Montag, 11. November 1918 – Bolschewisten überall: Grippe und Landesstreik

Ernst Kind, der einundzwanzigjährige, frischgebackene Offizier der Schweizer Armee über die Lage in Europa, seine Sympathien nicht verhehlend:

8. November 1918: Folgende Worte, die ganz aus der momentanen Stimmung heraus, aber wie ich überzeugt bin, immerhin noch mit klarem Blick in die Verhältnisse geschrieben werden, sind vielleicth das letzte, was ich in ruhiger Umgebung schreiben kann. Man muss heute, wo die Idee des Bolschewismus wie eine scheussliche Seuchedurch alle Länder geht, mit jedem Tag den Ausbruch einer Revolution fürchten. Es ist alles, das ganze Unglück der jetzigen Lage, so rasend schnell gekkommen, dass man es noch nicht in seiner ganzen Wirklichkeit fassen kann. Die Kriegsereignisse seit dem Frühling sind wie ungeheure Schläge nacheinander gefolgt:

Im März begann die deutsche Kriegsoffensive. (Im Sommer 1917 war die russische Revolution zur vollen Wirkung gelangt, indem das Heer sich auflöste und die ungeleiteten Massen sich raubend u. plündernd im Land herumtrieben. Zum Schutz der Ukraine hatten die Deutschen Truppen dorthin [an dieser Stelle ein * im Text und oben der Hinweis: Forts. Am 11. Nov. 1918.] gesandt u. waren bis weit über die Krim hinaus vorgerückt. Dann war es zum Frieden von Brest-Litowsk gekommen, wodurch die Feindseligkeiten gegen die russische Sowietrepublik (Arbeiter- u. Soldatenrat: Lenin u. Trotzky) ein Ende erreichten. Die Ukraine schloss ein wirtschaftlich wichtiges Abkommen mit den Zentralmächten, indem sie deren Verproviantierung erleichtern sollte. Auch Rumänien wurde der Frieden von Bukarest aufgezwungen. So standen die Deutschen trotz scheusslicher u. drohender Fortsetzung der Revolution in Russland (Terror in Petersburg u. Moskau, fürchterliche Hungersnot, Cholera) im Osten gesichert da, u. hatten sich militärisch u. wirtschaftlich erleichtert. Aber doch hat jener Abschluss des Krieges im Osten u. die Wiederaufnahme der Beziehungen mit Russland unendlich mehr geschadet als genützt. Die Revolution, der Bolschewismus, hatte nun freien Zutritt in Deutschland u. Österreich, indem die Sowjetgesandtschaften ihr Exterritorialitätsrecht so schändlich missbrauchten, dass sie in den Gesandtschaftshäusern ganze Magazine revolutionärer Propagandaschriften aufhäuften u. diese dann auf verborgenem Weg den deutschen u. österr. Arbeitern in  die Hände spielten. Jedenfalls ist in dieser Beziehung kolossal gearbeitet worden seit letztem Jahr; nur so lässt sich ds heutige Verhalten erklären. Auch in der Schweiz haben wir eine solche Sowietbotschaft erhalten, u. in unserem Lande hatte es die Agitation naturgemäss noch leichter als bei den Kriegführenden mit ihrer Zensur u. ihrem teilweisen Belagerungszustand. –

So viel glaubte man aber allgemein, dass Deutschland jetzt im Osten frei, seine überzähligen Truppen an den Westen transportieren u. dort die Entscheidung suchen werde. In Italien erfolgte der Sturm im Okt. 1917. Mit deutschen Truppen an den entscheidenden Stellen griff das österreichische Heer auf riesiger Front an, brach am Isonzo durch u. brachte das italienische Heer zu einem grauenhaften Rückzug, vielmehr zu einer Flucht. (Katastrophe am Tagliamento, wo 60000 Mann sich ergaben). Erst hinter dem Piave kam der Angriff an französ.-englischen Hilfstruppen zum Stehen. Italien erholte sich bald wieder. Im Frühling 1918 kam es dann eben dort zum Generalangriff, wo einzig die Hauptentscheidung fallen konnte, in Frankreich. In mehreren furchtbaren Offensivstossen [sic] stiessen die Deutschen in Frankreich vor. Zu äusserst westlich erreichten sie beinahe die Ränder von Amiens u. im Süden der Angriffsfront erreichte man die Marne, zum zweitenmal der Schicksalsfluss. Foch’s Reserven (Foch war durch die Not zum Generalissimus der Entente geworden) waren aber nicht erschöpft, ungeheure Massen kamen aus Amerika; der U-Bootkrieg versagte den Transporten gegenüber, jeden Monat kamen seit Mai 1918 durchschnittlich 300000 Mann. Mit diesen u. seinen letzten Kräften an Franzosen u. Engländern setzte Foch zum Gegenangriff an. (Mitte Juli.) Und das ist die Peripetie des grossen Dramas. Von da an kam Schlag auf Schlag das Unglück über Deutschland. Zu schwacb gegen die Übermacht, Mangel leidend an Material wie an Nahrung, schliesslich verlassen u. verraten von allen Bundesgenossen, schliesslich verlassen u. vor allem, durchseucht vom Bolschewismus, d.h[.] gelähmt an seiner inner Kraft, ist es jetzt zusammengebrochen, militärisch viel weniger als politisch.

Die Ereignisse folgten sich etwa so: Durch die vielerorts erfolgten übermächtigen Tankoffensiven der Alliierten (der Unzahl der Tanks vermochte die deutsche Artillerie nicht mehr beizukommen; selbst hatten sie von dieser Waffe fast nichts.) wurden die Deutschen zur Aufgabe aller in diesem Frühling eroberten Gebiete gezwungen. Dann kam der Rückzug zum Stillstand. Vor diesem deutschen Rückzug ist es noch bei den Österreichern zu einer unglücklichen Offensive gekommen. Ein Vorstoss über den Piave drang nicht durch, der ausserordentlich anschwellende Strom unterbrach die Verbindungen u. so kam die Notwendigkeit eines mühsamen, deprimierenden Rückzuges über den Piave.

Im Herbst nahm das Unglück ein rasendes Tempo an. Bulgarien verriet die Bundesgenossen u. liess nach einer militärischen Kommödie [sic] die Entente einmarschieren. Die Verbindung mit dem Orient war verloren. Die Entente beherrschte Bulgarien u. drang durch ganz Serbien vor. Gleichzeitig erlitten die Türken in Palästina geradezu vernichtende Niederlagen u. schlossen ganz nach den Bulgaren einen Waffenstillstand, der eine Kapitulation war Als letzter Verbündeter Deutschland[s] kam Österreich mit dem unerhörtesten Verrat. Das alte habsurg. Reich fiel auseinander. In 1 Woche erklärten die einzelnen Staaten der zusammengewürfelten Monarchie ihre Selbständigkeit. Einem italienischen Angriff leistete das Heer noch kurzen Widerstand, während hinten im Land der reinste revolutionäre Hexensabbat los war Dann löste sich die Armee einfach auf, schloss einen schleunigen Waffenstillstand, u. Kaiser Karl zögerte nicht, Sonderfriedensverhandlungen zu unterbreiten. Aber auch so rettete er seinen Tron [sic] nicht mehr. Österreich hat kapituliert wie kaum vorher ein Staat. In seinem Innern wütet die Revolution, u. die Entente hat das Recht, das Land zu besetzen. Vor einer guten Woche ist es aber zum Schlimmsten gekommen. Auch Deutschland hat die Revolution. Alles ist in Bewegung. Ludendorff ist schon länger zurückgetreten. In der Flotte haben kolossale, blutige Meutereien stattgefunden, Arbeiter- u. Soldatenräte traten überall zusammen; Bayern wurde über Nacht Republik, am 9. Nov., also vorgestern hat der deutsche Kaiser Wilhelm II abgedankt u. der Kronprinz verzichtet u. heute am 11. Nov. ist der Waffenstillstand mit der Entente abgeschlossen worden, der Deutschland jedenfalls wieder zum Sklaven macht, und eine furchtbare Katastrophe für lange sein wird. Möge nur um alles der Bolschewismus nicht lange triumphieren, sonst stirbt das, was man bisher echt deutsch nannte. Der deutsche Staat ist ja bereits gestorben, ohne einem verjüngten Wesen Platz zu Machen.

