Steinach, um 1907

Mittwoch, 3. April 1918 – Jugend-bande «Schwarzer Stern Steinach»

Im idyllisch am Bodenseeufer gelegenen Dorf planten drei Jugendliche, verführt durch Kino und Schundliteratur, dunkle Machenschaften:

3. April 1918.

Akten-Eingang in Sachen Jenzer, Hüssen [?] & Bayer.

3 Beklagte hatten unter sich eine Gesellschaft gebildet, der sie den Namen «Schwarzer Stern Steinach» gaben. Sie machten gegenseitig ab, andere Leute zu bestehlen & auf andere Arten zu schädigen. Sie führten eine Geheimschrift & entwarfen einen Vertrag. Gemäss demselben hatten die Bekl. eine Reihe von Diebstählen verabredet, an deren Ausführung sie dann in der Folge gingen. Auch haben sie sich untereinander der grobunsittlichen Handlungen schuldig gemacht. Äussere verderbliche Einflüsse durch häufigen Kino-Besuch, infolge Lesens von Romanen & Betrachten von unsittlichen Bilder[n], seien schuld, dass sie so schwer gestrauchelt seien. Die Jugend & ihre Unselbständigkeit erheischt eine scharfe und verständnisvolle Schutzaufsicht.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, KA R. 87 B6 (Schutzaufsichtskommission, Tagebuch 1915-1918) und W 238/02.06-06 (Ansichtskarte zu Steinach, um 1907, erschienen im Verlag von Frau Dolder, Handlung, Nr. 6267. Buckdr. Leop. D. Guggenheim, Zürich)

Freitag, 1. März 1918 – Erziehung von Galgenstricken

Emil Nüesch (1877-1959), Lehrer in St.Gallen, berichtete Im Rorschacher Neujahrsblatt 1918 unter dem Titel Galgenstricke über die Erziehung heranwachsender Knaben:

Der Vater meines Schülers Walter Baldauf spricht vor meiner Schultüre vor, um sich, wie er sich selber ausdrückt, nach seinem «Galgenstricke» zu erkundigen. Ja, es ist ein eigenes, nicht uninteressantes Kapitel, das Kapitel der Galgenstricke. –

Wo es sich um Spitzbubenstücklein, ums Lärmen auf den Gassen, ums Radaus[s]chlagen und Raufen handelt, da ist der allzeit unternehmende Bursche aktiv beteiligt. Kriegsspiele anordnen, polternd und lärmend durch die Gassen toben und dabei behäbigen Passanten fast den Bauch einrennen, allerlei verwegene Bubenstreiche inszenieren, Kehrichtgefässe übers Trottoir werfen, warnende und schimpfende Frauen mit Grimassen und foppenden Gelächtern ärgern, – das ist so ganz seine Sache.

Das Stillsitzen in der Schule fällt ihm schwer. Für die meisten Schulfächer bekundet er wenig Interesse und auch wenig Verständnis. Während der Sprachlehre gähnt er, und das Bruchrechnen scheint auch gar nicht nach seinem Geschmacke zu sein. –

Wer ihn nicht besser kennt, wird ihn nach dem Massstabe der positiven Leistungen in den obligatorischen Schulfächern zu den Dummen zählen. Aber der Kerl ist durchaus nicht dumm! Er lässt sich für die vaterländische Geschichte begeistern wie kein zweiter. Wenn von den Heldentaten der Eidgenossen die Rede ist, dann sieht er mich mit gorssen Augen an, stützt die Ellbogen auf den Tisch, hält die Fäuste an die Schläfen und hört mit gespanntester Aufmerksamkeit zu. Dass sich die Schweiz im gegenwärtigen Kriege nicht auch zum Dreinhauen entschliessen kann, will er nicht begreifen.

Kein Schüler bringt mir so viele Pflanzen, Käfer und Schmetterlinge in die Schule wie er. Für die Natur interessiert sich der junge Baldauf lebhaft. Jüngst sagte er mir, er wisse alle Krähennester im Kapfwalde. Wenn ich mit den Schülern spazieren gehe, muss ich ihm besondere Aufmerksamkeit schenken, denn er hat immer etwas zu fragen und will jeden Felsen erklettern.

Trotz seines rohen Benehmens entbehrt er keineswegs der Zärtlichkeit. Die harte Schale birgt einen weichen Kern. Gefühlswarme Erzählungen machen sichtlichen Eindruck auf ihn. als er vor einigen Wochen wegen eines Spitzbubenstreiches in der Patsche sass, liess er eine empfindliche Strafe ruhig über sich ergehen. Ich erfuhr erst nachträglich durch Unbeteiligte, dass bei jenem Streiche drei Klassengenossen mitschuldig waren. Seine Freundestreue gebot ihm, dies zu verschweigen und die Strafe mit heroischem Mute allein zu ertragen. In der Pause teilt er nicht selten sein Stück Brot mit den Kameraden. Im letzten Jahrmarktsbericht schrieb er, er habe 25 Rappen Taschengeld zur Verfügung gehabt. Für 20 Rp. habe er ein rotes Teufelchen an einer langen Stecknadel gekauft, um es beim Räuberlis machen als Abzeichen des Räuberhauptmanns auf dem Hute zu tragen, und 5 Rappen habe er einem invaliden Bettler gegeben. Ein Mitschüler bestätigte die Tatsache.

