Umgebung schreiben kann. Man muss heute, wo die Idee des Bolschewismus wie eine scheussliche Seuchedurch alle Länder geht, mit jedem Tag den Ausbruch einer Revolution fürchten. Es ist alles, das ganze Unglück der jetzigen Lage, so rasend schnell gekkommen, dass man es noch nicht in seiner ganzen Wirklichkeit fassen kann. Die Kriegsereignisse seit dem Frühling sind wie ungeheure Schläge nacheinander gefolgt:

Im März begann die deutsche Kriegsoffensive. (Im Sommer 1917 war die russische Revolution zur vollen Wirkung gelangt, indem das Heer sich auflöste und die ungeleiteten Massen sich raubend u. plündernd im Land herumtrieben. Zum Schutz der Ukraine hatten die Deutschen Truppen dorthin [an dieser Stelle ein * im Text und oben der Hinweis: Forts. Am 11. Nov. 1918.] gesandt u. waren bis weit über die Krim hinaus vorgerückt. Dann war es zum Frieden von Brest-Litowsk gekommen, wodurch die Feindseligkeiten gegen die russische Sowietrepublik (Arbeiter- u. Soldatenrat: Lenin u. Trotzky) ein Ende erreichten. Die Ukraine schloss ein wirtschaftlich wichtiges Abkommen mit den Zentralmächten, indem sie deren Verproviantierung erleichtern sollte. Auch Rumänien wurde der Frieden von Bukarest aufgezwungen. So standen die Deutschen trotz scheusslicher u. drohender Fortsetzung der Revolution in Russland (Terror in Petersburg u. Moskau, fürchterliche Hungersnot, Cholera) im Osten gesichert da, u. hatten sich militärisch u. wirtschaftlich erleichtert. Aber doch hat jener Abschluss des Krieges im Osten u. die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Russland unendlich mehr geschadet als genützt. Die Revolution, der Bolschewismus, hatte nun freien Zutritt in Deutschland u. Österreich, indem die Sowjetgesandtschaften ihr Exterritorialitätsrecht so schändlich missbrauchten, dass sie in den Gesandtschaftshäusern ganze Magazine revolutionärer Propagandaschriften aufhäuften u. diese dann auf verborgenem Weg den deutschen u. österr. Arbeitern in  die Hände spielten. Jedenfalls ist in dieser Beziehung kolossal gearbeitet worden seit letztem Jahr; nur so lässt sich ds heutige Verhalten erklären. Auch in der Schweiz haben wir eine solche Sowietbotschaft erhalten, u. in unserem Lande hatte es die Agitation naturgemäss noch leichter als bei den Kriegführenden mit ihrer Zensur u. ihrem teilweisen Belagerungszustand. –

So viel glaubte man aber allgemein, dass Deutschland jetzt im Osten frei, seine überzähligen Truppen an den Westen transportieren u. dort die Entscheidung suchen werde. In Italien erfolgte der Sturm im Okt. 1917. Mit deutschen Truppen an den entscheidenden Stellen griff das österreichische Heer auf riesiger Front an, brach am Isonzo durch u. brachte das italienische Heer zu einem grauenhaften Rückzug, vielmehr zu einer Flucht. (Katastrophe am Tagliamento, wo 60000 Mann sich ergaben). Erst hinter dem Piave kam der Angriff an französ.-englischen Hilfstruppen zum Stehen. Italien erholte sich bald wieder. Im Frühling 1918 kam es dann eben dort zum Generalangriff, wo einzig die Hauptentscheidung fallen konnte, in Frankreich. In mehreren furchtbaren Offensivstossen [sic] stiessen die Deutschen in Frankreich vor. Zu äusserst westlich erreichten sie beinahe die Ränder von Amiens u. im Süden der Angriffsfront erreichte man die Marne, zum zweitenmal der Schicksalsfluss. Foch’s Reserven (Foch war durch die Not zum Generalissimus der Entente geworden) waren aber nicht erschöpft, ungeheure Massen kamen aus Amerika; der U-Bootkrieg versagte den Transporten gegenüber, jeden Monat kamen seit Mai 1918 durchschnittlich 300000 Mann. Mit diesen u. seinen letzten Kräften an Franzosen u. Engländern setzte Foch zum Gegenangriff an. (Mitte Juli.) Und das ist die Peripetie des grossen Dramas. Von da an kam Schlag auf Schlag das Unglück über Deutschland. Zu schwacb gegen die Übermacht, Mangel leidend an Material wie an Nahrung, schliesslich verlassen u. verraten von allen Bundesgenossen, schliesslich verlassen u. vor allem, durchseucht vom Bolschewismus, d.h[.] gelähmt an seiner inner Kraft, ist es jetzt zusammengebrochen, militärisch viel weniger als politisch.

Die Ereignisse folgten sich etwa so: Durch die vielerorts erfolgten übermächtigen Tankoffensiven der Alliierten (der Unzahl der Tanks vermochte die deutsche Artillerie nicht mehr beizukommen; selbst hatten sie von dieser Waffe fast nichts.) wurden die Deutschen zur Aufgabe aller in diesem Frühling eroberten Gebiete gezwungen. Dann kam der Rückzug zum Stillstand. Vor diesem deutschen Rückzug ist es noch bei den Österreichern zu einer unglücklichen Offensive gekommen. Ein Vorstoss über den Piave drang nicht durch, der ausserordentlich anschwellende Strom unterbrach die Verbindungen u. so kam die Notwendigkeit eines mühsamen, deprimierenden Rückzuges über den Piave.