Jetzt komme ich auf unsere Verhältnisse zu sprechen. Sie sind bitter ernst, verzweifelt ernst. Letzte Woche hatten die Bolschewiki, deren wir ja so viele haben, den Jahrestag der russ. Revolution feiern wollen; dabei war ein gewaltsamer “Putsch” geplant. Da hat nun der zürcherische Regierungsrat offenbar sehr Angst bekommen und endlich einmal dringend Truppen in Bern verlangt. Und glücklicherweise hat man auch dort den Ernst der Sache erfasst und gleich energisch vorgesorgt. Innert 2 Tagen wurden 4 Inf. Regimenter und sämtliche 4 Kav.brigaden aufgeboten; die Kavallerie, hauptsächlich Bauern, war eine bestimmt zuverlässige Truppe, und an Infanterie hatte man auch gute Leute ausgewählt, vor allem Thurgauer u. Luzerner Truppen. Am 8. Nov. war bereits ein Regiment Inf. und eine Kav.brigade in und um Zürich bereit. –

Offenbar fand Ernst Kind vor der Jahreswende nicht Zeit, über den Fortgang und Ausgang des Landesstreiks zu schreiben. Erst am 13. Januar 1919 notierte er wieder in sein Tagebuch:

Fortsetzung am 13. Januar 1919.

Am 9. Nov. verreiste Papa per Auto an die Grenze, als stellvertretender Kommandant der 5. Division. Für den selben Tag war in der ganzen Schweiz ein 1-tägiger “Proteststreik[“] verkündet worden, Protest gegen das “herausfordernde” Truppenaufgebot. Soviel man nachher erfuhr, ist dieser Proteststreik nur in Zürich einigermassen zur Ausführung gekommen; er war eben nicht vorbereitet; auch gaben die zahlreichen Truppen jedenfalls vielen Arbeitswilligen den Mut, an ihrer Arbeit zu bleiben. Vormittags fuhren sogar die Strassenbahnen, allerdings nur die Leute vom Personal, die sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatten, falls man ihnen Schutz zusichere. Deshalb standen vorn u. hinten auf der Plattform je 3 Mann Feldgraue mit aufgepflanztem Bajonett. Nachmittags musste der Tramverkehr trotzdem eingestellt werden.

Immerhin, schlimm war dieser Tagesstreik noch nicht; die Geschäfte und Läden waren zum grössten Teil offen; Gaswerk, Elektrizitätswerk u. Wasserwerk arbeiteten ruhig weiter, trotzdem man am Freitag abend schon das Gegenteil befürchtet hatte, und infolgedessen noch Badewanne, Eimer u. Krüge mit frischem Wasser gefüllt hatte! (Ich verwechsle das; erst am Montag, 11. Nov. morgens tat man das, als infolge Weiterdauerns des Streiks darob Befürchtungen entstanden.) Der Sonntag verging sehr unruhig, riesenhafte Demonstrationen infolge der bolschewistischen Agitation fanden im Stadtinnern statt. Das Militär sperrte wichtige Plätze ab. Beim Räumen des Fraumünster- und Paradeplatzes waren die Truppen gezwiugen, zur Warnung scharfe Salven über die Köpfe der Radaumacher hin abzugeben. Das Strassenbild war kaum zu vergleichen mit normalen Zeiten: Keine Strassenbahn, dafür häufig Militärlastautomobile mit schussbereiten Soldaten besetzt, sogar z.T. mit Maschinengewehren ausgerüstet. Auf alle Fälle spürte man, die Sache war noch nicht zu Ende mit dem Samstagsstreik.

In der Sonntagnacht beschloss wirklich das Oltener Aktionskomité [sic] eine Fortsetzung und Ausdehnung des Streikes im ganzen Land (das Oltener Komité ist so eine Art Sowiet, der gern die Nebenregierung neben dem Bundesrat spielt u. darauf ausgeht, schliesslich ganz ans Ruder zu kommen.) Also ging der gefährliche Unsinn am Montag weiter, auf unbestimmte Zeit; man wollte es auf eine Kraftprobe ankommen lassen, wer es länger aushalte, die Bolschewiki oder der schweizerische Bürger. Hier sind am Montag wieder gewaltige Demonstrationen veranstaltet worden. Jetzt stockte aller Verkehr, auch alle Bahnen und der Briefpostverkehr. Bei Zusammenstössen mit Demonstranten ist ein Soldat erschossen worden; abends veranstaltete unsere national gesinnte Studentenschaft eine Zusammenkunft, um zu beraten, wie man helfen könnte, um die gestörten Betriebe wieder in Gang zu setzen. Vor allem sollte dem empörenden Schauspiel abgeholfen werden, dass an allen Ecken das ketzerische «Volksrecht» , unser Bolschewikiblatt, feilgeboten wird, während keine einzige bürgerliche Zeitung erscheinen kann. Die Versammlung war voll guten Willens zum patriotischen Helfen, wenn es auch infolge der Erregung dabei sehr laut herging. Ich habe mir dort den Keim zur zweiten Grippe geholt und habe das leidige Übel schon in er Nacht gehabt. Abends erfuhr ich noch neue Truppenaufgebote, beinahe 2 ganze Divisionen. Im Ganzen werden wir wegen dieser innern Unruhen etwa 60000 Mann aufgeboten haben. – Wie gesagt was nach dem Montag während des Streiks passiert ist, kenne ich nur aus der Zeitung u. vom Hören. Ich lag mit Grippe im Bett. Doch freute mich schon am Dienstag die Mitteilung, dass unter Mithilfe unserer Studenten ein bürgerliches Blatt herauskam, die nationale «bürgerliche Presse Zürichs». Vom Mittwoch an vertrugen meine Kommilitonen auch die Brief- u. Packetpost [sic]! Und in der Mittwochnacht sahen die Oltener Leute endlich ein, dass ein russisches Programm in der Schweiz noch nicht durchführbar ist, und sie gaben den Kampf auf; d.h. sie unterwarfen sich. Der endlich in der Not befolgte Zusammenschluss der Bürger hat ein drohendes Unheil abgewendet. Die Soldaten blieben aller Agitation gegenüber taub. Hingegen ist es oft vorgekommen, dass sie einen der ärgsten Schreier gehörig verklopft haben, wie es solchem unerzogenen frechen Jungburschengesindel gegenüber am besten ist.