Im Schulrechnen ist er unbeholfen. Aber draussen auf dem Spielplatze beherrscht er alle und weiss als schlau berechnender Kopf seine Vorteile zu wahren und seine Spielgefährten zu übertölpeln. Dort ist er erfinderisch und ein geriebener Gauner. Es ist auch bezeichnend, das seine Spielgenossen ihn beim Räuber- und Poli-Spiel regelmässig zum Räuberhauptmann wählen. Da kennt er die Schliche und leistet Hervorragendes. Ein Dummer taugt nicht zum Räuberhauptmann!

Galgenstrick hat ihn sein Vater genannt. – Was soll das heissen? – Walter Balddauf ist ein temperamentvolles, lebenssprühendes, urwüchsig gesundes Naturkind von feuriger, lebhafter Phantasie und triebsgesunder Impulsivität, ein unbändiger Springinsfeld, ein munteres Füllen, das freudig wiehernd über die grüne Weide rennt und gelegentlich im Uebermute ausschlägt, ein Widerspenstiger, dem Ordnung und Sitte oft lästig erscheinen, der Schulweisheit und Schulordnung als unnötigen Ballast empfindet, dagegen mit schöpferischer Vorstellungskraft und viel willensstarker Initiative sich in die Romantik ungezügelten Gaunerlebens hineinphantasiert und dabei glücklich ist.

Selbstverständlich kann man ihn nicht frei schalten und walten lassen. Aber man muss den Galgenstrick zu verstehen suchen, sonst tut man ihm unrecht, schwer unrecht! Das feurige, junge Triebleben, die plastisch darstellende Phantasie, der impulsive Entfaltungsdrang, die Unsumme jugendfrischer Gestaltungskraft, die machen in ihrer Unbändigkeit und inneren, sittenpolizeilichen Zensurfreiheit das Wesen des Galgenstrickes aus. Galgenstricke zu erziehen ist eine Kunst, die ferne von jeglicher Schablone in verständnisvoller Individualisierung sich des Zöglings liebevoll annimmt und in zielbewusster, feiner Führung der Libido den jungen, werdenden Menschen seinen persönlichen Anlagen gemäss erzieht und veredelt. –

Wer da jeden Streich jugendlichen Mutwillens als den Ausfluss böswilliger Ueberlegung oder verdorbenenen Gemütes betrachten wollte und weiter nichts zu tun weiss, als mit Jammern und Schimpfen und Drohen und Schlagen zu «bändigen» und zu «züchtigen», der ist psychologisch falsch orientiert und versteht sich auf den erzieherischen Kompass schlecht. Besinnen wir uns darauf, der flammenden Lebenskraft und dem starken Entfaltungsdrange zweckmässige Betätigungs- und Entfaltungsgelegenheiten zu bieten! Nicht im «Bändigen» und «Züchtigen», Hemmen und Lähmen, sondern im Führen und Richtung geben liegt positiver Erziehungswert.

Ich jammere nicht über einen Galgenstrick,, so gerne ihn mancher verärgerte, ungeschickte Erzieher in der Perspektive des Rütliliedes – «Von Ferne sei herzlich gegrüsset» – betrachten möchte, denn ich weiss, dass Galgenstricke meistens tüchtiges, geeignetes Holz zu guten Pfeifen liefern. Der Fehler liegt nicht immer am Holz, er kann auch am Schnitzler liegen. Aber klagen möchte ich über jene Eltern und Erzieher, deren Erziehungskunst sich in langweiliger, gefährlich einschüchternder, moralingesättigter Prügeltaktik erschöpft. Es tut einem in der Seele weh, beobachten zu müssen, wie so viele Eltern in ausgesprochenem Missverständnis der kindlichen Seele und jugendfröhlichen Gebahrens Disziplinarvergehen als persönliche Beleidigungen auffassen, sich ärgern und rächen. Sie bekunden damit ihr erzieherisches Unvermögen und ihre Unfähigkeit, in aller Ruhe und Gelassenheit von der hohen Warte eines überlegenen geistigen Führers aus zielbewusst die jugendliche Libido zu lenken und zu veredeln.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, P 744 (Rorschacher Neujahrsblatt 1918, S. 21f.; zusätzliche Absätze in den Text eingefügt durch Regula Zürcher)

Ansichtskarte "Gruss aus Necker*

Samstag, 2. Februar 1918 – Jung-männerzweifel: Gedanken über die «sittliche Geschlechtsliebe»

Fortsetzung der Liebesgeschichte des Ernst Kind, späterer Rektor der Kantonsschule St.Gallen (vgl. früher erschienene Beiträge):

