Steinach, um 1907

Mittwoch, 3. April 1918 – Jugend-bande «Schwarzer Stern Steinach»

Im idyllisch am Bodenseeufer gelegenen Dorf planten drei Jugendliche, verführt durch Kino und Schundliteratur, dunkle Machenschaften:

3. April 1918.

Akten-Eingang in Sachen Jenzer, Hüssen [?] & Bayer.

3 Beklagte hatten unter sich eine Gesellschaft gebildet, der sie den Namen «Schwarzer Stern Steinach» gaben. Sie machten gegenseitig ab, andere Leute zu bestehlen & auf andere Arten zu schädigen. Sie führten eine Geheimschrift & entwarfen einen Vertrag. Gemäss demselben hatten die Bekl. eine Reihe von Diebstählen verabredet, an deren Ausführung sie dann in der Folge gingen. Auch haben sie sich untereinander der grobunsittlichen Handlungen schuldig gemacht. Äussere verderbliche Einflüsse durch häufigen Kino-Besuch, infolge Lesens von Romanen & Betrachten von unsittlichen Bilder[n], seien schuld, dass sie so schwer gestrauchelt seien. Die Jugend & ihre Unselbständigkeit erheischt eine scharfe und verständnisvolle Schutzaufsicht.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, KA R. 87 B6 (Schutzaufsichtskommission, Tagebuch 1915-1918) und W 238/02.06-06 (Ansichtskarte zu Steinach, um 1907, erschienen im Verlag von Frau Dolder, Handlung, Nr. 6267. Buckdr. Leop. D. Guggenheim, Zürich)

Dienstag, 5. Dezember 1916 – „ein roher verdorbener Bursche […], der nur durch eine längere Strafe gebessert werden kann.“

Kurzlebenslauf und Straftat eines Zuchthaussträflings, in die Strafanstalt St.Jakob in St.Gallen eingetreten am 5. Dezember 1916, ausgetreten am 4. Dezember 1920, verurteilt wegen schwerer Körperverletzung.

Der Gefängnisdirektor hielt in den sogenannten Stammbüchern neben einem allgemeinen Signalement, den Vermögensverhältnissen, dem Gesundheitszustand und der Art des Verbrechens u.a. auch die Lebensgeschichte eines jeden Häftlings fest. Ausserdem legte er Zeugnis über das Betragen während der Haft ab. Der Verurteilte wurde in der Schuhmacherei beschäftigt. Seine Arbeitsleistung sei befriedigend, das Betragen sehr gut gewesen. Es ist anzunehmen, dass die Sträflinge gröberes Schuhwerk bearbeiteten, als der „Fortschrittsstiefel“ für Damen im Briefkopf der Firma Conrad Müller in St.Gallen ausweist.

Leg. [legitim, d.h. ehelich] geboren, den 21. Sept. 1899 in Luzern. Der Vater […], Taglöhner, ist 1906 gestorben, die Mutter […] wohnt noch dort. Er hat 8 Brüder & 3 Schwestern, je 1 davon verheiratet. Die Erziehung soll recht gewesen sein.

Nach Austritt aus der Schule, die er in Luzern mit mittlerem Erfolg besuchte, ging er ¼ Jahr in eine Nietenfabrik & bekam [sic] dann als Handlanger mit einem Stundenlohn von 46 Rp. in das Baugeschäft Keller in Luzern ein, in dem er bis zu der am 27. Sept. 1916 dort erfolgten Verhaftung in Arbeit stand.

Vorstrafe: 1915 Dezb. 10. Statthalteramt Luzern, Diebstahl, 10 Tage Gefängnis.

Ausserdem erhielt er wegen Belästigung von Militärwachen, Skandal, Misshandlung, Streit, Ruhestörung & Schlägerei 9 Polizeibussen von 3 bis 9 Fr.

Anklage: Am 22. September 1916 reisten […] & sein Verwandter (Schwagersbruder) […] von Luzern nach Küssnacht, wo sie nachmittags, nachdem sie unterwegs verschiedene Wirtschaften besucht hatten, ankamen & wieder an diversen Orten einkehrten, so im Restaurant „Bahnhof“, wo […] aus dem Büffet 7 bis 8 Fr. entwendete, was sofort entdeckt wurde. Nun nahmen sie Reissaus & auf der Flucht stahl […] abends ca. 9 Uhr ein vor dem Gasthaus zu den „Dreikönigen“ stehendes Velo, um dem vorausgeeilten […] nachzufahren.

Dieser hatte unterdessen den von Bischofswil heimkehrenden Arbeiter […], mit dem er in der Dunkelheit zusammengestossen war, angefallen, misshandelt & über den Strassenrand bei Langwies hinuntergeworfen. […] will hiebei mit einem Schlagringe über das linke Auge geschlagen worden sein. Der Beklagte bestreitet, einen solchen gehabt zu haben, gibt aber zu, dass er dem […] mit dem geschlossenen Messer einen Streich versetzt haben könnte. Weil er „voll“ gewesen sei, könne er sich nicht mehr genau daran erinnern.