Allmählich ist dann alles wieder zur Ruhe u. wieder in Gang gekommen. Seither steht ständig ein Regiment in und um Zürich bereit, neuen Putschen gleich entgegen zu treten. Doch bin ich überzeugt, dann ginge es schlimmer zu, blutiger. Unsere Truppen haben unter der Grippe während des Streiks schwer gelitten; über 800 Tote haben sie in der ganzen Schweiz verloren, einzig, weil der Streik sie zusammengeführt hat. Ein zweites Mal würden sie kaum mehr über die Köpfe schiessen, die Empörung u. der Rachedurst ist zu gross. –

Nachdem endlich die Spartacusbewegung in Berlin nach scheusslichen Strassenkämpfen niedergeworfen worden ist, glaube ich nicht, dass bei uns der Kampf wieder losgeht. Auf eine Wiederholung ist man aber, soviel ich merke, militärisch sehr gut vorbereitet. Ich bin der neugegründeten Stadtwehr beigetreten, die sich organisiert hat, um Eigentum und Arbeit bei neuen bolschewistischen Versuchen zu schützen. Seit 31. Dez. 18 bin ich Leutnant. (Kp. III/70, Zürich, Landschaft.)

Flugblatt Rückseite

Quelle; Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Einträge vom 08.11.2018, 11.11.1918 und 13.01.1919; zusätzliche Absätze zur besseren Lesbarkeit eingefügt) und W 240/1.3-11.4 (Beitragsbilder: Dokumentation von Jakob Jäger, 1874-1959, über den Landesstreik, Flugblatt der Volksstimme zum 13. November 1918, Vorder- und Rückseite)

Grenzwache 1918

Donnerstag, 31. Oktober 1918 – Grippe im Militär und Gedanken zum Offizierssein

Auszug aus dem Tagebuch von Ernst Kind, später Rektor der Kantonsschule St.Gallen, über seine Offiziersausbildung im Sommer 1918:

31. Oktober 1918: Wenn ich auch in diesen Tagen von persönlich Erlebtem schreibe, wo doch Ereignisse in der Welt passieren, die den Wert des Einzelnen zerdrücken und uns tief ins Gemüt greifen, so kann ich das nur, weil mein Leben diesen Frühling, Sommer u. Herbst unter dem Eindruck dieser Zeit sich so abgespielt hat. Während dieser ganzen Zeit war ich immer Soldat. Am 13. März rückte ich hier in die Unteroffiziersschule ein, nach deren Abschluss wir gleich Gelegenheit hatten, unsere Fähigkeit als Vorgesetzte zu erweisen. Am 4. April begann diese Rekrutenschule, die ich als Korporal mitmachte, und am 8. Juni war sie zu Ende.

Meine Erfahrungen sind die: Als Vorgesetzter war ich etwas zu schwach, zu unentschlossen gegen meine Rekruten. Sie sind zwar im Ganzen rechte Soldaten geworden; aber ich glaube, ich brauche mehr Straffheit. Mit grosser Begeisterung und mit ein wenig ängstlicher Spannung rückte ich dann am 17. Juni (nach 9 Tagen Urlaub) zum Grenzdienst ein (mit ängstlicher Spannung in Erwartung der Mannschaft, die mir jungem Korporal zugeteilt würde, die schon 3 Jahre Grenzdienst erlebt haben u. zum grossen Teil viel älter als ich sein würden.) Die 3 Wochen Wachtdienst am Rhein bei Rheinfelden sind in meinem bisherigen militärischen Leben die uninteressantesten; man sass den ganzen Tag im Wachtlokal u. las, einzig unterbrochen durch die Wachtablösung alle 2 Stunden. Ein sichtbares Resultat hat dieser Grenzbewachungsdienst nicht gebracht, wir haben keine Schmuggler gefangen und hatten keine fremden Flieger.

Als dann die Ablösung kam, freuten wir uns auf einen richtigen Dienstbetrieb, wie wir uns den jetzt folgenden Juradienst vorstellten. Das Programm sah grössere Übungen auch mit kombinierten Waffen voraus. Da ist alles durch die zuerst im Juni aufgetretene Grippe zuschanden gemacht worden. Diese spanische Krankheit hat uns innert einer halben Woche mehr als die Hälfte des Bestandes niedergeworfen. In meinem Zug erkrankten sämtliche Unteroffiziere ausser mir in den ersten Tagen. Ein Zugführer war nicht zur Stelle, da unser Leutnant ebenfalls krank war, unser Zug aber von der Komp. getrennt allein in einem Bauernhof 5 Minuten von der Grenze entfernt lag. (In Steinboden, nahe der Lützel, 1 Stunde nördlich Pleigne.) So sah ich mich auf einmal gleichzeitig als Zugführer, Führer Rechts und als einfacher Korporal, wozu dann noch das Amt der Krankenpflege trat. Von Ausrücken zum Felddienst war damals keine Rede mehr, hatten wir doch nur noch 17 oder 18 Mann im Zug, die aufrecht waren, und die brauchten wir gerade zur Pflege der andern Hälfte, umsomehr, als wir das Essen bei der Komp. 20 Minuten weiter oben, immer für die Kranken holen und heruntertragen mussten. Da war es kein Wunder, dass ich schliesslich auch angesteckt wurde und dann 3 Tage inmitten meiner Soldaten krank im Stroh lag. Dann war das Fieber vorbei und nach weitern 2 Tagen, währenddessen wir noch den nötig gewordenen Umzug zur Komp[.] mit Gesunden, Kranken u. allem Material bewerkstelligten, reiste ich nach Zürich für 7 Tage Erholungsurlaub. Das konnten damals alle Gripperekonvaleszenten tun, u. unsere Komp. hat damals etwa 80 Mann auf diese Art in der ganzen Schweiz zerstreut gehabt. Ich verbrachte diese Zeit in St.Gallen, wohin Mama mit Silvia gereist war. (Doris war in Arosa.)

Dann rückte ich wieder bei der Einheit ein und traf auf überaus traurige Zustände. Die Komp. war zum Bat. nach Pleigne disloziert worden, da Pleigne infolge grossen Abganges leer geworden war. Ich fand die Komp., was an Gesunden noch da war, auf etwa 20 Mann zusammengeschrumpft, alle im gleichen Kantonnement; auch mir blieb kein anderer Ort zum Schlafen übrig. Ich habe die 4 Tage bis zu meiner zweiten Abreise ausgefüllt, in dem [sic] ich das schauderhaft aussehende Magazin der Kp. suchte in Ordnung zu bringen, ein ekliges Geschäft, da über 100 alte Exerzierkleider von Grippekranken herumlagen, deren Besitzer mi Krankenzimmer waren. Ich musste es unter den allgemeinen so niederdrückenden Zuständen, wie sie bei meiner Truppe waren, als wahre Erlösung empfinden, am 28. Juli wieder aus dieser denkwürdigen Grenzbesetzung zurückkehren zu können; die Grippe hatte nicht nur unser ganzes Programm über den Haufen geworfen, sondern die Stimmung überall so bedrückt gemacht, dass es traurig war, dies mitanzusehen.