2. Februar 1918. Heute habe ich einen Vortrag von Prof. Ludwig Köhler über «Sittliche u. natürliche Geschlechtsliebe» gehört. Seine klaren u. in ihrer tiefen Menschlichkeit so reinen, vornehmen Auseinandersetzungen haben mich tief berührt. Die Begründung einer sittlichen Geschlechtsliebe, die sich mit der natürlichen verbinden muss, steht auf dem erlösenden u. beglückenden Satz, hinter dem er mit seiner festen Überzeugung steht: Für jeden jungen Menschen wächst irgendwo in der Welt ein junges Mädchen auf, das ihm bestimmt ist, und er ist diesem Mädchen bestimmt. Ihre Bahnen werden zusammenlaufen; zur rechten Zeit werden sie sich begegnen, und beide werden einander erkennen als die Richtigen. Nur diese beiden können miteinander glücklich werden. Weil das aber so ist, so muss der junge Mensch seinen sinnlichen Trieb in der Faust halten, dass er sich rein erhalte [um seinetwillen und] um des ihm bestimmten Mädchen willen. Denn das Mädchen muss sich ganz an den Geliebten anlehnen können, muss an ihm Halt und Schutz haben. – Dass sich ein junger Mensch leicht verlieben kann, ist Natur, denn sein Trieb wird von der Schönheit des Weibes gezeigt; weil aber der Mensch gerade in der Liebe seinen «Menschen» gegenüber dem «Tier» zeigen muss, wird er solchen Reizen sich widersetzen. Das Tier muss, der Mensch will. Die Unterscheidung zwischen Liebe u. Verliebtheit ist leicht. Köhler drückt es ganz drastisch in mathematischer Formel aus: Liebe wächst mit dem Quadrate der Entfernung! Bei der Verliebtheit ist es umgekehrt. Verliebtheit muss zeitlich vor der Liebe kommen; das ist klar. Denn Verliebtheit, die doch das Objekt oft wechselt, ist einfach das Zeichen, dass man infolge des Geschlechtstriebes einfach begehrt, was weiblich ist. Aber das Ziel dieses Kampfes ist das, dass die Begehrlichkeit ganz persönlich wird, dass man die Richtige findet und dann mit seiner ganzen Kraft liebt. Das höchste Glück kann man nur so erlangen, wenn man in der Geliebten den Kameraden erkannt hat.

Auch das Sinnliche der Liebe wird etwas Heiliges. Denn die 2 Menschen, die sich als die besten Freunde erkannt haben, vereinigen sich miteinander[,] neues Leben zu erwecken und dieses heilige Gut der Menschheit weiterzugeben. Die Frau gibt dem Mann alles, ihren Körper u. ihre Seele; sie muss deshalb ganz in seinem unbedingten Schutz stehen; er muss geradezu ein Vater seiner Frau sein. Immer aber muss der Mann trotzdem fast vor seiner Frau knien können; sie lebt nur von seiner Achtung; denn jedes schwache Wesen lebt nur, wenn man ihm Achtung schenkt; sie sich zu verschaffen, ist es meist zu schwach.

Ich liebe Margrit Peter; das weiss ich sicher. Ich glaube, es kann nicht Verliebtheit sein; ist es denn nicht gewachsen mit dem Quadrat der Entfernung?! [5. April 1917.] Doch merke ich, dass ich viel leeres Geschwätz in dieses Buch geschrieben habe über diese Liebe. Warum mich aber doch der Zweifel plagt, ob sie wirklich die Rechte sei, das kommt daher, dass ich sie noch so wenig kenne. Bewahre mich der Himmel, dass nicht auch meine Liebe nur eine Halbheit ist wie sonst alles andere.

Der nächste Eintrag im Tagebuch Kind trägt das Datum vom 31. Oktober 1918, in der Zwischenzeit leistete er Militärdienst.

Die Zweifel, ob sie wirklich die Rechte sei, hatten offenbar ihre Berechtigung: Ernst Kind verheiratete sich schliesslich 1932 mit Wanda Bolter (1908-1995).

Ludwig Köhler (1880-1956) war Theologieprofessor an der Universität Zürich, vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10710.php

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/7.2 (Tagebuch Ernst Kind) und W 238/08.12-24 (Beitragsbild mit Vergissmeinnicht, Veilchen und Rosen: Auszug aus Ansichtskarte «Gruss aus Necker!», 1903)

Freitag, 21. Dezember 1917 – Ein Tag der romantischen Ironie

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Student mit St.Galler Wurzeln:

