Dienstag, 5. Dezember 1916 – „ein roher verdorbener Bursche […], der nur durch eine längere Strafe gebessert werden kann.“

Kurzlebenslauf und Straftat eines Zuchthaussträflings, in die Strafanstalt St.Jakob in St.Gallen eingetreten am 5. Dezember 1916, ausgetreten am 4. Dezember 1920, verurteilt wegen schwerer Körperverletzung.

Der Gefängnisdirektor hielt in den sogenannten Stammbüchern neben einem allgemeinen Signalement, den Vermögensverhältnissen, dem Gesundheitszustand und der Art des Verbrechens u.a. auch die Lebensgeschichte eines jeden Häftlings fest. Ausserdem legte er Zeugnis über das Betragen während der Haft ab. Der Verurteilte wurde in der Schuhmacherei beschäftigt. Seine Arbeitsleistung sei befriedigend, das Betragen sehr gut gewesen. Es ist anzunehmen, dass die Sträflinge gröberes Schuhwerk bearbeiteten, als der „Fortschrittsstiefel“ für Damen im Briefkopf der Firma Conrad Müller in St.Gallen ausweist.

Leg. [legitim, d.h. ehelich] geboren, den 21. Sept. 1899 in Luzern. Der Vater […], Taglöhner, ist 1906 gestorben, die Mutter […] wohnt noch dort. Er hat 8 Brüder & 3 Schwestern, je 1 davon verheiratet. Die Erziehung soll recht gewesen sein.

Nach Austritt aus der Schule, die er in Luzern mit mittlerem Erfolg besuchte, ging er ¼ Jahr in eine Nietenfabrik & bekam [sic] dann als Handlanger mit einem Stundenlohn von 46 Rp. in das Baugeschäft Keller in Luzern ein, in dem er bis zu der am 27. Sept. 1916 dort erfolgten Verhaftung in Arbeit stand.

Vorstrafe: 1915 Dezb. 10. Statthalteramt Luzern, Diebstahl, 10 Tage Gefängnis.

Ausserdem erhielt er wegen Belästigung von Militärwachen, Skandal, Misshandlung, Streit, Ruhestörung & Schlägerei 9 Polizeibussen von 3 bis 9 Fr.

Anklage: Am 22. September 1916 reisten […] & sein Verwandter (Schwagersbruder) […] von Luzern nach Küssnacht, wo sie nachmittags, nachdem sie unterwegs verschiedene Wirtschaften besucht hatten, ankamen & wieder an diversen Orten einkehrten, so im Restaurant „Bahnhof“, wo […] aus dem Büffet 7 bis 8 Fr. entwendete, was sofort entdeckt wurde. Nun nahmen sie Reissaus & auf der Flucht stahl […] abends ca. 9 Uhr ein vor dem Gasthaus zu den „Dreikönigen“ stehendes Velo, um dem vorausgeeilten […] nachzufahren.

Dieser hatte unterdessen den von Bischofswil heimkehrenden Arbeiter […], mit dem er in der Dunkelheit zusammengestossen war, angefallen, misshandelt & über den Strassenrand bei Langwies hinuntergeworfen. […] will hiebei mit einem Schlagringe über das linke Auge geschlagen worden sein. Der Beklagte bestreitet, einen solchen gehabt zu haben, gibt aber zu, dass er dem […] mit dem geschlossenen Messer einen Streich versetzt haben könnte. Weil er „voll“ gewesen sei, könne er sich nicht mehr genau daran erinnern.

Während der Misshandlung war auch […] (geb. 1893) herbeigekommen, der geständigermassen mit seinem Veloschlüssel dem […] Streiche versetzte. Dieser wurde sehr schwer verwundet, blutete aus Nase & Mund, hatte laut ärztlichem Gutachten schwachen & unregelmässigen Puls & starke Quetschungen am Kopfe; Nasenbein & Nasenknorpel waren gebrochen.

Später konstatierte der Arzt vollständige Durchtrennung der Hornhaut & zerrissenen Augapfel, was dessen vollständigen Verlust durch operative Entfernung zur Folge hatte. Das schon 1894 durch Operation vom Star geheilte rechte Auge müsse neuerdings operiert werden. […] erklärt, er habe vom zweiten Angreifer 2 Schläge auf den Hinterkopf erhalten.

Die Tat des […] ist eine so ruchlose, dass derselbe trotz seiner Jugend hart bestraft werden muss. Aus seinem Vorstrafenverzeichnis ergibt sich, dass er ein roher verdorbener Bursche ist, der nur durch eine längere Strafe gebessert werden kann. In Bestätigung des kriminalgerichtlichen Erkenntnisses vom 24. November 1916, gegen welches […] appellierte, wurde dieser als der schweren Körperverletzung schuldig (nicht angefochten Zivilentschädigung an […] 3000 Fr., nämlich 300 Fr. für totale Arbeitsunfähigkeit vom 21. Sept. bis 21. Novb. 1916, 200 Fr. für Arzt- & Spitalkosten & 2500 Fr. für bleibenden Nachteil) vom Kantonsgericht Schwyz in Anwendung von §64 K. ST.G. am 4. Dezember verurteilt zu einer

Zuchthausstrafe von vier Jahren,

unter Abzug der Untersuchungshaft.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.86 B 5, Band 1912-1919 (Stammbuch der Strafanstalt St. Jakob) und ZMH 64/311 (Ausschnitt aus Briefkopf)

Sonntag, 19. November 1916 – Eine „ausgesprochene Diebsnatur“ stiehlt Milchgeld und Damenuhr

Kurzlebenslauf und Straftat eines Zuchthaussträflings, in die Strafanstalt St.Jakob in St.Gallen eingetreten am 22. Juli 1915, ausgetreten am 19. November 1916, verurteilt wegen Diebstahls im Rückfall.