Im Herbst nahm das Unglück ein rasendes Tempo an. Bulgarien verriet die Bundesgenossen u. liess nach einer militärischen Kommödie [sic] die Entente einmarschieren. Die Verbindung mit dem Orient war verloren. Die Entente beherrschte Bulgarien u. drang durch ganz Serbien vor. Gleichzeitig erlitten die Türken in Palästina geradezu vernichtende Niederlagen u. schlossen ganz nach den Bulgaren einen Waffenstillstand, der eine Kapitulation war Als letzter Verbündeter Deutschland[s] kam Österreich mit dem unerhörtesten Verrat. Das alte habsurg. Reich fiel auseinander. In 1 Woche erklärten die einzelnen Staaten der zusammengewürfelten Monarchie ihre Selbständigkeit. Einem italienischen Angriff leistete das Heer noch kurzen Widerstand, während hinten im Land der reinste revolutionäre Hexensabbat los war Dann löste sich die Armee einfach auf, schloss einen schleunigen Waffenstillstand, u. Kaiser Karl zögerte nicht, Sonderfriedensverhandlungen zu unterbreiten. Aber auch so rettete er seinen Tron [sic] nicht mehr. Österreich hat kapituliert wie kaum vorher ein Staat. In seinem Innern wütet die Revolution, u. die Entente hat das Recht, das Land zu besetzen. Vor einer guten Woche ist es aber zum Schlimmsten gekommen. Auch Deutschland hat die Revolution. Alles ist in Bewegung. Ludendorff ist schon länger zurückgetreten. In der Flotte haben kolossale, blutige Meutereien stattgefunden, Arbeiter- u. Soldatenräte traten überall zusammen; Bayern wurde über Nacht Republik, am 9. Nov., also vorgestern hat der deutsche Kaiser Wilhelm II abgedankt u. der Kronprinz verzichtet u. heute am 11. Nov. ist der Waffenstillstand mit der Entente abgeschlossen worden, der Deutschland jedenfalls wieder zum Sklaven macht, und eine furchtbare Katastrophe für lange sein wird. Möge nur um alles der Bolschewismus nicht lange triumphieren, sonst stirbt das, was man bisher echt deutsch nannte. Der deutsche Staat ist ja bereits gestorben, ohne einem verjüngten Wesen Platz zu Machen.

Jetzt komme ich auf unsere Verhältnisse zu sprechen. Sie sind bitter ernst, verzweifelt ernst. Letzte Woche hatten die Bolschewiki, deren wir ja so viele haben, den Jahrestag der russ. Revolution feiern wollen; dabei war ein gewaltsamer “Putsch” geplant. Da hat nun der zürcherische Regierungsrat offenbar sehr Angst bekommen und endlich einmal dringend Truppen in Bern verlangt. Und glücklicherweise hat man auch dort den Ernst der Sache erfasst und gleich energisch vorgesorgt. Innert 2 Tagen wurden 4 Inf. Regimenter und sämtliche 4 Kav.brigaden aufgeboten; die Kavallerie, hauptsächlich Bauern, war eine bestimmt zuverlässige Truppe, und an Infanterie hatte man auch gute Leute ausgewählt, vor allem Thurgauer u. Luzerner Truppen. Am 8. Nov. war bereits ein Regiment Inf. und eine Kav.brigade in und um Zürich bereit. –

Offenbar fand Ernst Kind vor der Jahreswende nicht Zeit, über den Fortgang und Ausgang des Landesstreiks zu schreiben. Erst am 13. Januar 1919 notierte er wieder in sein Tagebuch:

Fortsetzung am 13. Januar 1919.

Am 9. Nov. verreiste Papa per Auto an die Grenze, als stellvertretender Kommandant der 5. Division. Für den selben Tag war in der ganzen Schweiz ein 1-tägiger “Proteststreik[“] verkündet worden, Protest gegen das “herausfordernde” Truppenaufgebot. Soviel man nachher erfuhr, ist dieser Proteststreik nur in Zürich einigermassen zur Ausführung gekommen; er war eben nicht vorbereitet; auch gaben die zahlreichen Truppen jedenfalls vielen Arbeitswilligen den Mut, an ihrer Arbeit zu bleiben. Vormittags fuhren sogar die Strassenbahnen, allerdings nur die Leute vom Personal, die sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatten, falls man ihnen Schutz zusichere. Deshalb standen vorn u. hinten auf der Plattform je 3 Mann Feldgraue mit aufgepflanztem Bajonett. Nachmittags musste der Tramverkehr trotzdem eingestellt werden.

Immerhin, schlimm war dieser Tagesstreik noch nicht; die Geschäfte und Läden waren zum grössten Teil offen; Gaswerk, Elektrizitätswerk u. Wasserwerk arbeiteten ruhig weiter, trotzdem man am Freitag abend schon das Gegenteil befürchtet hatte, und infolgedessen noch Badewanne, Eimer u. Krüge mit frischem Wasser gefüllt hatte! (Ich verwechsle das; erst am Montag, 11. Nov. morgens tat man das, als infolge Weiterdauerns des Streiks darob Befürchtungen entstanden.) Der Sonntag verging sehr unruhig, riesenhafte Demonstrationen infolge der bolschewistischen Agitation fanden im Stadtinnern statt. Das Militär sperrte wichtige Plätze ab. Beim Räumen des Fraumünster- und Paradeplatzes waren die Truppen gezwiugen, zur Warnung scharfe Salven über die Köpfe der Radaumacher hin abzugeben. Das Strassenbild war kaum zu vergleichen mit normalen Zeiten: Keine Strassenbahn, dafür häufig Militärlastautomobile mit schussbereiten Soldaten besetzt, sogar z.T. mit Maschinengewehren ausgerüstet. Auf alle Fälle spürte man, die Sache war noch nicht zu Ende mit dem Samstagsstreik.