Etwa 2 Wochen lang waren fortwährend 10-12 Mann der Kp. unterwegs, um beinahe jeden Tag einen andern toten Kameraden aus dem Spital in Delsberg oder andernorts zum Bauernhof zu begleiten, damit er in seiner Heimat begraben werde. Unsere Kp. hat 7 Tote verloren, das Bataillon ungefähr 24. Was aber an bleibenden Nachteilen für die Wiedergenesenen vorhanden ist, das kann man gar nicht ausrechnen; fast jeder hat eine längere Zeit nachher noch mit dem Herz zu tun. –

Ich bin also am 30. Juli in Zürich in die Offiziersschule eingerückt, von der Grippe ordentlich geheilt und darauf gefasst, einen strengen Dienst vor mir zu haben. Er ist streng gewesen, doch scheint es, dass man etwas Rücksicht auf die Grippe genommen hat und sich ängstlich in Acht nahm, sie von dieser Schule fernzuhalten. Bis in die zweitletzte Woche konnten wir so durchhalten, während sämtliche Schulen anderer Divisionen aufgelöst werden mussten. Dann, in Stans, hatten wir plötzlich soviele Fälle, dass eine um 8 Tage zu frühe Entlassung nötig wurde. Immerhin gilt die Schule für beendet[,] und ich bin froh, meine Offiziersausbildung hinter mir zu haben. Ende des Jahres wird jetzt die Ernennung zum Offizier erfolgen; damit ist mein diesjähriger Dienst zu Ende geführt.

Ich habe wenigstens für die viele geopferte Zeit ein gewisses Ziel erreicht. Seit dem 18. Oktober trage ich wieder Zivil u. freue mich meiner Ungebundenheit vor dem Publikum. Mein Standpunkt als Offizier ist nicht ganz der, zu dem man uns erzogen hat.  Ich verachte die Auswüchse des übertriebenen Ehrgefühls, ebenso auch die, welche leider bei jeder gemütlichen Zusammenkunft sich zeigen. Es gehört nun einmal absolut nicht zu einem Offizier, dass er einen Rausch gehabt haben muss. Das Ideal, das da immer zur Entschuldigung vorgebracht wird[,] nämlich die Erziehung zur Selbstbeherrschung durch den Trinkzwang, ist Blödsinn. Denn tatsächlich habe ich keinen unter unseren Offizieren u. Aspiranten gesehen, der sich noch beherrscht hätte, wenn er voll war; sondern alle haben das jämmerliche Bild eines betrunkenen Menschen gegeben, der sich im Offizierskleid solcher Schande aussetzt. Wir besitzen überdies genügend Mittel, um unsere Selbstbeherrschung zu üben u. zu erproben.

Ferner betrachte ich den Krieg nicht als etwas, worüber sich der Offizier freuen soll, denn wenn er sich über den Krieg an sich freut, so freut er sich eben über das Morden, und vielfach ist auch eigentlich das der Grund der Freude. Der rechte Offizier nach meiner Überzeugung freut sich im Kriege rein nur darüber, dass er sein Vaterland schützen darf, u. dass er hier allein Gelegenheit findet, im Ernst seinen Charakter und seine Mannheit zu zeigen. Aber wie darf er das innerste menschliche Gefühl aus der Seele bannen, dass da etwas Furchtbares geschieht, etwas Hirnwütiges, das eigentlich für das Menschengeschlecht eine Schande ist. –

Ich glaube, immerhin, meine Qualifikation in dieser Schule ist richtig: Ich soll etwas mehr aus mir herausgehen, die eigene Schüchternheit überwinden, mehr Selbstvertrauen haben. Das sind meine richtig erkannten Fehler. Ich bin noch zu schwächlich, erkenne eigentlich in mir immer noch sehr viel ganz Kindliches, nicht Männliches. Meine Erscheinung ist auf alle Fälle nicht die eines Offiziers, als mein Blick nicht scharf ist. Was aus meinen Augen spricht, ist nicht Entschlossenheit, sondern eher Schwachheit, – wenn ich mich zusammennehme, so sieht es wieder wie Bitterkeit u. Ärger aus. Ich sehe soviel mir auffällt, nicht jünger als meine Kameraden aus; aber der Mann schaut mir noch nicht aus den Augen. –

Was mich eigentlich jetzt unendlich mehr bewegt, die ungeheuren Ereignisse ringsum, davon zu schreiben brauche ich mehr Zeit. Die Lage ist zudem so unsicher, dass in einer Woche alles noch ganz anders aussehen kann. Unendlich traurig ist, was sich gegenwärtig ereignet. Die Lüge feiert gerade jetzt ihre grössten Triumphe, denn der sehnsüchtige Glaube an einen Rechtsfrieden ist zerschlagen, vorerst hat der Krieg entschieden und bleibt ungestraft. Die Anarchie wälzt sich von Russland her immer näher u. hat bereits ganz Österreich in ein wüstes Chaos zerrissen, und bei uns klopft sie nicht mehr bloss an die Tür, sondern steht bereits zur Hälfte im Land. Doch davon will ich bei besserer Gelegenheit schreiben.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind, Eintrag vom 31.10.2018) und W 132/2-334 (Beitragsbild zur Grenzbesetzung: Unteroffiziersposten der Geb. Sch. Kp. III/8. Kp. am Grenzacher Hörnli, Februar/März 1918)

Ansichtskarte "Gruss aus Necker*

Samstag, 2. Februar 1918 – Jung-männerzweifel: Gedanken über die «sittliche Geschlechtsliebe»

Fortsetzung der Liebesgeschichte des Ernst Kind, späterer Rektor der Kantonsschule St.Gallen (vgl. früher erschienene Beiträge):

2. Februar 1918. Heute habe ich einen Vortrag von Prof. Ludwig Köhler über «Sittliche u. natürliche Geschlechtsliebe» gehört. Seine klaren u. in ihrer tiefen Menschlichkeit so reinen, vornehmen Auseinandersetzungen haben mich tief berührt. Die Begründung einer sittlichen Geschlechtsliebe, die sich mit der natürlichen verbinden muss, steht auf dem erlösenden u. beglückenden Satz, hinter dem er mit seiner festen Überzeugung steht: Für jeden jungen Menschen wächst irgendwo in der Welt ein junges Mädchen auf, das ihm bestimmt ist, und er ist diesem Mädchen bestimmt. Ihre Bahnen werden zusammenlaufen; zur rechten Zeit werden sie sich begegnen, und beide werden einander erkennen als die Richtigen. Nur diese beiden können miteinander glücklich werden. Weil das aber so ist, so muss der junge Mensch seinen sinnlichen Trieb in der Faust halten, dass er sich rein erhalte [um seinetwillen und] um des ihm bestimmten Mädchen willen. Denn das Mädchen muss sich ganz an den Geliebten anlehnen können, muss an ihm Halt und Schutz haben. – Dass sich ein junger Mensch leicht verlieben kann, ist Natur, denn sein Trieb wird von der Schönheit des Weibes gezeigt; weil aber der Mensch gerade in der Liebe seinen «Menschen» gegenüber dem «Tier» zeigen muss, wird er solchen Reizen sich widersetzen. Das Tier muss, der Mensch will. Die Unterscheidung zwischen Liebe u. Verliebtheit ist leicht. Köhler drückt es ganz drastisch in mathematischer Formel aus: Liebe wächst mit dem Quadrate der Entfernung! Bei der Verliebtheit ist es umgekehrt. Verliebtheit muss zeitlich vor der Liebe kommen; das ist klar. Denn Verliebtheit, die doch das Objekt oft wechselt, ist einfach das Zeichen, dass man infolge des Geschlechtstriebes einfach begehrt, was weiblich ist. Aber das Ziel dieses Kampfes ist das, dass die Begehrlichkeit ganz persönlich wird, dass man die Richtige findet und dann mit seiner ganzen Kraft liebt. Das höchste Glück kann man nur so erlangen, wenn man in der Geliebten den Kameraden erkannt hat.