Heute hatte ich wieder einen merkwürdigen Tag. Ich möchte ihn einen Tag der «romantischen Ironie» nennen: Ich habe mit Margrit P. eine ganz komische Begegnung gehabt, und der Grund davon ist jämmerlich banal gewesen. In den 10 Wochen der Rekrutenschule habe ich sie nie gesehen, wohl aber immer im Gedächtnis gehabt. Ich habe ihr Haus vom Kasernenfenster aus (allerdings vergeblich) gesucht, ich habe es vom Albisgütli aus beinahe gesehen und bin auf dem Rückweg vom grossen Ausmarsch ganz nahe daran vorbeigekommen. Immer habe ich an sie denken müssen. Jetzt nach der Rekrutenschule, freute ich mich auf dem Weg in die Universität hinauf, denn er brachte grössere Begegnungsmöglichkeit als früher der in die Kantonsschule. Tatsächlich habe ich sie in den 2 Wochen seit meiner Zivilwerdung bis heute, da die Weihnachtsferien beginnen, 3 mal gesehen, nur so über die Strasse hin. Was bedeutet das aber, ein Gruss über die Strasse, wenn die Gesichter beinahe unkenntlich in den Krägen stecken? – Heute abends 5 Uhr war die letzte Vorlesung, der letzte Heimweg vor den Ferien, als die letzte Begegnungsmöglichkeit. Ich dachte natürlich schon von oben an wieder an sie. Da stand sie beim Pfauen mit 2 andern Mädchen. Ich wollte im Vorbeigehen grüssen; in diesem Augenblick sprang sie plötzlich, sobald sie mich gesehen hatte, über die Strasse auf mich zu. Nun, das erkannte ich ja gleich, dass es irgend eine unwichtige Frage sein werde, in der sie mich interpellieren würde, vielleicht eine Erkundigung nach Doris, die ja schon 3 Wochen daheim sein muss. Was sie aber wissen wollte, stellte mich wenigstens plötzlich wieder auf einen sehr nüchternen kalten Boden zurück, nachdem mir vorher doch eine kleine Hitze in den Kopf gefahren war. Sie wollte wissen, wie unsere bündnerischen Spezialitätswürste für Neujahr heissen! Natürlich Beinwürste, am besten bei Domenig in Chur zu bestellen! Das sagte ich auch, und dann war das Gespräch mit einer sehr freundlichen Verabschiedung zu Ende. –

Immerhin hat es doch gewiss etwas zu bedeuten, dass gerade sie mich fragte, während die beiden andern ruhig auf der anderen Strassenseite blieben. Das heisst für mich, sie hat das Gefühl, mich doch etwas besser zu kennen, mit mir doch eher bekannt zu sein, als es die andern sind, die doch auch in der Tanzstunde waren.

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897). Das Tagebuch war mit einem Schloss abschliessbar (vgl. Abbildung).

 

Sonntag, 23. August 1917 – Endlich ein Wiedersehen mit Margrit P.!

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Etwa 8 Wochen habe ich Margrit P. nicht mehr gesehen. Ich empfand das oft sehr stark während der Ferien, wenn das auch nicht so stark zum Bewusstsein drang wie in den Frühlingsferien in St.Gallen, wo es mir schon weh tat, aus Zürich wegzugehen und so die Entfernung zwischen ihr und mir noch zu vergrössern. Sind meine Empfindungen für sie unterdessen schwächer geworden? Ich bin sicher, dass das nicht wahr ist. Sie sind gemässigter; ich stehe aber nicht über ihnen und will es auch nicht in dieser Beziehung. Es ist meine erste Hoffnung, bald wieder eine Gelegenheit zu haben, um einige Worte zu ihr zu sprechen und von ihr zu hören. Ich weiss sicher, dass in diesen Ferien kein Tag verging, ohne dass ich, wenigstens für Augenblicke, an sie dachte; oft aber hing ich diesen Gedanken stundenlang nach. Ganz von selbst habe ich mir angewöhnt, bei allem, was ich tue, mir ihre Gegenwart vorzustellen; ich meine bei allem, was ich tue, nehme ich an, sie sehe es. Mein Tun hat viel Gewinn davon, wenn sich das Zusammennehmen auch oft auf Äusserlichkeiten beschränkt.

Seit letzten Montag (20. Aug.) hat die Schule wieder angefangen, und ich habe [sic] Margrit P. wieder begegnet, nach 8 Wochen zum erstenmal. (Sie hatte schon vor den Ferien einige Wochen ausgesetzt und war jedenfalls irgendwohin zur Erholung gegangen. Ich hatte sie ungefähr Ende Juni zum letztenmal gesehen.) Aber unser Gruss war nicht anders als sonst. Es ist eben immer ein Gruss wie zwischen zwei Leuten, die einander zwar durch eine Gelegenheit kennen gelernt haben, aber sich weiter nichts zu bedeuten haben. Was aber sie wenigstens für mich bedeutet, kann ich nur spüren, nicht sagen. Ihr Anblick ist für mich, wie eine notwendige Nahrung für den Körper ist; ohne sie vergeht er. Könnte ich doch noch einmal vor der Prüfung (Maturität) eine Gelegenheit finden zu einer ganz kleinen Unterhaltung mit ihr.

(Zufällig in einem Verzeichnis der hiesigen Offiziere blätternd, sah ich, dass ihr Vater Ingenieur und Genie-Oberst ist.)

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)

Sonntag, 3. Juni 1917 – Mütterliche Spionage, die Qual der Berufswahl und ein Romeo ohne seine Julia

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Die Tanzerei hat zwar am 16. Mai stattgefunden, aber gerade Margrit P. fehlte. Ich habe erst nachher gemerkt, dass es für mich so jedenfalls bedeutend einfacher war, als wenn sie dagewesen wäre; ich brauchte mich nicht lange zu besinnen, welche Seite ich herauskehren musste. Der Abend verlief ganz nett unter beständigem Tanzen. Etwa um 11 Uhr hörte man damit auf und machte noch ein Spiel. («Romeo und Julia», beide mit verbundenen Augen, wobei Romeo die Julia zu finden hat.) Zum Glück kam ich nicht in den Fall, Romeo zu sein. Ich hätte unter Umständen gerade heraus gesagt, ich finde keine Julia zum Mitspielen. Als man zum Schluss gemeinsam an einen Tisch sass und etwas trank, kam ich neben Margrit P.’s Freundin zu sitzen und erfuhr dabei, dass sie erkältet sei, was mir Gelegenheit gab, ihr gute Besserung zu wünschen durch Vermittlung dieser Freundin.