In der Sonntagnacht beschloss wirklich das Oltener Aktionskomité [sic] eine Fortsetzung und Ausdehnung des Streikes im ganzen Land (das Oltener Komité ist so eine Art Sowiet, der gern die Nebenregierung neben dem Bundesrat spielt u. darauf ausgeht, schliesslich ganz ans Ruder zu kommen.) Also ging der gefährliche Unsinn am Montag weiter, auf unbestimmte Zeit; man wollte es auf eine Kraftprobe ankommen lassen, wer es länger aushalte, die Bolschewiki oder der schweizerische Bürger. Hier sind am Montag wieder gewaltige Demonstrationen veranstaltet worden. Jetzt stockte aller Verkehr, auch alle Bahnen und der Briefpostverkehr. Bei Zusammenstössen mit Demonstranten ist ein Soldat erschossen worden; abends veranstaltete unsere national gesinnte Studentenschaft eine Zusammenkunft, um zu beraten, wie man helfen könnte, um die gestörten Betriebe wieder in Gang zu setzen. Vor allem sollte dem empörenden Schauspiel abgeholfen werden, dass an allen Ecken das ketzerische «Volksrecht» , unser Bolschewikiblatt, feilgeboten wird, während keine einzige bürgerliche Zeitung erscheinen kann. Die Versammlung war voll guten Willens zum patriotischen Helfen, wenn es auch infolge der Erregung dabei sehr laut herging. Ich habe mir dort den Keim zur zweiten Grippe geholt und habe das leidige Übel schon in er Nacht gehabt. Abends erfuhr ich noch neue Truppenaufgebote, beinahe 2 ganze Divisionen. Im Ganzen werden wir wegen dieser innern Unruhen etwa 60000 Mann aufgeboten haben. – Wie gesagt was nach dem Montag während des Streiks passiert ist, kenne ich nur aus der Zeitung u. vom Hören. Ich lag mit Grippe im Bett. Doch freute mich schon am Dienstag die Mitteilung, dass unter Mithilfe unserer Studenten ein bürgerliches Blatt herauskam, die nationale «bürgerliche Presse Zürichs». Vom Mittwoch an vertrugen meine Kommilitonen auch die Brief- u. Packetpost [sic]! Und in der Mittwochnacht sahen die Oltener Leute endlich ein, dass ein russisches Programm in der Schweiz noch nicht durchführbar ist, und sie gaben den Kampf auf; d.h. sie unterwarfen sich. Der endlich in der Not befolgte Zusammenschluss der Bürger hat ein drohendes Unheil abgewendet. Die Soldaten blieben aller Agitation gegenüber taub. Hingegen ist es oft vorgekommen, dass sie einen der ärgsten Schreier gehörig verklopft haben, wie es solchem unerzogenen frechen Jungburschengesindel gegenüber am besten ist.

Allmählich ist dann alles wieder zur Ruhe u. wieder in Gang gekommen. Seither steht ständig ein Regiment in und um Zürich bereit, neuen Putschen gleich entgegen zu treten. Doch bin ich überzeugt, dann ginge es schlimmer zu, blutiger. Unsere Truppen haben unter der Grippe während des Streiks schwer gelitten; über 800 Tote haben sie in der ganzen Schweiz verloren, einzig, weil der Streik sie zusammengeführt hat. Ein zweites Mal würden sie kaum mehr über die Köpfe schiessen, die Empörung u. der Rachedurst ist zu gross. –

Nachdem endlich die Spartacusbewegung in Berlin nach scheusslichen Strassenkämpfen niedergeworfen worden ist, glaube ich nicht, dass bei uns der Kampf wieder losgeht. Auf eine Wiederholung ist man aber, soviel ich merke, militärisch sehr gut vorbereitet. Ich bin der neugegründeten Stadtwehr beigetreten, die sich organisiert hat, um Eigentum und Arbeit bei neuen bolschewistischen Versuchen zu schützen. Seit 31. Dez. 18 bin ich Leutnant. (Kp. III/70, Zürich, Landschaft.)

Flugblatt Rückseite

Quelle; Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Einträge vom 08.11.2018, 11.11.1918 und 13.01.1919; zusätzliche Absätze zur besseren Lesbarkeit eingefügt) und W 240/1.3-11.4 (Beitragsbilder: Dokumentation von Jakob Jäger, 1874-1959, über den Landesstreik, Flugblatt der Volksstimme zum 13. November 1918, Vorder- und Rückseite)

Ansichtskarte von Waldkirch mit stehender Helvetia

Samstag, 28. Juli 1917 – Dreck im Bundeshaus

Die Wochenendbeilage zur Rorschacher Zeitung vom 28. Juli 1917 publizierte ein Gedicht, in dem sich der Verfasser (die Verfasserin?) negativ über die Verhältnisse im Bundeshaus ausliess:

s’best Fraueli.

’s best Fraueli uf de ganze Welt / Ist glich mi Muetter selig gsi; / Und ’s schönste Hüsli, das es git, / Mis Vaterhus am blaue Rhi. / Jo säb isch es!

Mi Muetter het no Schwiele gha / A ehrne arbeitsfrohe Händ, / Drum het au ’s Hüsli suber glänzt / I alle Winkle, alle Wänd; / Jo säb het’s!

Grad drum ist ’s best Fraueli / Mi liebi Muetter gsi; / Jetz putzid d’Wiber nur sich selbst / Und ’s Hus ist denn e Dreckeri; / Ja säb isch es!