Auch das Sinnliche der Liebe wird etwas Heiliges. Denn die 2 Menschen, die sich als die besten Freunde erkannt haben, vereinigen sich miteinander[,] neues Leben zu erwecken und dieses heilige Gut der Menschheit weiterzugeben. Die Frau gibt dem Mann alles, ihren Körper u. ihre Seele; sie muss deshalb ganz in seinem unbedingten Schutz stehen; er muss geradezu ein Vater seiner Frau sein. Immer aber muss der Mann trotzdem fast vor seiner Frau knien können; sie lebt nur von seiner Achtung; denn jedes schwache Wesen lebt nur, wenn man ihm Achtung schenkt; sie sich zu verschaffen, ist es meist zu schwach.

Ich liebe Margrit Peter; das weiss ich sicher. Ich glaube, es kann nicht Verliebtheit sein; ist es denn nicht gewachsen mit dem Quadrat der Entfernung?! [5. April 1917.] Doch merke ich, dass ich viel leeres Geschwätz in dieses Buch geschrieben habe über diese Liebe. Warum mich aber doch der Zweifel plagt, ob sie wirklich die Rechte sei, das kommt daher, dass ich sie noch so wenig kenne. Bewahre mich der Himmel, dass nicht auch meine Liebe nur eine Halbheit ist wie sonst alles andere.

Der nächste Eintrag im Tagebuch Kind trägt das Datum vom 31. Oktober 1918, in der Zwischenzeit leistete er Militärdienst.

Die Zweifel, ob sie wirklich die Rechte sei, hatten offenbar ihre Berechtigung: Ernst Kind verheiratete sich schliesslich 1932 mit Wanda Bolter (1908-1995).

Ludwig Köhler (1880-1956) war Theologieprofessor an der Universität Zürich, vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10710.php

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/7.2 (Tagebuch Ernst Kind) und W 238/08.12-24 (Beitragsbild mit Vergissmeinnicht, Veilchen und Rosen: Auszug aus Ansichtskarte «Gruss aus Necker!», 1903)

Freitag, 21. Dezember 1917 – Ein Tag der romantischen Ironie

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Student mit St.Galler Wurzeln:

Heute hatte ich wieder einen merkwürdigen Tag. Ich möchte ihn einen Tag der «romantischen Ironie» nennen: Ich habe mit Margrit P. eine ganz komische Begegnung gehabt, und der Grund davon ist jämmerlich banal gewesen. In den 10 Wochen der Rekrutenschule habe ich sie nie gesehen, wohl aber immer im Gedächtnis gehabt. Ich habe ihr Haus vom Kasernenfenster aus (allerdings vergeblich) gesucht, ich habe es vom Albisgütli aus beinahe gesehen und bin auf dem Rückweg vom grossen Ausmarsch ganz nahe daran vorbeigekommen. Immer habe ich an sie denken müssen. Jetzt nach der Rekrutenschule, freute ich mich auf dem Weg in die Universität hinauf, denn er brachte grössere Begegnungsmöglichkeit als früher der in die Kantonsschule. Tatsächlich habe ich sie in den 2 Wochen seit meiner Zivilwerdung bis heute, da die Weihnachtsferien beginnen, 3 mal gesehen, nur so über die Strasse hin. Was bedeutet das aber, ein Gruss über die Strasse, wenn die Gesichter beinahe unkenntlich in den Krägen stecken? – Heute abends 5 Uhr war die letzte Vorlesung, der letzte Heimweg vor den Ferien, als die letzte Begegnungsmöglichkeit. Ich dachte natürlich schon von oben an wieder an sie. Da stand sie beim Pfauen mit 2 andern Mädchen. Ich wollte im Vorbeigehen grüssen; in diesem Augenblick sprang sie plötzlich, sobald sie mich gesehen hatte, über die Strasse auf mich zu. Nun, das erkannte ich ja gleich, dass es irgend eine unwichtige Frage sein werde, in der sie mich interpellieren würde, vielleicht eine Erkundigung nach Doris, die ja schon 3 Wochen daheim sein muss. Was sie aber wissen wollte, stellte mich wenigstens plötzlich wieder auf einen sehr nüchternen kalten Boden zurück, nachdem mir vorher doch eine kleine Hitze in den Kopf gefahren war. Sie wollte wissen, wie unsere bündnerischen Spezialitätswürste für Neujahr heissen! Natürlich Beinwürste, am besten bei Domenig in Chur zu bestellen! Das sagte ich auch, und dann war das Gespräch mit einer sehr freundlichen Verabschiedung zu Ende. –

Immerhin hat es doch gewiss etwas zu bedeuten, dass gerade sie mich fragte, während die beiden andern ruhig auf der anderen Strassenseite blieben. Das heisst für mich, sie hat das Gefühl, mich doch etwas besser zu kennen, mit mir doch eher bekannt zu sein, als es die andern sind, die doch auch in der Tanzstunde waren.

Nächster Beitrag: 22. Dezember 1917 (erscheint am 22. Dezember 2017)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897). Das Tagebuch war mit einem Schloss abschliessbar (vgl. Abbildung).

 

Sonntag, 23. August 1917 – Endlich ein Wiedersehen mit Margrit P.!

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Etwa 8 Wochen habe ich Margrit P. nicht mehr gesehen. Ich empfand das oft sehr stark während der Ferien, wenn das auch nicht so stark zum Bewusstsein drang wie in den Frühlingsferien in St.Gallen, wo es mir schon weh tat, aus Zürich wegzugehen und so die Entfernung zwischen ihr und mir noch zu vergrössern. Sind meine Empfindungen für sie unterdessen schwächer geworden? Ich bin sicher, dass das nicht wahr ist. Sie sind gemässigter; ich stehe aber nicht über ihnen und will es auch nicht in dieser Beziehung. Es ist meine erste Hoffnung, bald wieder eine Gelegenheit zu haben, um einige Worte zu ihr zu sprechen und von ihr zu hören. Ich weiss sicher, dass in diesen Ferien kein Tag verging, ohne dass ich, wenigstens für Augenblicke, an sie dachte; oft aber hing ich diesen Gedanken stundenlang nach. Ganz von selbst habe ich mir angewöhnt, bei allem, was ich tue, mir ihre Gegenwart vorzustellen; ich meine bei allem, was ich tue, nehme ich an, sie sehe es. Mein Tun hat viel Gewinn davon, wenn sich das Zusammennehmen auch oft auf Äusserlichkeiten beschränkt.

