Baeckerei in Rheineck, ca. 1900

Dienstag, 6. November 1917 – Kriegsbilanz und Tagesgeschäft

Josef Scherrer, der vielbeschäftigte Sekretär des Zentralverbands christlichsozialer Organisationen, schrieb in seinem Tagebuch:

Ich habe seit langer Zeit keine Tagesnotizen mehr geführt. Eine Sünde, die ich immer wieder begehe. Zuviel Arbeit ist mir eine kleine Entschuldigung. Seit den letzten Notizen, die auch hier niedergelegt, ist so vieles wieder anders geworden. 

Der Krieg ist trotz den ernsten Bemühungen des Heiligen Vaters Papst Benedikt XV. weiter gegangen. Letzter Tage hat die gewaltige deutsch-österreichische Offensive den Italienern entscheidend zugesetzt. Heute melden die Österreicher und Deutschen bereits 250,000 Gefangene und eine Beute von 2000 Geschützen. Vielleicht ist das doch Friedensarbeit!

Ende September 1917 habe ich eine neue grosse Arbeit übernommen. Die Regierung des Kantons St. Gallen hat mich als Leiter des kantonalen Brotamtes berufen. Es ist einerseits für mich eine verlockende Arbeit, anderseits werde ich auch hier manche Sorgen zu kosten bekommen. Die Einführung der Brotkarte ist zwar im Kanton St.Gallen noch ziemlich glatt gegangen, Gott sei Dank! Ich hätte mich schon schön blamieren können! Möge Gott mir helfen, das wichtige Amt in schwerer Zeit gut zu verwalten.  

Rechnungskommission der politischen Gemeinde Tablat.

Rechnungskommission Die Sitzungen haben wieder seit einiger Zeit begonnen. Eine Arbeit, die an und für sich nicht uninteressant ist. Ich mache sie jetzt das 6. Mal. Da hat man doch bald genug.  

Konferenz. Vorberatende Kommission zur Baukommission.

Errichtung einer Baukammer des Kantons St.Gallen im Mercatorium in St.Gallen.

Koch & ich sind in die vorberatende Kommission berufen worden. Ich habe namens der christlich-sozialen Organisation grundsätzlich zugestimmt.

Antrag des Ingenieur- & Architekten-Vereins. Es soll das Justizdepartement angefragt werden, ob nicht ein Baugericht bestellt werden soll.

Schirmer [?]. Das Justizdepartement wird nicht dafür zu haben sein. Ein ganzes Baugericht wird so rasch nicht eintreten. Aber es wäre ein freiwilliges Baugericht doch zu gründen.

Dr. Wyler will wissen, wie sich das Kantonsgericht dazu stellt.

Ingenieur Sommer referiert über die Geschichte der Vorberatungen. Die Fachleute Kantonsbauamt, Stadtbauamt, die Bundesarchitekten sind gegen die Bildung.

Kantonsgerichtspräsident Dr. Geel hat sich gegen die gesetzlichen Fachgerichte ausgesprochen, da das Kantonsgericht nach und nach ausgeschaltet würde. Wenn alle Interessen-Kreise für ein Spezialgerichtswort einträten, so ist die Einführung möglich. Das Kantonsgericht lehnt die Errichtung eines Baugerichtes einstimmig ab.

Dr. Wyler ist für die Spezialgerichtsbarkeit.

Stauber, Zimmermeister Ich spreche mich grundsätzlich für eine Baukammer aus, immerhin unter gewissen Vorbehalten.

Koch sozialdemokratischer Sekretär spricht sich ebenfalls grundsätzlich für die Baukammer aus.

Högger will die Sache weiter verfolgen.

Es wird beschlossen, eine Konferenz mit den Behörden angestrebt. [sic]

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch Scherrer) und W 076/3.27.092 (Bäckerei und Conditorei von J. H. Tobler in Rheineck, ca. 1900)

Freitag, 30. März 1917 – Familienfreuden

Arbeitersekretär Josef Scherrer hat gute Nachrichten aus seiner Familie (vgl. Beitrag vom 27. März):

Ich bin heute wieder nach Wittenbach ans Krankenlager meiner Mutter gegangen. Der Krankenstand hat sich etwas gebessert, doch ist meine liebe Mutter stark geschwächt. Möge Gott ihr die Gesundheit bald wieder geben.