Au ’s Müetterli Helvetia / Förbt numme [nicht mehr] all Tag d› Stube us, / und doch hett’s z› Bern im Stübli drin / Au Staub und Dreck – es ist e Grus! – Jo säb isch es!

M. von Schacheck.

In derselben Ausgabe publizierte man in der Rubrik «Lustige Ecke» auch folgenden Witz:

Gespräch im Bundeshaus. A.: Was tut nur Bundesrat Ador den ganzen Tag? B.: Er studiert die deutsche Literatur … A.: Nicht möglich! Was interessiert ihn denn daran? B.: Grimms Märchen und Hoffmanns Erzählungen.

Der Witz war eine Anspielung auf den Rücktritt des St.Galler Bundesrates Arthur Hoffmann (1857-1927), der über die sog. Grimm-Hoffmann-Affäre «gestolpert» war: vgl. dazu den Blog-Beitrag zum 19. Juni 1917.

Gustave Ador (1845-1928) war Hoffmanns Nachfolger als Aussenminister. Zu seiner Biographie vgl. den Eintrag im eHLS:  http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D3848.php

Nächster Beitrag: 29. Juli 1917 (erscheint am 29. Juli 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 913A (Text: Rorschacher Blätter zur Unterhaltung und Belehrung, Gratisbeilage zur Rorschacher Zeitung, Nr. 7, 1917, 28.07.1917) und W 238/09.14-08 (Beitragsbild: Ansichtskarte aus dem Verlag von Josef Schönenberger, Wil, 1912)

Dienstag, 19. Juni 1917 – Ein Telegramm jagt das andere

Der St. Galler Bundesrat Arthur Hoffmann nahm 1917 eigenmächtige Sondierungen hinsichtlich eines Friedensschlusses zwischen Deutschland und Russland auf. Ein Telegramm, das er in bester Absicht nach St. Petersburg schickte, wurde indes öffentlich – und ihm zum Verhängnis. Die Angelegenheit weitete sich schnell zur Affäre aus und zwang ihn schliesslich zum Rücktritt.

Auch der Presse dienten Telegramme als wichtiges Kommunikationsmittel, wie hier im Tagblatt, wo auf der Redaktion fortlaufend (Privat-)Telegramme aus Bern eingingen:

Bern, 19. Juni. Herr Bundesrat Hoffmann hat am Tage der Vollendung seines 60. Lebensjahres sich, wie man zu allgemeinem, tiefem Schmerze vernehmen wird, veranlasst gesehen, seinen Rücktritt aus dem Bundesrat zu erklären. Es geschah wegen des Bekanntwerdens eines aus der herzlichen Bemühung um Förderung der Rückkehr zum Frieden unternommenen Schrittes, der von einer der kriegführenden Mächte als unfreundlicher Akt übel aufgenommen worden ist.

Bern, 19. Juni (-x- Privattelegr.) Niemand zweifelt daran, dass Herr Bundesrat Hoffmann sich bei seinem Vorgehen von der alleredelsten Absicht leiten liess und dabei unter keinem Einflusse, sondern aus freiem Entschlusse heraus handelte. Aber man begreift in Bern nicht, dass in dieser so eminent wichtigen Angelegenheit der Bundesrat nicht begrüsst und Nationalrat Grimm als Mittelsperson benützt wurde.

Im Laufe des Nachmittags hiess es, Herr Bundesrat Hoffmann habe dem Bundesrat seine Demission eingereicht. Die gestern Nacht ausgegebene Nachricht bestätigt sich nicht. Vielleicht bringt der heutige Tag eine Abklärung in der ernsten Krisis.

Bern, 19. Juni. (Privattelegr.) Der Bundesrat hat die heute morgen bei ihm eingereichte Demission des Herrn Bundesrates Dr. Hoffmann noch nicht angenommen. Der Bundesrat befindet gegenwärtig in Sitzung. [sic]

Annahme der Demission des Herrn Bundesrats Hoffmann.

-x- Bern, 19. Juni. (Priv.-Tel.) Der Bundesrat hat in seiner heutigen Sitzung nach längerer Beratung die Demission des Herrn Bundesrat Hoffmann angenommen. Das Schweizervolk wird mit grösstem Bedauern von der Tatsache des Rücktritts Kenntnis nehmen.

Die vollständige Frontseite des Tagblatts mit dem Zeitungsbericht in Frakturschrift:

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZOF 002/02.04 (Fotografie Wilhelm II. und Bundesrat Hoffmann beim sogenannten «Kaisermanöver» von 1912 im Raum Kilchberg und Wil), P 909 (St.Galler Tagblatt)

Briefkopf Platten

Ostermontag, 9. April 1917 – Ein St.Galler organisiert Lenins Reise nach Petrograd

Im April 1917 verhalf der Arbeiterführer und Linkssozialist Fritz Platten (1883-1942) dem im Zürcher Exil ausharrenden Lenin, in einem «versiegelten» Bahnwagen über deutsches, schwedisches und finnisches Gebiet nach Petrograd (St.Petersburg) zu gelangen. Hier rief Lenin zur sozialistischen Weltrevolution auf. Kein Geschoss, schrieb Stefan Zweig in seinen Sternstunden der Menschheit, war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte als dieser Zug. Es mag eine Randnotiz der Weltgeschichte sein, dass ausgerechnet ein St.Galler Bürger diese Reise mitorganisierte. Die Informationen zur Einbürgerung der Familie Platten finden sich unten im Text. Im Beitragsbild sieht man den Briefkopf des Schreibens, mit welchen sich der Vater von Fritz Platten an den Regierungsrat des Kantons St.Gallen wandte und um das Bürgerrecht nachsuchte.