Während der Misshandlung war auch […] (geb. 1893) herbeigekommen, der geständigermassen mit seinem Veloschlüssel dem […] Streiche versetzte. Dieser wurde sehr schwer verwundet, blutete aus Nase & Mund, hatte laut ärztlichem Gutachten schwachen & unregelmässigen Puls & starke Quetschungen am Kopfe; Nasenbein & Nasenknorpel waren gebrochen.

Später konstatierte der Arzt vollständige Durchtrennung der Hornhaut & zerrissenen Augapfel, was dessen vollständigen Verlust durch operative Entfernung zur Folge hatte. Das schon 1894 durch Operation vom Star geheilte rechte Auge müsse neuerdings operiert werden. […] erklärt, er habe vom zweiten Angreifer 2 Schläge auf den Hinterkopf erhalten.

Die Tat des […] ist eine so ruchlose, dass derselbe trotz seiner Jugend hart bestraft werden muss. Aus seinem Vorstrafenverzeichnis ergibt sich, dass er ein roher verdorbener Bursche ist, der nur durch eine längere Strafe gebessert werden kann. In Bestätigung des kriminalgerichtlichen Erkenntnisses vom 24. November 1916, gegen welches […] appellierte, wurde dieser als der schweren Körperverletzung schuldig (nicht angefochten Zivilentschädigung an […] 3000 Fr., nämlich 300 Fr. für totale Arbeitsunfähigkeit vom 21. Sept. bis 21. Novb. 1916, 200 Fr. für Arzt- & Spitalkosten & 2500 Fr. für bleibenden Nachteil) vom Kantonsgericht Schwyz in Anwendung von §64 K. ST.G. am 4. Dezember verurteilt zu einer

Zuchthausstrafe von vier Jahren,

unter Abzug der Untersuchungshaft.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.86 B 5, Band 1912-1919 (Stammbuch der Strafanstalt St. Jakob) und ZMH 64/311 (Ausschnitt aus Briefkopf)

Mittwoch, 29. November 1916 – Verführung von Frauenspersonen soll neuerdings bestraft werden

Oben: Ob der „ledige Herr gesetzten Alters“ aus dem St.Galler Tagblatt vom 29. November 1916 bis dato wohl enthaltsam gelebt hatte?

Am 29. November 1916 behandelt der Grosse Rat das „Nachtragsgesetz zum Strafgesetz über Verbrechen und Vergehen vom 4. Januar 1886“, darunter auch den Artikel 177 („einfache Unzucht“):

Als Art. 177 wird ohne Diskussion folgende von der Kommission vorgeschlagene neue Fassung angenommen:

„Art. 177. Einfache Unzucht wird im ersten Falle polizeilich mit einer Geldstrafe von Fr. 20.- bis Fr. 40.-, im Rückfalle gerichtlich mit Geldstrafe von Fr. 40.- bis Fr. 100.- allein oder in Verbindung mit Gefängnis bis auf drei Monate bestraft.

Das Strafverfahren ist aufzuheben:

a) gegenüber Personen, die schwerer Verführung erlagen;

b) gegenüber Frauenspersonen, die infolge der Schwangerschaft oder der Niederkunft in eine Notlage geraten, wenn nicht besondere Gründe dagegen sprechen.

Aus den gleichen Gründen hat auch der Richter auf Straflosigkeit zu erkennen.

Die Verehelichung der Fehlbaren hat die Aufhebung des Strafverfahrens oder die Ausserkraftsetzung eines noch nicht vollzogenen Straferkanntnisses zur Folge.“

Desgleichen erhält der von der Kommission neu vorgeschlagene Art. 177 bis, lautend

„Art. 177 bis. Wer eine unmündige Person von mehr als 16 Jahren durch Missbrauch ihrer Unerfahrenheit oder ihres Vertrauens, oder wer eine Frauensperson durch Ausnützung ihrer Notlage oder ihrer Abhängigkeit zur Unzucht verführt, wird mit Arbeitshaus bis auf 6 Monate oder mit Gefängnis bis auf ein Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Freiheitsstrafe und Geldstrafe können auch verbunden werden“

(…) die diskussionslose Zustimmung der Versammlung.