Zu Hause in meiner Familie ist Gott sei Dank alles gesund. Die lieben Kinderlein entwickeln sich ordentlich und erfreuen sich guter geistiger und körperlicher Gesundheit. Es ist ein herrliches gutes Geschenk, so gesunde Kinder zu haben. Mögen sie alle zu tüchtigen Menschen heranwachsen.

Mein liebes Frauchen ist in Erwartung des vierten Kindes. Kindersegen ist Gottes Segen. Möge sich das in meiner Familie erwahrheiten [bewahrheiten?].

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch Scherrer)

Geometrie

Dienstag, 27. März 1917 – Familiensolidarität

Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Arbeitersekretär und Politiker, beschreibt in seinem Tagebucheintrag, wie er für seine Familienmitglieder sorgte und insbesondere seinem jüngeren Bruder eine bessere Ausbildung ermöglichte:

Ich werde heute unerwartet von meinem Vater telefonisch an das Krankenbett meiner guten und lieben Mutter gerufen. Ich gehe am Mittag nach Wittenbach, um ans Krankenbett meiner herzensguten Mutter zu eilen. Eine hartnäckige Influenza & Lungenentzündung hat sie ins Bett geworfen. Der Arzt Dr. Trollich hält den Stand für etwas kritisch. Möge der liebe Gott meine liebe Mutter am Leben erhalten. Möchte doch ihr noch ein schönerer und besserer Lebensabend beschieden sein. Ich will helfen, so viel ich kann und in meinen Kräften liegt.

Mein Bruder Emil kommt nun aus der 6. Klasse. Man konnte ihn mit Rücksicht auf die gegenwärtigen Kriegsverhältnisse entgegen seinen Wünschen nicht in die Realschule anmelden. Ich halte nun aber dafür, dass er unbedingt in die Realschule gehen soll und ich erkläre mich bereit, ihm das Bahngeld zu vergüten. Wenn mein Bruder nicht eine tüchtige Schulung hat, so wird aus ihm nichts Rechtes werden. Die Verantwortung dafür kann und will ich nicht tragen, umso weniger, als Emil selbst den heissen Wunsch geltend macht[,] in die Realschule zu gehen. Ich will ihm dazu verhelfen.

Zur Geschichte der Realschulen in der Schweiz vgl. den Eintrag im Historischen Lexikon: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10426.php

Die Figur im Beitragsbild – Lernstoff im Fach Geometrie an Sekundar- und Realschulen – sollte folgende Eigenschaften eines pyhtagoräischen Dreiecks veranschaulichen: Das Hypotenusenquadrat [sic] ist gleich der Summe der Kathetenquadrate. […] umgekehrt [ist] […] ein Kathetenquadrat […] gleich dem Hypothenusenquadrat weniger das andere Kathetenquadrat. Im hinteren Teil des Schulbüchleins finden sich auch einige nützliche Übersichten über Masse und Gewichte wie die folgende Tabelle. Wer rechnete wohl mit Myriametern?

Masse

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch Scherrer) und ZNA 02/0079 (Ebneter, K.: Geometrie an Sekundar- und Realschulen, St.Gallen 1916, 2. Heft, S. 115, Beitragsbild und Kommentar)

Walhalla St.Gallen

Donnerstag, 15. März 1917 – Notstandsfonds der Stickerei-industrie

Josef Scherrer beschrieb in seinem stenografierten Tagebuch eine Sitzung der Verwaltungskommission des Notstandsfonds der Stickereiindustrie:

Präsident Steiger-Züst eröffnet die Sitzung.

1193 Firmen sind bis jetzt eruiert, bis jetzt sind Fr. 400,000 angemeldet. Der Präsident befürchtet, dass nicht Fr. 700,000.- zusammenkommen und bedauert, dass man nicht früher gesorgt habe. Jetzt kommt die Not.

Es rächt sich nun heute, dass man 1911/12 den Leuten der Schifflistickerei 1 Maschine zuschmiss und sie nun 1913, 14/15 nichts verdienen konnte.

Wir können also nicht von allen Arbeitgebern Unterstützung erhalten. Die Handstickerei hat bis heute nicht reklamiert. Es ist die Rettung der Handstickerei, dass sie sich anderweitig noch retten kann, indem sie mit der Landwirtschaft verbunden ist.