Seit letzten Montag (20. Aug.) hat die Schule wieder angefangen, und ich habe [sic] Margrit P. wieder begegnet, nach 8 Wochen zum erstenmal. (Sie hatte schon vor den Ferien einige Wochen ausgesetzt und war jedenfalls irgendwohin zur Erholung gegangen. Ich hatte sie ungefähr Ende Juni zum letztenmal gesehen.) Aber unser Gruss war nicht anders als sonst. Es ist eben immer ein Gruss wie zwischen zwei Leuten, die einander zwar durch eine Gelegenheit kennen gelernt haben, aber sich weiter nichts zu bedeuten haben. Was aber sie wenigstens für mich bedeutet, kann ich nur spüren, nicht sagen. Ihr Anblick ist für mich, wie eine notwendige Nahrung für den Körper ist; ohne sie vergeht er. Könnte ich doch noch einmal vor der Prüfung (Maturität) eine Gelegenheit finden zu einer ganz kleinen Unterhaltung mit ihr.

(Zufällig in einem Verzeichnis der hiesigen Offiziere blätternd, sah ich, dass ihr Vater Ingenieur und Genie-Oberst ist.)

Nächster Beitrag: 25. August 1917 (erscheint am 25. August 2017)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)

Sonntag, 3. Juni 1917 – Mütterliche Spionage, die Qual der Berufswahl und ein Romeo ohne seine Julia

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Die Tanzerei hat zwar am 16. Mai stattgefunden, aber gerade Margrit P. fehlte. Ich habe erst nachher gemerkt, dass es für mich so jedenfalls bedeutend einfacher war, als wenn sie dagewesen wäre; ich brauchte mich nicht lange zu besinnen, welche Seite ich herauskehren musste. Der Abend verlief ganz nett unter beständigem Tanzen. Etwa um 11 Uhr hörte man damit auf und machte noch ein Spiel. («Romeo und Julia», beide mit verbundenen Augen, wobei Romeo die Julia zu finden hat.) Zum Glück kam ich nicht in den Fall, Romeo zu sein. Ich hätte unter Umständen gerade heraus gesagt, ich finde keine Julia zum Mitspielen. Als man zum Schluss gemeinsam an einen Tisch sass und etwas trank, kam ich neben Margrit P.’s Freundin zu sitzen und erfuhr dabei, dass sie erkältet sei, was mir Gelegenheit gab, ihr gute Besserung zu wünschen durch Vermittlung dieser Freundin.

Seither weiss ich nichts weiteres von ihr. Doch habe ich das Gefühl, sie grüsse wieder deutlicher. Letzten Dienstag brachte mir Doris [Schwester von Ernst Kind] einen Gruss von ihr heim. Sie war in der «Elektra» gewesen, von der ich ihr früher ziemlich viel erzählt hatte; deshalb kam sie wohl darauf, mich das wissen zu lassen. –

Ich glaube, Mama hat mir in die obigen Zeilen gesehen, während ich mit Silvia [jüngere Schwester von Kind] eine etwas «bewegte Szene» erlebte, wie das ja oft vorkommt. Es wäre mir aber sehr unangenehm, wenn jemand hier hineinspürte; freilich wird sich Mama, wenn sie gelesen hat, alle Mühe geben, nichts merken zu lassen; bei Gelegenheit werde ich aber bald heraushaben, ob sie etwas von meinen Gefühlen in dieser Beziehung weiss.

Das Problem der Berufswahl fängt an für mich brennend zu werden. Ich erhielt schon das Aufgebot zur Rekrutenschule für den Juli, muss aber natürlich ein Urlaubsgesuch eingeben, weil ich sonst die Maturitätsprüfung nicht machen kann, die im September stattfindet und letzthin bereits mit einer Arbeit in Physik begonnen hat. Jetzt kommt nun mein künftiger Beruf sehr in Frage. Werde ich Arzt, so muss ich überhaupt eine ganz andere militärische Einteilung bekommen und eine Sanitäts-Rekrutenschule machen, während ich bisher zur Infanterie eingeordnet bin. (Ich habe nämlich stark daran gedacht, Medizin zu studieren, seit wir so ausgezeichnete Stunden in Anthropologie haben, (bei Prof. Dr. H. Bosshardt.) wobei wir uns vor allem sehr mit dem Nervensystem beschäftigen. Ich interessierte mich von jeher sehr für alle Lebensvorgänge in unserem Körper und dachte deshalb schon manchmal an das Studium der Psychiatrie.) Anderseits kämen noch in Betracht Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Zu diesen hätte ich grosse Lust; nur schreckt mich davon ab, dass man bei diesem Beruf notwendig Lehrer an irgend einer Schule werden muss. Denn vor dem Lehrer-werden graust mir. Die Entscheidung muss aber bald erfolgen; schon die eigene Unruhe zwingt mir den Entschluss ab. Woher kommt mir aber das Licht? Ich bin jetzt wie Chateaubriand auf Combourg [Bretagne], wo er und seine ganze Familie das «évènement» [gemeint ist wohl die Französische Revolution] abwarten, selbst aber eigentlich untätig dasitzen.

Das Grausen vor dem Pädagogendasein wird sich verflüchtigen: Ernst Kind wählt schliesslich doch den Lehrerberuf und unterrichtet ab 1925 an der Kantonsschule am Burggraben in St.Gallen. Von 1932-1963 wirkt er auch als deren Rektor. Seine Neigung zur Geschichte kann Kind auch im Historischen Verein des Kantons St.Gallen leben, dem er als Vorstandsmitglied und Präsident dient.

Das Tagebuch konnte mit einem kleinen Schloss gesichert werden (vgl. Abbildung).

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)

Sonntag, 13. Mai 1917 – Zufall? Schicksal? Oder doch göttliche Fügung?

Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, trifft zu seinem Leidwesen viel zu selten auf die von ihm verehrte Margrit Peter. Umso kostbarer sind deshalb diese Momente des Aufeinandertreffens:

Ich komme in Versuchung, an einen Zufall mit eigenem Willen zu glauben, und glaube, er ist mir günstig gesinnt. Es ist das dritte Mal, dass ich mit Margrit P. zusammengekommen bin, ohne es zu ahnen. Nein, das ist falsch; ich will sagen, ohne einen Anhaltspunkt für diese Möglichkeit zu haben; denn geahnt habe ich es jedesmal so ungefähr; jedesmal habe ich vorher immer noch viel mehr als sonst an sie denken müssen. – Dieses Zusammenkommen war gestern am 12. Mai.

Wir, die ganze Familie, machten einen Ausflug ins Nidelbad und wollten um 2 Uhr mit dem Schiff abfahren, haben dann dieses Schiff verpasst und warteten auf das nächste (um 3 Uhr ab). War jetzt das ein blinder Zufall, dass wir das erste Schiff verpassen mussten und erst das zweite nahmen, auf dem Margrit P. war? Und weiter war es gewiss auch nicht blinder Zufall, der sie allein auf das Schiff brachte, während sie es mit einer Freundin ausgemacht hatte. Sie wollte nämlich zu einer anderen Freundin nach Kilchberg; weil sie nun ganz allein war, setzte sie sich zu uns her und wir unterhielten uns, bis sie in Kilchberg ausstieg. Diese freundliche Begegnung ist mir umso wichtiger, weil ich gerade vorher noch mich ihretwegen sehr aufgeregt hatte. Sie hatte nämlich in der letzten Woche, wie es mir schien, absichtlich alles versucht, mich nicht zu sehen, wenn wir in der Rämistrasse uns begegneten. Einmal versteckte sie sich geradezu hinter einer andern und eben gestern Samstag Morgen bemerkte ich, dass nur ihre Freundin meinen Gruss erwiederte, sie hingegen gradaus sah. Das konnte ich mir nicht erklären; es regte mich sehr auf; zuerst war ich sehr erstaunt, dann unglücklich und schliesslich empört. Denn ich war mir keiner Dummheit oder Flegelhaftigkeit ihr gegenüber bewusst. Dass sie aber launisch sei und einfach nicht mehr grüssen wollte, konnte ich natürlich nicht glauben; deshalb quälte mich ihr Benehmen, aber immer mehr kam ich bei meinem eigenen ruhigen Gewissen in Ärger und Trotz. Es kostete mich allerdings viel, meinen Kummer in Trotz umzusetzen; aber da ich glaubte, ihn so schneller verwunden zu haben, bemühte ich mich darum und war schon im Begriff, ein paar wutentbrannte (d.h. im Innersten natürlich unwahr empfundene) Verse zu leimen, die etwa so begonnen hätten:

«Die Liebe ist zum Teufel,

Die Sehnsucht hat ein End.