Das Strafgesetz sanktionierte eine ganze Reihe von sexuellen Aktivitäten, welche zumindest hierzulande heute längst keine Vergehen mehr darstellen. Während Homosexualität und Prostitution höhere Strafmasse nach sich ziehen konnten, zählte die „einfache Unzucht“ – d.h. der Geschlechtsverkehr zwischen zwei ledigen Erwachsenen – zu den leichteren Vergehen. Grundsätzlich konnte die zwischengeschlechtliche Sexualität aber nur innerhalb einer Ehe legal ausgelebt werden. Über ledigen Verliebten, Ehebrecherinnen und Ehebrechern sowie Freiern und Prostituierten hing somit stets der jeweilige Paragraph als Damoklesschwert.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, AGR B 1 (Protokoll des Grossen Rates) und P 909 (St.Galler Tagblatt)

Mittwoch, 22. November 1916 – Begnadigung eines zum Tod Verurteilten

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916) später Kantonsrat und Nationalrat sowie Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

Grosser Rat – Sitzung.

Begnadigung des Mörders Eichmann von Uznach. Ich stimmte gegen die Begnadigung,

um für die Todesstrafe zu demonstrieren.

Mit 145 gegen 37 Stimmen wandelte das Kantonsparlament die vom damaligen Strafgesetz für Mord vorgesehene Todesstrafe in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe um. Es handelte sich dabei nicht um einen Bauchentscheid: Die Ratsmitglieder konnten zuvor Einsicht in die Strafakten nehmen. Zudem waren das kantonsgerichtliche Urteil, das Begnadigungsgesuch des Verurteilten sowie die Botschaft des Regierungsrates allen Ratsmitgliedern zugestellt und im Rat verlesen worden.

Der 36-jährige Josef Anton Eichmann hatte am 15. August 1916 in einem Waldstück seinem sechsjährigen Sohn die Kehle durchschnitten. Um sich nicht verdächtig zu machen, beteiligte sich Eichmann eifrig an der folgenden Suchaktion. Als das tote Kind gefunden wurde, vermutet die Polizei als Tatmotiv zuerst einen Lustmord, begangen von einem Landstreicher. Eichmanns Inszenierung misslang indes und bereits am 19. August wurde er in Haft gesetzt. Zwei Tage später gestand Eichmann die Tat. Als Motiv gab der in ärmlichsten Verhältnissen lebende Fabrikarbeiter an, dass ihn das Benehmen des Knaben häufig gereizt und aufgeregt habe. Der kleine Josef habe ihm nicht mehr gehorcht und hätte ihn „auch gar viel angelogen“. Eichmann hatte sich schon längere Zeit überlegt, wie er den ungeliebten Sohn loswerden könnte. Unmittelbarer Auslöser der Tag war Eichmanns Wut darüber, dass Josef jun. nicht zum vereinbarten Zeitpunkt vom Beerensuchen heimkehrte und er ihn im Wald suchen gehen musste.

Die latente Tötungsabsicht von Eichmann und die ihm bescheinigte volle Zurechnungsfähigkeit könnten Josef Scherrer bewogen haben, im Rat gegen eine Begnadigung zu stimmen. Im Gegensatz zu Scherrer erkannte der Regierungsrat jedoch eine Reihe von Milderungsmomenten, die nach Ansicht des Gremiums eine Strafumwandlung rechtfertigten: Eichmann war nicht vorbestraft, lebte unauffällig und galt als fleissig, verfügte über einen guten Leumund und zeigte Reue. Laut der Botschaft des Regierungsrates habe „die Herkunft, die Erziehung und der Lebensgang des Verurteilten offenbar wesentlich dazu beigetragen, dass er so tief sinken konnte.“ Schon der Vater des Täters sei wie sein Sohn „geistig schwach begabt“ gewesen und die Mutter eine Trinkerin. Nachdem Eichmann als Sechsjähriger Vollwaise geworden war, wuchs er im Armenhaus auf.

Als er als Erwachsener selber Familienvater geworden war, überforderte ihn die Erziehung des kleinen Josef und dessen jüngerer Schwester zunehmend. Eichmann brachte seine Kinder deshalb auf eigene Kosten im Bezirkswaisenhaus unter. Mangels Geld musste er die Kinder aber schliesslich wieder in seinen Haushalt zurücknehmen: „Offenbar“ – so der Regierungsrat – „trug dann seine geistige Rückständigkeit und Unbeholfenheit wesentlich dazu bei, dass er keine andern geeigneten Mittel fand, um den Knaben auf bessere Wege zu bringen und schliesslich auf den schrecklichen Gedanken kam, ihn zu beseitigen.“

Das nächste und letzte Todesurteil im Kanton St.Gallen wurde erst 1938 gesprochen. Auch hier wurde der Doppelmörder Paul Irniger schliesslich begnadigt, 1939 im Kanton Zug aber wegen einem anderen Mord verurteilt und mit der Guillotine hingerichtet.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch), GA 002/376 (Gerichtsakte Eichmann: Fingerabdrücke eines fälschlicherweise verdächtigten, „übelbeleumundeten Vaganten“)