Wenn eine Not eintritt, so brauchen wir 3,3 Millionen im Monat, im Jahre 40 Millionen. Präsident Steiger-Züst möchte ein Werk von dauerndem Bestande und appelliert in diesem Sinne an die Versammlung. Die Bundesratsbeschlüsse werden zum Teil die Sanierung in der Stickerei-Industrie mitbewirken. Wir müssen eine Gesundung haben in den Löhnen, in den Abzügen, in der Kriegsversicherung.

Otto Alder. Wir wollten zuerst auf Grundlage der bestehenden Kassen und der Gemeindekassen vorgehen. Was dann erst nachher die Kriegsversicherung und was wir nur ungern mit Rücksicht auf die eingetretene ungünstige Lage uns zur eigentlichen Notstands [sic]

Mächler Dr. Regierungs-Rat. Nochmals eine letzte Frist bis 1. Mai eröffnen, damit die Leute der Kasse beitreten können.

Anträge. Das vorliegende Reglement soll nur ein Notreglement sein, das nur im äussersten Notfall Anwendung finden soll. Mit dem 1. Mai falle die ganze Geschichte dahin.

Eugster-Züst hat Bedenken gehabt gegen die Eingreifung in die bösartige Unterstützung und die Ausschaltung der freien Kassen. Eugster will unter der Voraussetzung, dass das nur ein Notreglement sei, darauf eintreten. Man sollte Fr. 200,000.- im äussersten Falle höchstens brauchen.

Dr. Zangger erwähnt, dass der Gedankengang Mächlers richtig sei. Aber er zweifelt, dass die Sache jetzt vorführbar sei.

Senn unter Vorbehalten einverstanden, wünscht eine Publikation.

Marti dito.

Weibel will auch für das Notreglement.

Eugster-Züst stellt den Antrag, das Büro sei zu beauftragen, mit dem Bundesrat in Verbindung zu treten bezüglich der Subventionierung der Kassen durch den Bund.

Dr. Fässler will das Notreglement nicht ausarbeiten und alles auf die Arbeitslosenversicherung einstellen.

Dr. Kaufmann war erstaunt über das Reglement des Ausschusses. Er würde es aber ausserordentlich bedauern, wenn in der zu haltenden Zwischenzeit der Fonds aufgebraucht würde. Wenn man auf den Entwurf eintreten will, so soll eine Begünstigung für die bereits versicherten Arbeiter geschaffen werden.

Der Antrag Eugster-Züst wird angenommen.

  1. Beratung des vorliegenden Notreglements.
  2. Wahl des Unterstützungsausschusses.

Das Bureau wird ex Offizio in den Ausschuss gewählt.

Als Arbeitnehmer werden gewählt Scherrer Josef, Vogel & Senn.

Als Arbeitgeber: Wetter, Huber, Köchlin, Rohner.

  1. Otto Alder teilt mit, dass Aussicht bestehe, dass England gewisse Erleichterungen für die Schweiz zulassen werde.

Anschliessend: Bankett im Hotel Walhalla.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch Scherrer, 15.03.1917) und ZMH 64/124a (Auszug aus Briefkopf: Hotel Walhalla-Terminus, St.Gallen, 1917)

Samstag, 30. Dezember 1916 – „Ein Jahr von Blut und Eisen“

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat sowie Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

Es neigt ein Jahr dem Schlusse zu. Ein Jahr von Blut und Eisen. Ach Gott, welches Unglück hat 1916 der Welt wieder gebracht. Ich habe zwar Anlass nur zum Danken gegenüber Gott, dem allmächtigen Vater. Meine Familie blieb von grösseren Unbilden glücklicherweise verschont. Das Jahr 1916 hat den Tod des Kollegen Lander gebracht. Da vorläufig kein Ersatz bestimmt wurde, hat meine Arbeit gewaltig zugenommen. Um einen besseren Verdienst zu haben, sah ich mich veranlasst, die Amtsvormundschaft in der Gemeinde Tablat zu übernehmen. Ich kann so wieder ein Gebiet studieren und wieder ein Stück Leben kennenlernen.

Heute bekomme ich von Trogen unerwartet Bericht, dass mein Bruder Franz dort schwer krank darniederliegt. Auf telefonisches Befragen erklärt man mir, dass mein Bruder Franz sehr ernst erkrankt ist und Todesgefahr besteht. Ich veranlasse mit Charge-Express den hochwürdigen Herrn Pfarrer Eberle in Speicher meinen Bruder sobald als möglich zu besuchen, um ihm doch den letzten Trost rechtzeitig spenden zu können. Hoffentlich kann mein Bruder mit gutem Verstand die heiligen Sakramente empfangen. Möge Gott ihn am Leben erhalten.

