In der Schweiz besitzt der Bund das Alkoholmonopol, d.h. er erhebt Steuern auf alkoholische Getränke. Aus dem Reinertrag der eidgenössischen Alkoholverwaltung fliessen seit der Einführung Ende des 19. Jahrhunderts pro Jahr 10% (sog. Alkoholzehntel) in die Bekämpfung des Alkoholismus. Die Verteilung der Gelder obliegt seit Anfang den Kantonen. Auch die Abstinenzvereine wie das Blaue Kreuz profitierten davon. Heute werden die Beträge allgemeiner „zur Bekämpfung der Ursachen und Wirkungen von Suchtproblemen“ eingesetzt.
Zur Mitgliederwerbung setzten verschiedene Abstinenzvereine, darunter auch das Blaue Kreuz, sogenannte Agenten oder Agentinnen ein. Ihnen war auch die Öffentlichkeitsarbeit für die Anliegen des Vereins übertragen.
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Referat von Herrn Agent Ammann
Der Vereinsleiter im Verkehr mit den Behörden.
Einleitend bemerkte Herr Ammann, dass dies eine etwas heikle, aber doch sehr wichtige Sache sei, wie er solches während seiner 17jährigen Praxis als Vereinsagent schon zur Genüge habe erfahren können.
Dann stellte er die beiden Fragen auf:
1) Wie ist das Verhältnis zwischen Vereinsleiter & Behörde?
2) Wie kann der Vereinsleiter am meisten Erfolg erzielen?
Zur Frage 1 erklärte er, das Verhältnis müsse ein gutes ein. Wo dies nicht der Fall sei, so solle der Fehler gut gemacht werden. Die Behörden können nicht anders, als dem Blauen Kreuz Sympathie entgegenbringen, & zwar ganz besonders dann, wenn sich richtig gerettete Trinker im Verein befinden. Es sollen ja nicht etwa Zeitungsschreibereien oder Schimpferereien [sic] gegen die Behörden betrieben werden. Sowohl im Toggenburg als auch in Flums habe sich der Gemeinderat schon wiederholt an das Blaue Kreuz gewendet; ebenso sei dasselbe speziell auch im Kanton Thurgau sowohl von den Behörden als von der ganzen Bevölkerung sehr geachtet. Desgleichen habe auch bei den hiesigen Stadtbehörden [von St.Gallen] schon sehr viel erreicht werden können. Manchmal mache man den Behörden auch ganz ungerechte Vorwürfe; dieselben seien eben an die Gesetze gebunden. – Ferner erinnerte Herr Ammann auch an den fast spielend erhaltenen separaten Beitrag von Fr. 1500.- aus dem Alkoholzehntel für die Sekretariate bezw. Agenten, wovon unserem Verband bekanntlich Fr. 1200.- zufliessen. Schwieriger stehe es allerdings manchenorts bei den Kirchenbehörden, & zwar hauptsächlich wegen der vermeintlichen „Stündelei“ & dem befürchteten Wegzug der Leute aus der Landeskirche. Aber auch da hange es meistens nur von den Vereinsleitern ab, ob sie mit den Behörden richtig verkehren können.
Herr Pestalozzi verdankte die trefflichen Ausführungen des Herrn Ammann bestens & eröffnete auch hierüber die allgemeine Diskussion. Dieselbe wurde benützt von den Herren Rued, Zahnarzt Halter, Gassner, Weber & Hörler, & zwar durchwegs in zustimmendem Sinne zu den Ausführungen des Referenten. Sodann fügte Herr Pfarrer Pestalozzi noch bei, dass in der letzten Sitzung der Trinkerfürsorgestelle auch die Polizeibehörde vertreten gewesen sei; ferner erinnerte er speziell auch noch an das stets sehr freundliche Entgegenkommen des frühern Polizeidirektors, Herr[n] Zuppinger. Ebenso seien uns auch die Kirchenbehörden & der Regierungsrat sehr sympathisch gesinnt. Während man früher fast mit Verachtung auf uns herabschaute, sei jetzt doch schon längst ein gewaltiger Umschwung eingetreten, was sich insbesondere auch beim Bau unseres Vereinshauses erzeigt habe.
Zum Schluss machte der Aktuar auch noch darauf aufmerksam, dass die Bekämpfung des Alkoholismus kürzlich sogar auch auf das offizielle Programm der freisinnig-demokratischen Partei von Gross-St.Gallen gesetzt worden sei.
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Schülergruppe vor dem Eingang zum Schäflegarten in Rorschach, um 1910. In der Mitte (mit Glatze): Vikar August Schönenberger.
Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, 091 (Blaues Kreuz, Auszug aus dem Protokoll der ersten Vereinsleiterkonferenz) sowie ZMH 61/072 (Visitenkarte) und ZOF 001/03 (Foto)