Die Zugfahrt nach Petrograd

Regelmässig besuchte ein ruhiger introvertierter Herr die Zentralbibliothek Zürich. Der unscheinbare Vielleser wohnte im Niederdorf an der schmalen Spiegelgasse 14 bei Schuhmacher Titus Kammerer. Heute erinnert eine Gedenktafel daran, dass hier Wladimir Ilitsch Ulianow Lenin vom 21. Febr. 1916 bis zu seiner Abreise am 2. April 1917 wohnte.

Von ganz anderem Kaliber war Fritz Platten, der Sekretär des Arbeiterbildungsvereins «Eintracht». Er war kein stiller und verbissener Ideologe, sondern leidenschaftlich und den Freuden des Lebens, wie dem Tanzen und Jassen, durchaus zugetan. Da Platten die Kasse des Hilfsvereins für russische Flüchtlinge und politische Gefangene betreute, lernte er Lenin kennen und nahm mit ihm zusammen 1915 an der Zimmerwalder Konferenz teil. In einem Brief bezeichnete Lenin seinen Mitstreiter Platten als unfähigen Wirrkopf. Wie sehr ihm dessen Verhandlungsgeschick aber entgegenkam, zeigte sich bald.

Platten führte erfolgreich die Verhandlungen mit Freiherr von Romberg, dem deutschen Botschafter in der Schweiz und organisierte nach Ludendorffs Bewilligung die Reise Lenins nach Petrograd. Lenin wollte auf schnellstem Wege nach Russland. Die Zeit drängte, denn bereits seit dem 8. März 1917 rebellierten dort die hungrigen Arbeiter. Soldaten liefen zu den Aufständischen über, und die Staatsduma proklamierte eine neue Provisorische Regierung. Der Zar hatte am 15. März abgedankt.

Die deutsche Kriegsseite erhoffte sich von der Infiltration radikaler Revolutionäre beim russischen Gegner den dringend benötigten separaten Friedenschluss im Osten, da die Provisorische Regierung, im Gegensatz zu Lenin, den Krieg gegen Deutschland nicht beendigen wollte. Jeder Verbündete zur Zersetzung der russischen Front war willkommen, und so akzeptierte man die von Lenin gestellten Reisebedingungen weitgehend.

Am Ostermontag, dem 9. April, rollte der Zug mit insgesamt 33 Emigranten, darunter war das Ehepaar Lenin und dessen engste Mitarbeiter Georg Sinowjew und Karl Radek, aus dem Zürcher Hauptbahnhof. Die Reiseleitung oblag Fritz Platten. Deklariert war der verschlossene Wagen als Rücktransport sibirischer, in die Schweiz entflohener Sträflinge nach Rußland: Streng geheim – Exterritorialer Transport – Zusteigen verboten. Plombiert waren aber nicht die zwei Wagen des Zugs, sondern das Gepäck. Später stieg der Deutsch-Schwede Wilhelm Jansson, als Mitglied der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften, hinzu. Als von General Luddendorff auserwählter Transportleiter auf deutscher Seite stieg Arwed Freiherr von Planitz, Rittmeister des Regiments der Sächsischen Gardereiter, an Bord.

Die Fahrt ging vom Grenzübergang Gottmadingen über deutschen Boden mit Zwischenhalt in Berlin nach Sassnitz. Von dort aus fuhr die Gruppe mit der Fähre nach Trelleborg in Schweden, dann über Stockholm nach Tornio im Norden Finnlands, das damals zu Russland gehörte. Während Platten an der schwedisch-russischen Grenze von der republikanischen Regierung aufgehalten wurde und deshalb zunächst in die Schweiz zurückreiste, ging Lenis Reise weiter nach Petrograd, dem heutigen Leningrad, wo die Gruppe am 16. April 1917 abends ankam.

Der Husarenstreich durch Feindesland gelang. Kaum war Lenin angekommen, hielt er vor versammelten Arbeitermassen eine erste Rede.

In der Oktoberrevolution siegten Lenins radikale Bolschewisten über die bürgerlich-liberale Regierung. Der Separatfrieden im Osten änderte jedoch nichts am deutschen Kriegsschicksal, und Lenin wurde auch vorgeworfen, mit dem Feind kooperiert zu haben.

Höhen und Tiefen einer kommunistischen Karriere: Fritz Plattens Schicksal

Ende 1917 brach Platten erneut in Richtung Petrograd auf. Im Folgejahr soll er Lenin vor einem Revolverattentat gerettet haben und dabei an der Hand verletzt worden sein. Regelmässig pendelte Platten zwischen Russland und der Schweiz hin und her. 1921 wurde in der Schweiz die kommunistische Partei gegründet. Platten wurde ihr erster Sekretär sowie erster kommunistischer Nationalrat. Im Herbst 1923 gründete Platten eine schweizerische landwirtschaftliche Kommune in Simbirsk und bewog seine Eltern, mit ihm nach Russland auszuwandern. Dieses Unternehmen war erfolglos, und die Mutter verstarb 1928 verarmt im Altersasyl in Tablat. Platten selber wurde Opfer von Stalins Säuberungswellen und am 22. April 1942 in einem Arbeitslager erschossen.

Zeitgleich zu Plattens Rückführungsplanung der radikalen Exilanten versuchte der sozialistische Nationalrat Robert Grimm eine allgemeine Rückführung zu organisieren. Die selbständige Abreise der Bolschewisten wurde vom Emigrantenkomitee als Provokation wahrgenommen. In Zusammenarbeit mit Grimm hatte der St. Galler Bundesrat Arthur Hoffmann, ohne Kenntnis seiner Regierungskollegen, versucht, an der Weltkriegs-Ostfront einen Separatfrieden zu vermitteln. Obwohl er stets betonte, nur im Interesse der Schweiz gehandelt zu haben, wurde ihm von den Westmächten vorgeworfen, dass er Deutschland begünstigen wollte, damit deutsche Truppen zur Stärkung der Westfront hätten abgezogen werden können. Hoffmann trat auf Grund dieser Affäre am 19. Juni 1917 zurück.