Im nachfolgenden Tagebucheintrag vom 31. Dezember 1915 heisst es, der Vater habe den Bruder besucht. Es gehe dem jungen Mann noch nicht gut, aber es scheine nicht allzu gefährlich zu sein.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1

Samstag, 16. Dezember 1916 – Doch kein Frieden …

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat sowie Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

[…]

Die Friedensofferte der Zentralmächte erfährt leider bei der Entente eine schroffe Abweisung. Und ach Gott, das Morden soll weitergehen und weiter das grosse Elend noch umfassender und noch verheerender machen. Möchte doch Gott ein Einsehen haben und der bedrängten Menschheit den Frieden wieder schenken.

[…]

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Text) und W 238/03.06-08 (Bild, Auszug aus einer Glückwunschkarte zum Jahreswechsel, gezeichnet von Adolf Sprenger, Dessinateur)

Donnerstag, 14. Dezember 1916 – Sozialer Kurs in Solothurn

Josef Scherrer weilte vom 11. bis zum 17. Dezember in Solothurn, wo er jeweils abends vor einem hundert bis hunderfünfzigköpfigen Publikum referierte. In seinem Sozialen Kurs behandelte er die Entstehung der sozialen Frage (11.12.), den Liberalismus, sein System und seine Geschichte (12.12.), den Sozialismus, sein System und seine Geschichte (13.12.), die Stellung des Arbeiters in der Volkswirtschaft (15.12.) sowie die christlich-soziale Bewegung der Schweiz und ihre kulturelle Bedeutung (17.12.). Am Donnerstag, den 14. Dezember machte er eine Stippvisite zu Hause:

Ich fahre heute Morgen um 5.15 über Herzogenbuchsee und Olten nach St. Gallen, wo ich schnell in St. Fiden meine Lieben grüsse. Dann geht es bei schönem Winterwetter wieder an den Aarestrand nach Solothurn.

Sozialer Kurs in Solothurn.

Anwesend: 140–150 Personen.

Ich behandle die Lehre der katholischen Sozialreform.

Der Vortrag wird mit grossem Beifall aufgenommen. Vater Innozenz hebt in der Diskussion hervor, dass ein wissenschaftlich fein durchdachter schöner Vortrag gehalten worden sei, der umso höher anzuschlagen sei, als hier die katholischen Grundwahrheiten in neuem Gewande für das soziale Leben geltend gemacht werden. Pater Innozenz dankt mir in begeisterten Worten für den Vortrag, der, wie ich sehen konnte, eingeschlagen hatte.

Ich notiere das nicht aus Hoffart und Stolz, sondern weil eine solche Anerkennung mir doch eine begreifliche Genugtuung bedeutet für die eigene Arbeit, für das von mir beschriebene Selbststudium. Ich danke Gott für diesen persönlichen Erfolg. Ich will ihn für das arbeitende Volk, soweit es in meinen Kräften steht, verwerten, für meine lieben Christlich-Sozialen.

Der Abend war auch ein Erfolg für die Solothurner Christlich-Sozialen.

Gestern schon hatte ein alter Solothurner Führer dem Verein warme Komplimente gemacht, nämlich Fürsprech Jerusalem. Heute Abend war die Aristokratie recht gut vertreten, wenn es nur da auch eingeschlagen hat.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebucheintrag von Josef Scherrer) und OP. COLL. 328(3) (Geser: Stickereindustrie der Ostschweiz, 1908)

Dienstag, 12. Dezember 1916 – Deutschland möchte Friedensverhandlungen

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat sowie Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung.