Seither weiss ich nichts weiteres von ihr. Doch habe ich das Gefühl, sie grüsse wieder deutlicher. Letzten Dienstag brachte mir Doris [Schwester von Ernst Kind] einen Gruss von ihr heim. Sie war in der «Elektra» gewesen, von der ich ihr früher ziemlich viel erzählt hatte; deshalb kam sie wohl darauf, mich das wissen zu lassen. –

Ich glaube, Mama hat mir in die obigen Zeilen gesehen, während ich mit Silvia [jüngere Schwester von Kind] eine etwas «bewegte Szene» erlebte, wie das ja oft vorkommt. Es wäre mir aber sehr unangenehm, wenn jemand hier hineinspürte; freilich wird sich Mama, wenn sie gelesen hat, alle Mühe geben, nichts merken zu lassen; bei Gelegenheit werde ich aber bald heraushaben, ob sie etwas von meinen Gefühlen in dieser Beziehung weiss.

Das Problem der Berufswahl fängt an für mich brennend zu werden. Ich erhielt schon das Aufgebot zur Rekrutenschule für den Juli, muss aber natürlich ein Urlaubsgesuch eingeben, weil ich sonst die Maturitätsprüfung nicht machen kann, die im September stattfindet und letzthin bereits mit einer Arbeit in Physik begonnen hat. Jetzt kommt nun mein künftiger Beruf sehr in Frage. Werde ich Arzt, so muss ich überhaupt eine ganz andere militärische Einteilung bekommen und eine Sanitäts-Rekrutenschule machen, während ich bisher zur Infanterie eingeordnet bin. (Ich habe nämlich stark daran gedacht, Medizin zu studieren, seit wir so ausgezeichnete Stunden in Anthropologie haben, (bei Prof. Dr. H. Bosshardt.) wobei wir uns vor allem sehr mit dem Nervensystem beschäftigen. Ich interessierte mich von jeher sehr für alle Lebensvorgänge in unserem Körper und dachte deshalb schon manchmal an das Studium der Psychiatrie.) Anderseits kämen noch in Betracht Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Zu diesen hätte ich grosse Lust; nur schreckt mich davon ab, dass man bei diesem Beruf notwendig Lehrer an irgend einer Schule werden muss. Denn vor dem Lehrer-werden graust mir. Die Entscheidung muss aber bald erfolgen; schon die eigene Unruhe zwingt mir den Entschluss ab. Woher kommt mir aber das Licht? Ich bin jetzt wie Chateaubriand auf Combourg [Bretagne], wo er und seine ganze Familie das «évènement» [gemeint ist wohl die Französische Revolution] abwarten, selbst aber eigentlich untätig dasitzen.

Das Grausen vor dem Pädagogendasein wird sich verflüchtigen: Ernst Kind wählt schliesslich doch den Lehrerberuf und unterrichtet ab 1925 an der Kantonsschule am Burggraben in St.Gallen. Von 1932-1963 wirkt er auch als deren Rektor. Seine Neigung zur Geschichte kann Kind auch im Historischen Verein des Kantons St.Gallen leben, dem er als Vorstandsmitglied und Präsident dient.

Das Tagebuch konnte mit einem kleinen Schloss gesichert werden (vgl. Abbildung).

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)

Sonntag, 13. Mai 1917 – Zufall? Schicksal? Oder doch göttliche Fügung?

Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, trifft zu seinem Leidwesen viel zu selten auf die von ihm verehrte Margrit Peter. Umso kostbarer sind deshalb diese Momente des Aufeinandertreffens:

Ich komme in Versuchung, an einen Zufall mit eigenem Willen zu glauben, und glaube, er ist mir günstig gesinnt. Es ist das dritte Mal, dass ich mit Margrit P. zusammengekommen bin, ohne es zu ahnen. Nein, das ist falsch; ich will sagen, ohne einen Anhaltspunkt für diese Möglichkeit zu haben; denn geahnt habe ich es jedesmal so ungefähr; jedesmal habe ich vorher immer noch viel mehr als sonst an sie denken müssen. – Dieses Zusammenkommen war gestern am 12. Mai.