Plattens Herkunft und Kindheit in St.Gallen

Das Staatsarchiv St.Gallen besitzt nur Quellen zu den frühen Jahren dieser abenteuerlichen, an Höhen und Tiefen reichen Biographie und Familiengeschichte, da die Familie bereits 1892 nach Zürich übersiedelte. Dort besuchte Fritz Platten die Sekundarschule.

Im Zivilstandsregister der vormals selbständigen St.Galler Gemeinde Tablat findet man im Geburtenregister A von 1883 unter der Nr. 169 die handschriftlich, zwischen die vorgedruckten Zeilen eingetragenen Angaben des Zivilstandsbeamten Carl Weyermann:

«Den achten Juli achtzehnhundert achtzig & drei um sieben Uhr Vormittags wurde in Hoggersberg lebend geboren: Friedrich ehelicher Sohn des Peter Platten, (Beruf: Schreiner von Mi[n]den, Bez[irk] Coblenz. Preuss[en] [heute: Nordrhein-Westfalen] in Hoggersberg [Höggerberg] und der Paulina Strässle von Bütschwyl. Eingetragen den neunten Juli achtzehnhundert achtzig & drei auf die Angabe des Vaters Peter Platten, Abgelesen und bestätigt: Peter Platten

Nachträglich vermerkte Staatsarchivar Josef Anton Müller am 8. Juli 1917 am Rand, dass Fritz Platten 1892 das Bürgerrecht von Tablat erhalten hatte.

Die Einbürgerungstaxe für die Familie betrug laut Quittung der Kantonsbuchhaltung 150 Franken.

Im Taufbuch der Dompfarrei von St.Gallen findet man zusätzlich auf Seite 164 unter der Nummer 289 den Taufeintrag des später konfessionslosen Kommunisten und erfährt, dass Friedrich, Sohn von Peter «Platen» (sic!) und Paulina Platten-Strässle (urspründlich aus Bütschwil SG), am 8. Juli morgens um 7 Uhr geboren und am 29. Juli getauft wurde. Als Wohnort der Eltern ist Rosenberg, Tablat angegeben.

Im Bürgerregister von Tablat findet sich das Blatt der Eltern von Fritz Platten: Peter Platten (08.07.1852-28.04.1925, Schmied!) und Maria Paulina Strässle (25.02.1851-11.12.1931). Sie hatten am 15. April 1879 in St.Gallen geheiratet. Neun Kinder sind aufgelistet, wobei die Reihenfolge in ein chronologisches Durcheinander ausartete:

1) Barbara Paulina (*16. Mai 1879)

2) Josefina Babetta (*28. Nov. 1880)

3) Franz (*23. Juni 1882)

4) Anton (*30. Aug. 1884)

6) Florian (*10. Nov. 1886)

5) Friedrich (*8. Juli 1883)

8) Veronika (*1. Juni 1891)

9) Albertina (*15. Jan. 1894)

7) Hugo Paul (*19. Jan. 1887)

Der zuständige Beamte legte der Familie ferner noch ein (unten fett markiertes) «Kuckucksei» ins Nest. Den Einträgen in den grossen blauen Zivilstandsregistern von St.Gallen und Tablat entnimmt man Folgendes:

Geburtsdatum Name Eltern Beruf d. V. Adresse
1 1879, 16. Mai Barbara Paulina Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Unterer Harfenberg 15 St.Gallen
2 1880, 28. Nov. Josefina Babetta Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Engelgasse 1, St. Gallen
3 1882, 23. Juni Franz Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Engelgasse 1. St.Gallen
4 1883, 8. Juli Friedrich Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Höggersberg
5 1884, 30. Aug. Anton Peter Platten Paulina Strässle Schreiner St. Fiden
6 1886, 10. Nov. Florian Peter Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Kleinberg
7 1887, 19. Jan. Hugo Paul Anton Anton Platten Maria Catharina Eberle Schreiner Kronthal
8 1891, 1. Juni Veronika Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Kleinberg
9 1894, 15. Jan. Albertina Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Zürich

Die Eltern des unter Nr. 7 in der Liste aufgeführten Hugo Paul Anton hiessen Anton Platten und Maria Catharina Eberle. Da besagter Anton Platten wie obiger Peter Platten ebenfalls aus Minden kam, muss man annehmen, dass es sich um dessen Bruder handelt. Den Beweis hierfür liefert der Ehebucheintrag von Anton Platten (geboren 09.08.1861) und Maria Katharina Eberle (geboren 20.08.1858), die am 6. August 1885 in St.Gallen geheiratet hatten. Als Eltern des Bräutigams Anton Platten werden hier ebenfalls Johann Platten und Margaretha Jacobs aufgeführt. Die Brüder Anton und Peter ergriffen beide das Schreinerhandwerk und fanden in der Gemeinde Tablat eine neue Heimat, was die Verwechslung natürlich begünstigte.

Als Peter Platten am 6. Mai 1882 von St.Gallen nach Tablat kam, erwarb er ein eigenes Haus und ging neben dem Wirtschaftsbetriebe hauptsächlich der Schreinerei nach, wie man dem Schreiben des Tablater Ortsverwaltungsrats vom 13. November 1891 betreffend Einbürgerungsgesuch des Peter Platten entnehmen kann. Der Vater wurde als arbeitsamer wie tüchtiger Mann charakterisiert, der für seine musterhafte Wirtschaftsführung bekannt gewesen sei (vgl. Briefkopf im Beitragsbild).