Der Gefängnisdirektor hielt in den sogenannten Stammbüchern neben einem allgemeinen Signalement, den Vermögensverhältnissen, dem Gesundheitszustand und der Art des Verbrechens u.a. auch die Lebensgeschichte eines jeden Häftlings fest:

Leg. [legitim, d.h. ehelich] geboren, den 15. Febr. 1877 in Seengen. Die Eltern sind gestorben, der Vater […], Sticker 1892 & die Mutter […] 1902. Er hat eine verheiratete Schwester. Die Erziehung soll recht gewesen sein.

In Münchwilen, wo er die Primarschule mit ordentlichem Erfolg besucht hatte, arbeitete er 2 Jahre in der Spinnerei & kam dann für ebensolange nach Winterthur zu einem Bäcker in die Lehre. Hierauf betätigte er sich in den Kantonen Zürich & Thurgau als Geselle & 1900 absolvierte er in der Winterthurer Lokomotivfabrik einen Heizerkurs.

Nun liess er sich für die Linie Mannheim-Rotterdam als Schiffsheizer engagieren & zwischenhinein hielt er sich vorübergehend wieder als Tagelöhner in der Schweiz auf. Im Frühjahr 1914 habe er die Heizerstelle verlassen & sei mit dem Zirkus Malfi in Deutschland herumgewandert.

Anlässlich der allgemeinen Mobilmachung trat er am 5. August 1914 in den Militärdienst & am 29. gl. Mts. erfolgte am Hauenstein seine Verhaftung. Nach Verbüssung der 8½monatlichen Freiheitsstrafe in Tobel [Kanton Thurgau] wurde er am 22. Juni 1915 dem Bezirksamt Alttoggenburg zugeführt.

Vorstrafen: […]

Anklage: Geständigermassen hat […], eine laut Leumundszeugnis ausgesprochene Diebsnatur, am 8. Aug. 1913 vormittags aus dem Hause seines frühern Dienstherrn, des Landwirts […] in Unterbatzenheid, bei dem er während der Heu- und Emdernte 1913 helfend, Kost & Logis gehabt hatte, 910 Fr. in bar & eine silberne Damenuhr samt Kette im Werte von 37 Fr. entwendet.

Er hatte es speziell auf das Milchgeld abgesehen, das […] am Morgen des Entlassungstages ausbezahlt erhielt und im Sekretär der Stubenkammer versorgte, was der noch anwesende […] hörte, worauf er draussen wartete, bis die Eheleute […] das Haus verliessen. Da ihm der Aufbewahrungsort der Schlüssel bekannt war, öffnete er mit dem im angebauten Abtritt [WC] hängenden [Schlüssel] die Haustüre & dann mit dem in einem im Nebenzimmer stehenden Kinderwagen unter dem Spreusack liegenden [Schlüssel] die Stubenkammer & zuletzt den Sekretär mit demjenigen, der darauf lag.

In einigen Minuten hatte er dem Sekretär das Geld & einer unverschlossenen Kastenschublade in der Küche Uhr & Kette entnommen; dann verliess er das Haus & machte sich flüchtig. Infolge des unmittelbar vor der Tat gelösten Vertrauensverhältnisses ist der Diebstahl zwar nicht ein im Sinne von Art. 5q lit. b qualifizierter, aber die Benützung der dank desselben erworbenen Kenntnisse bei der Ausführung des Delikts wirkt straferschwerend, ebenso der Umstand, dass der Beklagte ein typischer Gewohnheitsdieb ist & sich im 9. Rückfalle befindet.

Verhandlung der Strafkammer des Kantonsgerichts, am 22. Juli 1915 und Verurteilung […], als des Diebstahls im Rückfalle schuldig, in Anwendung von Art. 58, 56 Ziff. 4, 39, 35 & 36 Abs. 2 Str.G. zu einer

Zuchthausstrafe von 1 Jahr & 4 Monaten.

Im Stammbuch wurde auch das Betragen während der Haft festgehalten. Der Verurteilte wurde als Heizergehilfe beschäftigt. Arbeitsleistung und Betragen seien angehend.

Buch

Das Leben in der Strafanstalt war sehr monoton, es gab nur wenig Abwechslung. Lesen beispielsweise, war nur zu bestimmten Zeitpunkten erlaubt, und die Lektüre war thematisch stark eingeschränkt. Wer im Zuchthaus wenigstens geistige Höhenflüge machen wollte, konnte sich das 108seitige Büchlein über die Ballonfahrten von Eduard Spelterini ausleihen. Ob er allerdings das schöne Titelblatt sehen konnte – das Büchlein ist nicht illustriert – bleibt dahingestellt. Wie Klebespuren auf der Innenseite des Einbandes belegen, war es nämlich zum Schutz mit einem blauen Papier eingefasst.

Umschlag

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.86 B 5, Band 1912-1919 (Stammkontrolle Strafanstalt St.Gallen) und op. coll. 1696 (Buch aus der Gefangenen-Bibliothek)