Wir, die ganze Familie, machten einen Ausflug ins Nidelbad und wollten um 2 Uhr mit dem Schiff abfahren, haben dann dieses Schiff verpasst und warteten auf das nächste (um 3 Uhr ab). War jetzt das ein blinder Zufall, dass wir das erste Schiff verpassen mussten und erst das zweite nahmen, auf dem Margrit P. war? Und weiter war es gewiss auch nicht blinder Zufall, der sie allein auf das Schiff brachte, während sie es mit einer Freundin ausgemacht hatte. Sie wollte nämlich zu einer anderen Freundin nach Kilchberg; weil sie nun ganz allein war, setzte sie sich zu uns her und wir unterhielten uns, bis sie in Kilchberg ausstieg. Diese freundliche Begegnung ist mir umso wichtiger, weil ich gerade vorher noch mich ihretwegen sehr aufgeregt hatte. Sie hatte nämlich in der letzten Woche, wie es mir schien, absichtlich alles versucht, mich nicht zu sehen, wenn wir in der Rämistrasse uns begegneten. Einmal versteckte sie sich geradezu hinter einer andern und eben gestern Samstag Morgen bemerkte ich, dass nur ihre Freundin meinen Gruss erwiederte, sie hingegen gradaus sah. Das konnte ich mir nicht erklären; es regte mich sehr auf; zuerst war ich sehr erstaunt, dann unglücklich und schliesslich empört. Denn ich war mir keiner Dummheit oder Flegelhaftigkeit ihr gegenüber bewusst. Dass sie aber launisch sei und einfach nicht mehr grüssen wollte, konnte ich natürlich nicht glauben; deshalb quälte mich ihr Benehmen, aber immer mehr kam ich bei meinem eigenen ruhigen Gewissen in Ärger und Trotz. Es kostete mich allerdings viel, meinen Kummer in Trotz umzusetzen; aber da ich glaubte, ihn so schneller verwunden zu haben, bemühte ich mich darum und war schon im Begriff, ein paar wutentbrannte (d.h. im Innersten natürlich unwahr empfundene) Verse zu leimen, die etwa so begonnen hätten:

«Die Liebe ist zum Teufel,

Die Sehnsucht hat ein End.

Ich pfeife auf ein Mädchen,

Das mich mit Fleiss nicht kennt.»

Denn ich war schon ganz überzeugt, dass ich nichts mehr dagegen machen könne. Erklärung verlangen konnte ich nicht, da ich sie nicht einfach auf der Strasse anreden wollte und konnte, umso weniger, als sie mich ja scheinbar nicht mehr kannte. Und auf anderm Weg als durch mich selber wollte ich nichts erfahren, schon weil ich überhaupt niemand etwas davon wissen lassen wollte.

Und jetzt kam mir der gute Zufall wieder zu Hilfe, wie schon 2 mal. (Das erste Mal, dass ich mit ihr zusammen kam nach dem Konzert des Schülerorchesters, das andere Mal im Nikisch-Konzert.) Die Bekanntschaft wurde wieder aufgefrischt und gleichzeitig brachte sie die Nachricht, dass nächsten Mittwoch unsere Tanzgesellschaft im Zürichhorn zusammenkomme. Dort bietet sich mir vielleicht Gelegenheit, Aufschluss über ihr sehr rätselhaftes Gebahren zu bekommen. Denn soviel vertraue ich meinen Augen doch, dass sie auch noch nicht falsch sehen, selbst wenn sie Margrit P. sehen. Freilich schaue ich immer nur so ganz schnell hin beim Grüssen, dass ich doch nicht so ganz sicher bin. Immerhin bin ich jetzt sehr gespannt auf den Mittwoch-Abend.

Ich will hier noch einen Zettel abschreiben, den ich vor einigen Wochen vollgeschrieben habe. Woher ich damals den Gedanken bekam, weiss ich nicht:

Meine Lebensanschauungen haben immer gewechselt und haben in gewissem Sinn schon die meisten der unterschiedlichen Formen gehabt:

1.) Als Kind vor dem Beginn selbständigen Denkens: Realist; die Sachen, soweit man sie kennt, werden genommen, wie sie sich darstellen, und was sich nicht darstellt, existiert nicht. Der liebe Gott stellt sich auch dar; nämlich im Himmel sitzt er. Er ist nur zu weit weg, um gesehen zu werden. Aber hinter dem blauen Vorhang sitzt er und sieht uns doch, weil er ja durch alles durchsieht. (Mit 11 Jahren schwache Ahnung von Liebe, die sich aber mit Eintritt der Flegeljahre in eine Art trotzige Feindschaft gegen das betreffende Wesen umwandelt. Von da an eine Zeitlang überhaupt Mädchenfeind, nachher tritt an Stelle der Feindschaft Gleichgültigkeit, bis auf weiteres.

2.) Selbständiges Denken. Trotz Konfirmation Ausbildung zum Skeptiker, aber gleichzeitig infolge vieler neuer Eindrücke starker Mystiker. Zeitweise verschwindet der Zweifel, kommt aber immer bald wieder.

3.) Mit 18 Jahren Sieg des Skeptizismus über die Mystik. Eine oberflächlich verstandene Religionsphilosphie in der Schule verschärft den Kampf um einen persönlichen Gott. Bald ist der persönliche Gott ganz verloren gegangen. (Abendmahl unmöglich geworden, ebenso Beten.) Oft beinahe Ausbruch der Verzweiflung oder bittere Resignation, die sich sogar manchmal Spöttereien gegen religiöse Dinge erlaubt. Allmählich geistige Erschlaffung; das Gedächtnis ist ganz unfähig.