Text und Recherche: Benno Hägeli, Staatsarchiv St.Gallen

Nächster Beitrag: 10. April 1917 (erscheint am 10. April 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZVD 64.2 (Zivilstandsregister Tablat, Geburtenregister A, 1883, Nr. 169), ZLA 2b/77 (Bürgerregister Tablat, Band B, Nr. 605), ZLA 002/312 (St.Gallen, Dompfarrei: Taufbuch, 1879-1884, S. 164, Nr. 289), ZLA 002/315 (St.Gallen-Dompfarrei: Ehebuch, 1870-1892, S. 178, Nr. 80) und KA R.88-5-a (Einbürgerungen, Dossier Peter Platten, 1891)

Literatur über Fritz Platten:

Hahlweg, Werner: Lenins Rückkehr nach Russland. 1917, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte.5. Jg. 4. Heft von 1957, S. 307-333. (http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1957_4.pdf).

Belzner, Emil: Die Fahrt in die Revolution, oder Jene Reise. Aide-Memoire. München, 1988

Platten, Fritz N.: Mein Vater Fritz Platten: ein Leben für die Revolution, in: Turicum, Sept. 1972, S. 17-22

Zweig, Stefan: Der versiegelte Zug: Lenin, 9. April 1917, in: Ders.: Die Sternstunden der Menschheit: Zwölf historische Miniaturen. Zürich: Ex Libris, 1982, S. 240-252

Miller, Ignaz: Der geheime Zug. In: NZZ am Sonntag, 02.04.2017

Huber, Peter: Stalins Schatten in die Schweiz. Schweizer Kommunisten in Moskau: Verteidiger und Gefangene der Komintern. Zürich: Chronos, 1994, S. 275-293

 

Montag, 29. Januar 1917 – Gerüchte aus Russland

Die Morgenblattausgabe des St.Galler Tagblatts vom 29. Januar 1917 berichtete:

Alarmierende Gerüchte über die Ereignisse in Russland.

P. Berlin, 27. Jan. Ueber die Ereignisse in Russland zirkulieren in Skandinavien und Dänemark sehr beunruhigende Gerüchte. So wird am Samstag vormittag aus Malmö telegraphiert, die in Lulea verbreiteten Gerüchte verursachen grosse Beunruhigung. In Finnland und Petersburg seien Revolten ausgebrochen. Die Kaiserin von Russland sei ermordet worden. Die Telegraphen- und Telephonverbindungen nach Petersburg sind unterbrochen. Ein dänischer Journalist, der, aus Russland kommend, in Malmö anlangte, traf in Haparanda 30 aus Helsingfors geflüchtete Finnländer, die erzählten, sie seien nur durch die Flucht dem Tode entronnen.

Kurz zuvor war im St.Galler Tagblatt eine Mitteilung der russischen Botschaft in Bern erschienen, die sich an russische Bürger in der Schweiz richtete. Mangels Russischkenntnissen können das Blogteam und die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Staatsarchiv St.Gallen den Text nicht weiter auflösen und sind dankbar für Hinweise (oder Übersetzungen!). Möglich ist, dass mit dieser Anzeige in der Schweiz wohnhafte Russen, die zwischen dem 1. Oktober 1879 und dem 30. September 1888 geboren waren, in den Krieg einberufen wurden:

Russische Botschaft in Bern

Nebenbei: Die Zarin wurde tatsächlich ermordet. Allerdings erst Mitte Juli 1918 – zusammen mit Ehemann und Kindern.

Nächster Beitrag: 1. Februar 1917 (erscheint am 1. Februar 2017)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, P 909 (Text: 29.01.1917, Morgenblatt und Anzeige: 27.01.1917, Abendblatt)

Dienstag, 21. November 1916 – Parlamentarier für den Frieden

Auszug aus dem Protokoll des Regierungsrates des Kantons St.Gallen:

Eingabe betreffend Vermittlung des Bundesrates für Erreichung des Friedens.

Zur Sprache gelangt die von Herrn Kantonsrat Bühler und 10 weitern Ratsmitgliedern beim Grossen Rat eingereichte Anregung, womit dem letzteren folgende Schlussnahme beantragt wird:

„Der Grosse Rat des Kantons St.Gallen, erschüttert von den unfassbaren Blutopfern des Krieges, ersucht im Namen der Menschlichkeit den hohen Bundesrat, im Verein mit den übrigen Neutralen den kriegführenden Mächten seine Vermittlung anzubieten“.

Nach gepflogener Diskussion über die Stellung, welche der Regierungsrat zu dieser Anregung einzunehmen gedenke, wird beschlossen:

Es sei dem Grossen Rat in Erledigung dieser Eingabe folgende Schlussnahme vorzuschlagen:

„Der Grosse Rat des Kantons St.Gallen teilt die vom Gefühl der Menschlichkeit geleiteten Empfindungen, die in dem von den Antragstellern kundgegebenen Wunsche nach baldiger Beendigung des blutigen Völkerkrieges zum Ausdruck gebracht worden sind.

Er nimmt mit dankbarer Befriedigung von den seitens des Bundesrates über seine Stellungnahme zu dieser Frage wiederholt erteilten Aufschlüssen Kenntnis und lebt der vollen Überzeugung, dass der Bundesrat, getragen von der vertrauensvollen Zustimmung des Schweizervolkes, auch fürderhin in dem ihm als geeignet erscheinenden Zeitpunkte alle zweckdienlichen Schritte einleiten wird, um den kriegführenden Mächten seine Vermittlung zum Zweck der Herbeiführung des ersehnten Friedens anzubieten.