Während der Versammlung der konservativen Grossratsfraktion von Solothurn, zu der Josef Scherrer eingeladen worden war, ging folgende Nachricht ein:

[…]

Berlin, 12. Dezember. (Wolff) Der Reichskanzler teilte heute im Reichstag mit, die Regierungen der Zentralmächte haben heute an die diplomatischen Vertreter der mit dem Schutze ihrer Staatsangehörigen betrauten Staaten eine identische Note gerichtet, die den feindlichen Mächten mitgeteilt werden soll. Die Nota enthält den Vorschlag, von heute an in Friedensunterhandlungen einzutreten. In dieser Nota heisst es unter anderem, die Vorschläge, welche die Verbündeten zur Verhandlung stellen, sind nach ihrer Überzeugung geeignet, als Grundlage für die Wiederherstellung eines dauernden Friedens zu dienen. Wenn trotz dieses Angebotes der Kampf fortdauern sollte, sind die vier verbündeten Mächte entschlossen, ihn bis zu einem siegreichen Ende zu führen, wobei sie jede Verantwortlichkeit ablehnen.“

Es wird eine hochbedeutsame Stunde weltgeschichtlichen Geschehens angebrochen und man zittert, ist es vielleicht möglich, dass doch Frieden werden könnte. Oh wie würde der Druck, der seit zwei und einem halben Jahre auf uns lastet, von uns und von Millionen hinweggenommen. Deutschland macht ein Friedensangebot! Ob es ohne F ü h l u n g geschehen ist in den kriegführenden oder einzelnen gegnerischen Staaten? Man muss es leider fast annehmen. Deutschland kann nachher die schwere Verantwortung für den Krieg ablehnen. Es erhält ein moralisches Übergewicht, das dem Volke für die Weiterführung des Kampfes neuen Elan gibt. Möchte doch endlich das Ringen aufhören, oh wie würde die ganze Welt aufatmen, wenn wirklich auf Weihnachten ein Waffenstillstand eintreten würde. Man kann es noch nicht glauben, man wagt es noch nicht zu hoffen. Möge das Christkind, der grösste Friedensfürst doch bald den Frieden geben.

[…]

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) und W 238/03.06-10 (Ausschnitt aus einer Glückwunschkarte zum Jahreswechsel, gezeichnet von Adolf Sprenger, Dessinateur)

Mittwoch, 22. November 1916 – Begnadigung eines zum Tod Verurteilten

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916) später Kantonsrat und Nationalrat sowie Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

Grosser Rat – Sitzung.

Begnadigung des Mörders Eichmann von Uznach. Ich stimmte gegen die Begnadigung,

um für die Todesstrafe zu demonstrieren.

Mit 145 gegen 37 Stimmen wandelte das Kantonsparlament die vom damaligen Strafgesetz für Mord vorgesehene Todesstrafe in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe um. Es handelte sich dabei nicht um einen Bauchentscheid: Die Ratsmitglieder konnten zuvor Einsicht in die Strafakten nehmen. Zudem waren das kantonsgerichtliche Urteil, das Begnadigungsgesuch des Verurteilten sowie die Botschaft des Regierungsrates allen Ratsmitgliedern zugestellt und im Rat verlesen worden.

Der 36-jährige Josef Anton Eichmann hatte am 15. August 1916 in einem Waldstück seinem sechsjährigen Sohn die Kehle durchschnitten. Um sich nicht verdächtig zu machen, beteiligte sich Eichmann eifrig an der folgenden Suchaktion. Als das tote Kind gefunden wurde, vermutet die Polizei als Tatmotiv zuerst einen Lustmord, begangen von einem Landstreicher. Eichmanns Inszenierung misslang indes und bereits am 19. August wurde er in Haft gesetzt. Zwei Tage später gestand Eichmann die Tat. Als Motiv gab der in ärmlichsten Verhältnissen lebende Fabrikarbeiter an, dass ihn das Benehmen des Knaben häufig gereizt und aufgeregt habe. Der kleine Josef habe ihm nicht mehr gehorcht und hätte ihn „auch gar viel angelogen“. Eichmann hatte sich schon längere Zeit überlegt, wie er den ungeliebten Sohn loswerden könnte. Unmittelbarer Auslöser der Tag war Eichmanns Wut darüber, dass Josef jun. nicht zum vereinbarten Zeitpunkt vom Beerensuchen heimkehrte und er ihn im Wald suchen gehen musste.