Ich pfeife auf ein Mädchen,

Das mich mit Fleiss nicht kennt.»

Denn ich war schon ganz überzeugt, dass ich nichts mehr dagegen machen könne. Erklärung verlangen konnte ich nicht, da ich sie nicht einfach auf der Strasse anreden wollte und konnte, umso weniger, als sie mich ja scheinbar nicht mehr kannte. Und auf anderm Weg als durch mich selber wollte ich nichts erfahren, schon weil ich überhaupt niemand etwas davon wissen lassen wollte.

Und jetzt kam mir der gute Zufall wieder zu Hilfe, wie schon 2 mal. (Das erste Mal, dass ich mit ihr zusammen kam nach dem Konzert des Schülerorchesters, das andere Mal im Nikisch-Konzert.) Die Bekanntschaft wurde wieder aufgefrischt und gleichzeitig brachte sie die Nachricht, dass nächsten Mittwoch unsere Tanzgesellschaft im Zürichhorn zusammenkomme. Dort bietet sich mir vielleicht Gelegenheit, Aufschluss über ihr sehr rätselhaftes Gebahren zu bekommen. Denn soviel vertraue ich meinen Augen doch, dass sie auch noch nicht falsch sehen, selbst wenn sie Margrit P. sehen. Freilich schaue ich immer nur so ganz schnell hin beim Grüssen, dass ich doch nicht so ganz sicher bin. Immerhin bin ich jetzt sehr gespannt auf den Mittwoch-Abend.

Ich will hier noch einen Zettel abschreiben, den ich vor einigen Wochen vollgeschrieben habe. Woher ich damals den Gedanken bekam, weiss ich nicht:

Meine Lebensanschauungen haben immer gewechselt und haben in gewissem Sinn schon die meisten der unterschiedlichen Formen gehabt:

1.) Als Kind vor dem Beginn selbständigen Denkens: Realist; die Sachen, soweit man sie kennt, werden genommen, wie sie sich darstellen, und was sich nicht darstellt, existiert nicht. Der liebe Gott stellt sich auch dar; nämlich im Himmel sitzt er. Er ist nur zu weit weg, um gesehen zu werden. Aber hinter dem blauen Vorhang sitzt er und sieht uns doch, weil er ja durch alles durchsieht. (Mit 11 Jahren schwache Ahnung von Liebe, die sich aber mit Eintritt der Flegeljahre in eine Art trotzige Feindschaft gegen das betreffende Wesen umwandelt. Von da an eine Zeitlang überhaupt Mädchenfeind, nachher tritt an Stelle der Feindschaft Gleichgültigkeit, bis auf weiteres.

2.) Selbständiges Denken. Trotz Konfirmation Ausbildung zum Skeptiker, aber gleichzeitig infolge vieler neuer Eindrücke starker Mystiker. Zeitweise verschwindet der Zweifel, kommt aber immer bald wieder.

3.) Mit 18 Jahren Sieg des Skeptizismus über die Mystik. Eine oberflächlich verstandene Religionsphilosphie in der Schule verschärft den Kampf um einen persönlichen Gott. Bald ist der persönliche Gott ganz verloren gegangen. (Abendmahl unmöglich geworden, ebenso Beten.) Oft beinahe Ausbruch der Verzweiflung oder bittere Resignation, die sich sogar manchmal Spöttereien gegen religiöse Dinge erlaubt. Allmählich geistige Erschlaffung; das Gedächtnis ist ganz unfähig.

4.) Erste Liebe (mit 19 Jahren), urplötzliches Aufrütteln des Lebensmutes. Romantik. Ein wenig: carpe diem!

Ich werde alles versuchen, mir den Glauben an einen persönlichen Gott wieder zu erringen und darauf eine eigene Religion aufzubauen; denn unsere Kirchenreligion kann ich nicht halten.

Nächster Beitrag: 31. Mai 1917 (erscheint am 31. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 076/3.27.109 (Hafen von Rheineck, Anlegestelle mit Schiff «Bavaria», ca. 1914)

Sonntag, 6. Mai 1917 – Jedem Rausche folgt Ernüchterung

Nach seinen Frühlingsferien ist der jugendliche Tagebuchschreiber mit St.Galler Wurzeln, Ernst Kind, wieder zurück in der Kantonsschule in Zürich:

Meine Mondschwärmerei hat gestern einen Hieb bekommen, als uns «Spatz» (Dr. Zollinger) im Deutschunterricht Wilhelm Raabe’s Novelle «Deutscher Mondschein» vorlas. Ich fühlte mich ein wenig vor den Kopf gestossen. Aber ich denke jetzt doch, mein bisschen romantischen Anhauch behalte ich ruhig, so lang er nicht von selbst geht. Dass es mit dem Schwärmen nicht getan ist und dass man sich das nur eine Zeitlang erlauben darf, weiss ich wohl. Aber umso mehr tue ich es jetzt noch, da ich das Gefühl habe, mir sei es noch erlaubt.

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 238/02.12-60 (Postkarte von 1906). Die Fotografie stammt wie das Tagebuch aus dem Nachlass von Ernst Kind.

Freitag, 4. Mai 1917 – Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte…

Der beginnende Frühling weckt – unterstützt durch die schönen Künste – auch beim Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, Ernst Kind (Jg. 1897), die Lebensgeister:

Aus der Ferienreise in den Jura ist nichts geworden. Bis Schulanfang war das Wetter ganz abscheulich und Papa [Schweizer Berufsoffizier] hatte von der Grenze geschrieben, dass der Schnee im Jura das Fortkommen mit Wagen fast nicht möglich mache; also für eine Radfahrt absolut ungangbare Strassen. Nach Peseux bin ich nun natürlich auch nicht gekommen und habe darüber im Stillen viel getrauert. Aber schon am ersten Schultag haben wir uns wieder begegnet. –