Der Grosse Rat weiss sich mit dem gesamten st.gallischen Volke und seinen Behörden einig in der ungeteilten Sympathie für die Friedensbestrebungen der obersten Landesregierung und in der lebhaften Hoffnung, dass es den Bemühungen des Bundesrates bald gelingen werde, in Verbindung mit den übrigen Neutralen durch Anbietung seiner Dienste die Wiederherstellung des Friedens anbahnen zu helfen.

In diesem Sinne geht der Grosse Rat zur Tagesordnung über.“

Protokollauszug an Herrn Landammann Dr. Baumgartner zur Notiznahme und zur Beantwortung der Eingabe in diesem Sinne.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ARR B 2, 1916/2670 (Protokoll) und P 127 (St.Galler Schreibmappe für das Jahr 1917, St.Gallen 1916, S. 7)

Montag, 20. November 1916 – Volles Vertrauen in den Bundesrat und Millionengeschenk an die Staatskasse

Herbstsession des Grossen Rates, Auszug aus der Eröffnungsansprache von Grossratspräsident Anton Messmer, Stickereikaufmann und Erziehungsrat aus St.Gallen, von 1902 bis 1912 Regierungsrat, später von 1919 bis 1935 Ständerat:

Meine Herren Kantonsräte!

Zur ordentlichen Herbstsession des Grossen Rates heisse ich Sie herzlich willkommen.

Wir tagen abermals zur Zeit des furchtbaren Weltkrieges, dessen schreckliche Wirkungen und Folgen Ihnen schon wiederholt geschildert worden sind.

Seit unserer diesjährigen Maisession ist sogar ein weiterer Staat aus seiner Neutralität herausgetreten und in den Strudel dieses Krieges hineingerissen worden, indem am 27. August dieses Jahres Rumänien an Oesterreich-Ungarn den Krieg erklärt hat. Es steht mir nicht an, an dieser Stelle eine Ansicht darüber auszusprechen, ob Rumänien mit diesem Schritt das getan hat, was für seine Ehren und Interessen das Beste war; dagegen hat es jedenfalls die Hoffnungen auf einen baldigen Friedensschluss nicht gestärkt und über sein eigenes Land unermessliches Unglück gebracht.

So werden wir mit sorgeerfülltem Herzen noch länger warten müssen, bis endlich die Sehnsucht aller Völker nach dem erlösenden Worte: „Friede!“ erfüllt wird.

Ist unser Vaterland auch bisher – und wir wollen zu Gott hoffen, dass dies auch in Zukunft der Fall sein werde – vom Kriege verschont geblieben, so gestalten sich immerhin die wirtschaftlichen Verhältnisse stets schwieriger. In einer Zeit, in der die Völkerrechte mit Füssen getreten werden und die brutale Gewalt triumphiert, bemächtigt sich auch bei uns weiterer Kreise eine bange Sorge, weil unseren Industrien die Bewegungsfreiheit und der Lebensspielraum immer mehr beschnitten und ein grosser wirtschaftlicher Druck auf uns ausgeübt wird.

Diese Verhältnisse mahnen alle Schweizer zu einem engeren Zusammenschluss der politischen Kreise und zu einer Sammlung und gegenseitigen Annäherung aller geistigen Kräfte. Glücklicherweise kann hierin wieder eine Besserung konstatiert werden. Es bricht sich immer mehr der Gedanke Bahn, dass mit vermehrtem Eifer und doppelter Vorsicht alles vermieden werden muss, was uns im Lande trennen könnte, und dass die ganze moralische Kraft des gesamten Volkes notwendig wird, um die Krisis zu überstehen, die uns im letzten Akt dieses furchtbaren Weltereignisses noch bedroht.

Halten wir vor allem auch fest an unserem vollen Vertrauen zum Bundesrat, der mit Unparteilichkeit, Kraft und Würde seines schweren Amtes waltete, an der dankbaren Anerkennung der Verdienste unserer Armee, die mit Opferwilligkeit die Grenzen der Schweiz bewacht, und an der Liebe zu unserm Vaterlande das die Neutralität bewahrt und uns bisher den Frieden erhalten hat.

[…]

In der kritischen Finanzperiode der Kriegszeit ist der st.gallischen Staatskasse unerwartet ein Millionengeschenk zugeflossen, das noch kurz zu erwähnen ist; es ist der kantonale Anteil an der eidgenössischen Kriegssteuer, deren Ergebnis im Kanton rund sechs Millionen Franken beträgt. Wenn in Betracht gezogen wird, dass unsere Hauptindustrie unter dem Krieg vielfach leidet und dass die meisten grössern Bankgeschäfte der Hauptstadt die Kriegssteuer ausserhalb des Kantons, an ihrem Hauptdomizil zu entrichten haben, so darf das Ergebnis des Kantons St.Gallen als ein erfreuliches Zeichen vaterländischer Gesinnung und patriotischen Opfergeistes betrachtet werden.

Es ist zu hoffen, dass bei der Beschaffung weiterer Einnahmen des Bundes in ähnlicher Weise Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kantone genommen wird, denn der Bund hat ein grosses Interesse daran, dass bei der Neuordnung des Finanzwesens auch der Finanzhaushalt der Kantone saniert wird.

[…]

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZA 005 (Protokoll Grosser Rat) und BMA 328 (Anton Messmer-Lutz, Grossratspräsident 1916, zur Zeit des Ersten Weltkriegs)