Die latente Tötungsabsicht von Eichmann und die ihm bescheinigte volle Zurechnungsfähigkeit könnten Josef Scherrer bewogen haben, im Rat gegen eine Begnadigung zu stimmen. Im Gegensatz zu Scherrer erkannte der Regierungsrat jedoch eine Reihe von Milderungsmomenten, die nach Ansicht des Gremiums eine Strafumwandlung rechtfertigten: Eichmann war nicht vorbestraft, lebte unauffällig und galt als fleissig, verfügte über einen guten Leumund und zeigte Reue. Laut der Botschaft des Regierungsrates habe „die Herkunft, die Erziehung und der Lebensgang des Verurteilten offenbar wesentlich dazu beigetragen, dass er so tief sinken konnte.“ Schon der Vater des Täters sei wie sein Sohn „geistig schwach begabt“ gewesen und die Mutter eine Trinkerin. Nachdem Eichmann als Sechsjähriger Vollwaise geworden war, wuchs er im Armenhaus auf.

Als er als Erwachsener selber Familienvater geworden war, überforderte ihn die Erziehung des kleinen Josef und dessen jüngerer Schwester zunehmend. Eichmann brachte seine Kinder deshalb auf eigene Kosten im Bezirkswaisenhaus unter. Mangels Geld musste er die Kinder aber schliesslich wieder in seinen Haushalt zurücknehmen: „Offenbar“ – so der Regierungsrat – „trug dann seine geistige Rückständigkeit und Unbeholfenheit wesentlich dazu bei, dass er keine andern geeigneten Mittel fand, um den Knaben auf bessere Wege zu bringen und schliesslich auf den schrecklichen Gedanken kam, ihn zu beseitigen.“

Das nächste und letzte Todesurteil im Kanton St.Gallen wurde erst 1938 gesprochen. Auch hier wurde der Doppelmörder Paul Irniger schliesslich begnadigt, 1939 im Kanton Zug aber wegen einem anderen Mord verurteilt und mit der Guillotine hingerichtet.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch), GA 002/376 (Gerichtsakte Eichmann: Fingerabdrücke eines fälschlicherweise verdächtigten, „übelbeleumundeten Vaganten“)

Freitag, 10. November 1916 – Lebensmittelversorgung der Bevölkerung

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat sowie Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

Kantonale Lebensmittelfürsorge-Kommission.

Anwesend: Landammann Baumgartner, Stadtrat Nägeli, Dr. Ambühl, Koch, Scherrer.

Dr. Gmür, Sekretär des Departements referiert über die gegenwärtige Lage.

1000 Wagen sind bestellt werden, der kantonale Genossenschaftsverband hat nicht einen Wagen geliefert. 180 Wagen à 10 t – Stadt St. Gallen hat 50 Wagen bezogen.

50 % der bestellten Quantitäten wurden kontingentiert.

Die Stadt St. Gallen hat 200 Wagen zugeteilt, 300 Wagen für die Landgemeinden. Rest total 400 Wagen für die Landgemeinden. Die Konsumvereine müssen die Verteilungslisten den Gemeinderäten [abgebrochen]

Der Bund gibt die Kartoffeln zu 18.70, wir geben sie zu 18.80 ab.

900,000 Fr. müssten zum Voraus bezahlt werden. Der Kanton erleidet so einen Verlust an Zinsen. 40– 50 Wagen werden dem Departement reserviert. Da wird auch eine Gewichtseinbusse in Rechnung zu stellen [sein].

Dr. Ambühl will eventuell doch noch die Kartoffelkarte einführen.

Von Flawil wird ein Gesuch gestellt den Höchstpreis zu erhöhen. Wird abgelehnt.

Monopolartikel.

Mais, Reis, Haferflocken wurden den Gemeinden offeriert am 11. Oktober.

erhalten 15 Wagen Mais, eingelaufen sind 5.

Reis sind 4 Wagen eingegangen beziehungsweise zugeteilt.

Gerste wurde von den Gemeinden bestellt 3 Wagen à 10 t. Wir haben zwei Wagen Futtermais erhalten. Weitere Gerste ist vorläufig nicht erhältlich.

Haferflocken sind genügend eingegangen.

Teigwaren sind 3½ Wagen bestellt, zugesichert sind nur 50 Kilozentner.

Ich rege an nochmals ein Rundschreiben an die Gemeinden zu erlassen, damit diese etwas tun. Ich weise auf das Alttoggenburg hin, wo bezügliche Begehren abgewiesen wurde. Butterproduktion. Ich werfe auch diese Frage auf.

[…]

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch) und KA R.130-6c-5a.2-1 (Katholisch-Tablat: Schülerspeisung in der Turnhalle für etwa 180 Kinder, 1916)