Ungefähr seit 26. April ist das Wetter jetzt herrlich, auch warm, und das hat ein beinahe unglaublich plötzliches Wachstum in der Natur zustande gebracht, sodass der Maianfang mitten ins allererste Grünen gefallen ist. Mir ist dieser Mai ein Erlebnis geworden; ich habe den Frühling noch nie mit so starken Gefühlen erlebt; ich bin geradezu in ein romantisches Schwärmen geraten; es mag sein, dass dazu noch beigetragen hat, dass in den letzten herrlichen und warmen Nächten der Mond sich dem Vollmond nähert. Und ich glaube, ein seelisch irgendwie empfindsamer Mensch wird jedesmal zum Romantiker, wenn er eine warme Frühlingsnacht erlebt, besonders wenn er vorher wochenlang nichts als Regen und Schnee gesehen hat. Letzte Woche bin ich dreimal von Herrn Federer in die Konzerte des Klingler-Quartetts eingeladen worden und habe ihn nachher heimbegleitet; dann haben wir beide miteinander Mondscheinspaziergang gemacht und unsere romantische Sehnsucht zu stillen gesucht. Mein Sehnen hat ja einen realen lebendigen Hintergrund; er wird eben als Dichter gefühlt haben. –

Ein grösseres Erlebnis aber war für mich der Konzert-Abend von Nikisch am 30. April. Ich hatte ewas wie eine Ahnung; ich hoffte heimlich, Margrit P. dort zu sehen. In der Pause sah ich sie mit ihrer Freundin. Aber ich wagte nur einen Gruss mit dem Kopf; angesprochen habe ich sie nicht. Nachher fühlte ich, dass das eigentlich etwas ganz natürliches gewesen wäre; gekannt hätte ich sie doch genug dazu, nachdem ich einen ganzen Winter mit ihr zusammen Tanzstunde gehabt habe. Aber ich bin eben so viel in Gedanken mit ihr beschäftigt, dass ich fürchtete, ein Anreden hätte auffallen müssen. Aber ich bin eigentlich glücklich gewesen, dass ich es doch nicht tat. Ich glaube, sie geht auch nicht gleichgültig an mir vorbei. In meinen aufgeregten und sehnlichen Stimmung habe ich auf dem Heimweg vom Konzert noch auf der Strasse (bei einer Laterne) ein paar seltsame Verse geschrieben, die ich aber nicht verbessern will, trotzdem sie nur im ersten Taumel geschrieben wurden. Auch weiss ich wohl, dass ich mich (damals zwar kaum bewusst) in den letzten 4 Zeilen an eines aus der Müller-Liedern anlehne. Übrigens haben die Verse keinen Anfang, ich begann eben gerade da, wo meine Erregung ihren Höhepunkt erreicht hatte, als ich an Margrit P. vorbei gegangen war, aber nach 10 Schritten, einem heftigen Zwang folgend, mich umgedreht hatte und in gleicher Richtung wie sie ging.

Die Liebste sah ich wohl,

Wie sie ihr Köpfchen wandte und ihr ängstlich Auge

Schon durch die Menge streifte.

Doch als meinen Blick sie traf,

(Der ich beklommen in die Ecke war getreten)

Da schlug sie schnell die Augen nieder

Und ihr Köpfchen drehte rasch sich weg.

Mir aber ist der Blick

Ins Herz gedrungen, und es bebte lange. –

Ich gehe langsam heim durch stille Strassen.

Der Mond spielt mit den Wolken seltsam Spiel;

Sie gleiten schnell an ihm vorbei und ziehen weiter

Am einsam funkelnden Nachthimmel hin,

Wie weisse Schwäne ziehen auf dem dunkeln Wasser.

Ihr stillen Wolken, fragen wollt ich euch

– Doch wüsstet ihrs, ihr könntets doch nicht sagen –

Hat wohl das liebe Mädchen mich gesucht,

Als es sein Köpfchen scheu und ängstlich wandte?

(Geschrieben auf Notizblatt unter einer Strassenlaterne beim Mühlebachschulhaus Nachts 11 Uhr, 30 April.)

Vor 3 Tagen, also am ersten Mai, war Herr Federer Abends ein wenig bei uns, und ich musste ihm u.a. auch das herrliche Lied «Frühlingsglaube»: «Die linden Lüfte sind erwacht», vorspielen. Die Singstimme konnten wir uns jeder selbst denken, (Mama war ja nicht da; also wurde sie nicht gesungen) und die Begleitung ist schon für sich etwas Wunderbares. Jetzt erst verstehe ich dieses Lied und fühle, wie tief es in Wort und Melodie ist. Ausser diesem Lied gehen mir jetzt noch einige andere immer wieder durch den Kopf, die ich alle jetzt so recht mitfühle, vor allem die ersten Verse von Lenau’s Lied: «Lieblich war die Maiennacht», … dann auch ein einfaches Mittelhochdeutsches mit unbekanntem Verfasser: In liehter varve stât der walt, der vogel schal nu doenet …. . Und schliesslich habe ich wieder Horazens einzigartig schönes Lied auswendig gelernt: «Solvitur acris hiems…» (carm. I, 4) Es liegt etwas Sehnsuchtstärkendes darin, diese schönen Lieder wieder zu lesen; aber ich tue es deswegen doch, denn eigentlich ist dieses ständige Hoffen und Denken an etwas, das einem lieb ist, etwas Schönes, Belebendes, trotzdem es verzehrt, wie zwar eine grosse Flamme sich schneller verzehrt, aber dafür auch desto heller und schöner brennt. Einmal verbrennt auch die kleine, trotzdem sie nie hell gebrannt hat. Mein Lieben hat mich gerettet vor einem immer ärger werdenden philiströsen Pessimismus. Jetzt muss ich vor allem etwas zustande bringen: Ein Zurückfinden aus dem träumenden romantischen Schwärmerzustand zur Fähigkeit, zu arbeiten (das kann ich nämlich jetzt nicht recht und muss es doch wegen der nahenden Matura tun) und daneben die Kunst, meine Liebe in aller ihrer jetzigen Kraft und Sehnsucht zu erhalten. Das erstere wird schwer sein, das zweite nicht; sonst müsste ich an mir selbst irre werden.

Am zweiten Mai habe ich vor dem zu Bette gehen im Schlafzimmer versucht, meine Stimmung festzuhalten und mir einige Sätze aufs Papier geschrieben: «Die Maiennacht hat ihren Zauber über der Erde ausgebreitet, und die linde Luft fliesst durch mein Fenster herein. Ich fühle, dass etwas treibt und schafft in der stillen Natur. Der Nachtwind ist wie ein leises Streicheln, und er streicht über mein Gesicht wie beim Tanz das weiche Haar der Liebsten, wenn sie ihr Gesicht zur Seite neigt. Der herrliche Himmel glänzt aus unendlicher Ferne; seine strahlenden Sterne leuchten der Liebsten so hell wie mir. Alle Bäume stehen in ihrem Licht und wachsen; die volle Knospe ist zersprengt und hält das Leben nicht mehr, das jetzt zart aus ihr entspriesst.»

Nächster Beitrag: 6. Mai 1917 (erscheint am 6. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897) und W 238/04.06-07 (Postkarte um 1900, Originaltitel: «Schloss Werdenberg: Mondschein, Gruss aus Buchs»)

 

Donnerstag, 5. April 1917 – Worauf es letztlich ankommt

Die Liebe ist ein Ding, Das ewig sich erneut

Und immer gleich sich bleibt. Es wechseln nur die Leut.

Der letzte Satz soll aber nicht etwa heissen, dass der Gegenstand der Liebe immer wechselt, sondern die Liebe ist etwas, das von einer Generation weitergeht auf die andere, ewig, solange es Menschen gibt.

Nächster Beitrag: 8. April 1917 (erscheint am 8. April 2017)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 200/58 (Ausschnitt aus einer Liebesbrief-Postkarte)