4.) Erste Liebe (mit 19 Jahren), urplötzliches Aufrütteln des Lebensmutes. Romantik. Ein wenig: carpe diem!

Ich werde alles versuchen, mir den Glauben an einen persönlichen Gott wieder zu erringen und darauf eine eigene Religion aufzubauen; denn unsere Kirchenreligion kann ich nicht halten.

Nächster Beitrag: 31. Mai 1917 (erscheint am 31. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 076/3.27.109 (Hafen von Rheineck, Anlegestelle mit Schiff «Bavaria», ca. 1914)

Sonntag, 6. Mai 1917 – Jedem Rausche folgt Ernüchterung

Nach seinen Frühlingsferien ist der jugendliche Tagebuchschreiber mit St.Galler Wurzeln, Ernst Kind, wieder zurück in der Kantonsschule in Zürich:

Meine Mondschwärmerei hat gestern einen Hieb bekommen, als uns «Spatz» (Dr. Zollinger) im Deutschunterricht Wilhelm Raabe’s Novelle «Deutscher Mondschein» vorlas. Ich fühlte mich ein wenig vor den Kopf gestossen. Aber ich denke jetzt doch, mein bisschen romantischen Anhauch behalte ich ruhig, so lang er nicht von selbst geht. Dass es mit dem Schwärmen nicht getan ist und dass man sich das nur eine Zeitlang erlauben darf, weiss ich wohl. Aber umso mehr tue ich es jetzt noch, da ich das Gefühl habe, mir sei es noch erlaubt.

Nächster Beitrag: 7. Mai 1917 (erscheint morgen!)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 238/02.12-60 (Postkarte von 1906). Die Fotografie stammt wie das Tagebuch aus dem Nachlass von Ernst Kind.

Freitag, 4. Mai 1917 – Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte…

Der beginnende Frühling weckt – unterstützt durch die schönen Künste – auch beim Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, Ernst Kind (Jg. 1897), die Lebensgeister:

Aus der Ferienreise in den Jura ist nichts geworden. Bis Schulanfang war das Wetter ganz abscheulich und Papa [Schweizer Berufsoffizier] hatte von der Grenze geschrieben, dass der Schnee im Jura das Fortkommen mit Wagen fast nicht möglich mache; also für eine Radfahrt absolut ungangbare Strassen. Nach Peseux bin ich nun natürlich auch nicht gekommen und habe darüber im Stillen viel getrauert. Aber schon am ersten Schultag haben wir uns wieder begegnet. –

Ungefähr seit 26. April ist das Wetter jetzt herrlich, auch warm, und das hat ein beinahe unglaublich plötzliches Wachstum in der Natur zustande gebracht, sodass der Maianfang mitten ins allererste Grünen gefallen ist. Mir ist dieser Mai ein Erlebnis geworden; ich habe den Frühling noch nie mit so starken Gefühlen erlebt; ich bin geradezu in ein romantisches Schwärmen geraten; es mag sein, dass dazu noch beigetragen hat, dass in den letzten herrlichen und warmen Nächten der Mond sich dem Vollmond nähert. Und ich glaube, ein seelisch irgendwie empfindsamer Mensch wird jedesmal zum Romantiker, wenn er eine warme Frühlingsnacht erlebt, besonders wenn er vorher wochenlang nichts als Regen und Schnee gesehen hat. Letzte Woche bin ich dreimal von Herrn Federer in die Konzerte des Klingler-Quartetts eingeladen worden und habe ihn nachher heimbegleitet; dann haben wir beide miteinander Mondscheinspaziergang gemacht und unsere romantische Sehnsucht zu stillen gesucht. Mein Sehnen hat ja einen realen lebendigen Hintergrund; er wird eben als Dichter gefühlt haben. –

Ein grösseres Erlebnis aber war für mich der Konzert-Abend von Nikisch am 30. April. Ich hatte ewas wie eine Ahnung; ich hoffte heimlich, Margrit P. dort zu sehen. In der Pause sah ich sie mit ihrer Freundin. Aber ich wagte nur einen Gruss mit dem Kopf; angesprochen habe ich sie nicht. Nachher fühlte ich, dass das eigentlich etwas ganz natürliches gewesen wäre; gekannt hätte ich sie doch genug dazu, nachdem ich einen ganzen Winter mit ihr zusammen Tanzstunde gehabt habe. Aber ich bin eben so viel in Gedanken mit ihr beschäftigt, dass ich fürchtete, ein Anreden hätte auffallen müssen. Aber ich bin eigentlich glücklich gewesen, dass ich es doch nicht tat. Ich glaube, sie geht auch nicht gleichgültig an mir vorbei. In meinen aufgeregten und sehnlichen Stimmung habe ich auf dem Heimweg vom Konzert noch auf der Strasse (bei einer Laterne) ein paar seltsame Verse geschrieben, die ich aber nicht verbessern will, trotzdem sie nur im ersten Taumel geschrieben wurden. Auch weiss ich wohl, dass ich mich (damals zwar kaum bewusst) in den letzten 4 Zeilen an eines aus der Müller-Liedern anlehne. Übrigens haben die Verse keinen Anfang, ich begann eben gerade da, wo meine Erregung ihren Höhepunkt erreicht hatte, als ich an Margrit P. vorbei gegangen war, aber nach 10 Schritten, einem heftigen Zwang folgend, mich umgedreht hatte und in gleicher Richtung wie sie ging.

Die Liebste sah ich wohl,

Wie sie ihr Köpfchen wandte und ihr ängstlich Auge

Schon durch die Menge streifte.

Doch als meinen Blick sie traf,

(Der ich beklommen in die Ecke war getreten)

Da schlug sie schnell die Augen nieder

Und ihr Köpfchen drehte rasch sich weg.

Mir aber ist der Blick

Ins Herz gedrungen, und es bebte lange. –

Ich gehe langsam heim durch stille Strassen.

Der Mond spielt mit den Wolken seltsam Spiel;

Sie gleiten schnell an ihm vorbei und ziehen weiter

Am einsam funkelnden Nachthimmel hin,

Wie weisse Schwäne ziehen auf dem dunkeln Wasser.

Ihr stillen Wolken, fragen wollt ich euch

– Doch wüsstet ihrs, ihr könntets doch nicht sagen –

Hat wohl das liebe Mädchen mich gesucht,

Als es sein Köpfchen scheu und ängstlich wandte?

(Geschrieben auf Notizblatt unter einer Strassenlaterne beim Mühlebachschulhaus Nachts 11 Uhr, 30 April.)

Vor 3 Tagen, also am ersten Mai, war Herr Federer Abends ein wenig bei uns, und ich musste ihm u.a. auch das herrliche Lied «Frühlingsglaube»: «Die linden Lüfte sind erwacht», vorspielen. Die Singstimme konnten wir uns jeder selbst denken, (Mama war ja nicht da; also wurde sie nicht gesungen) und die Begleitung ist schon für sich etwas Wunderbares. Jetzt erst verstehe ich dieses Lied und fühle, wie tief es in Wort und Melodie ist. Ausser diesem Lied gehen mir jetzt noch einige andere immer wieder durch den Kopf, die ich alle jetzt so recht mitfühle, vor allem die ersten Verse von Lenau’s Lied: «Lieblich war die Maiennacht», … dann auch ein einfaches Mittelhochdeutsches mit unbekanntem Verfasser: In liehter varve stât der walt, der vogel schal nu doenet …. . Und schliesslich habe ich wieder Horazens einzigartig schönes Lied auswendig gelernt: «Solvitur acris hiems…» (carm. I, 4) Es liegt etwas Sehnsuchtstärkendes darin, diese schönen Lieder wieder zu lesen; aber ich tue es deswegen doch, denn eigentlich ist dieses ständige Hoffen und Denken an etwas, das einem lieb ist, etwas Schönes, Belebendes, trotzdem es verzehrt, wie zwar eine grosse Flamme sich schneller verzehrt, aber dafür auch desto heller und schöner brennt. Einmal verbrennt auch die kleine, trotzdem sie nie hell gebrannt hat. Mein Lieben hat mich gerettet vor einem immer ärger werdenden philiströsen Pessimismus. Jetzt muss ich vor allem etwas zustande bringen: Ein Zurückfinden aus dem träumenden romantischen Schwärmerzustand zur Fähigkeit, zu arbeiten (das kann ich nämlich jetzt nicht recht und muss es doch wegen der nahenden Matura tun) und daneben die Kunst, meine Liebe in aller ihrer jetzigen Kraft und Sehnsucht zu erhalten. Das erstere wird schwer sein, das zweite nicht; sonst müsste ich an mir selbst irre werden.

Am zweiten Mai habe ich vor dem zu Bette gehen im Schlafzimmer versucht, meine Stimmung festzuhalten und mir einige Sätze aufs Papier geschrieben: «Die Maiennacht hat ihren Zauber über der Erde ausgebreitet, und die linde Luft fliesst durch mein Fenster herein. Ich fühle, dass etwas treibt und schafft in der stillen Natur. Der Nachtwind ist wie ein leises Streicheln, und er streicht über mein Gesicht wie beim Tanz das weiche Haar der Liebsten, wenn sie ihr Gesicht zur Seite neigt. Der herrliche Himmel glänzt aus unendlicher Ferne; seine strahlenden Sterne leuchten der Liebsten so hell wie mir. Alle Bäume stehen in ihrem Licht und wachsen; die volle Knospe ist zersprengt und hält das Leben nicht mehr, das jetzt zart aus ihr entspriesst.»

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897) und W 238/04.06-07 (Postkarte um 1900, Originaltitel: «Schloss Werdenberg: Mondschein, Gruss aus Buchs»)

 

Donnerstag, 5. April 1917 – Worauf es letztlich ankommt

Die Liebe ist ein Ding, Das ewig sich erneut

Und immer gleich sich bleibt. Es wechseln nur die Leut.

Der letzte Satz soll aber nicht etwa heissen, dass der Gegenstand der Liebe immer wechselt, sondern die Liebe ist etwas, das von einer Generation weitergeht auf die andere, ewig, solange es Menschen gibt.

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 200/58 (Ausschnitt aus einer Liebesbrief-Postkarte)