Dienstag, 19. Dezember 1916 – „Güggelischelm“, „Schwabeglünggi“, „nüntiger Chog“: Wie man sich beschimpft

Die Parteien sind an der Trischlistrasse in Rorschach wohnende Nachbarn, die nicht friedlich neben einander leben.

Das ist der Eingangssatz zu einem von mehreren Urteilen des Bezirksgerichts Rorschach aus dem Jahr 1916. Als Kontrahenten standen sich die 1865 geborene Gemüsehändlerin Marie Lehr-Rauh aus dem Grossherzogtum Baden, ihr 1890 geborener Sohn Raimund Lehr, sowie der kaufmännische Angestellte, der ebenfalls 1865 geborene Schweizer Eduard Gähwiller gegenüber. Raimund Lehr war als Magaziner tätig und litt infolge neunmonatigen Kriegsdienstes auf deutscher Seite an starker Nervenzerrüttung. Man warf sich gegenseitig Verleumdung und Beschimpfung vor und stellte Schadenersatzforderungen.

Im Urteil vom 19. Dezember steht zu diesem Fall zu lesen:

1. Zwischen dem heutigen Beklagten, als Kläger, und der Klägerin, als Beklagten, ist beim Bezirksgerichte Rorschach ein Verleumdungsprozess pendent. Den Vorgang, auf den sich jene Klage bezieht, setzt Gähwiller auf Anfangs Juni 1916 an. In jenem Prozesse hat die Klägerin behauptet, dass sie durch Gähwiller arg provociert worden sei. Das gesamte, seit langer Zeit bezeugte Verhalten des Gähwiller ihr gegenüber, und namentlich der Umstand, dass Gähwiller am betr. Tage durch vorgängige ehrenkränkende Zurufe sie aufgeregt habe, habe sie zu Aeusserungen hingerissen. Dieser dem Gähwiller zur Last fallende Provokationsvorfall bildet nun Gegenstand der gegenwärtigen Beschimpfungsklage. Es behauptet die Klägerin Folgendes: Am gleichen Tage, Anfangs Juni, an dem der zur Verleumdungsklage führende Auftritt stattfand, demselben vorgängig, sei sie vom Beklagten, und zwar ohne jede Veranlassung von ihrer Seite, beschimpft worden. Sie sei an jenem Vormittag in den Garten gegangen, um dort umzugraben. Bereits habe sie eine Weile gearbeitet, als Gähwiller ihr zuzurufen begonnen habe. Persönlich habe sie ihn nicht gesehen; er habe sich in seinem Waschhause befunden und habe aus diesem Verstecke herausgerufen: Hure, Schwabenhure, Schwabenpack; ausweisen sollte man diesen Schwabenpack, und dergl. mehr. Sie habe dem Beklagten zu diesen ehrverletzenden Angriffen gar keinen Anlass gegeben. Erst diese vom Zaune gerissenen boshaften Zurufe hätten sie aufgeregt, so dass sie auch dem Beklagten zugerufen habe. Das letztere habe dann dem Beklagten Anlass zur Verleumdungsklage geboten. Dieses Verhalten des Beklagten sei nach zwei Richtungen zu beurteilen: Einmal stellen seine Aeusserungen Beschimpfung dar; sodann hätten sie ihn zum nachfolgenden Vorgange schwer gereizt. Klägerin beruft sich auf die Frauen Nagel und Schwab als Zeugen.

2. Seitens des Beklagten wird die Klage bestritten. Die eingeklagten Aeusserungen habe er einmal gar nicht getan. Eventuell, wenn er sich noch geäussert hätte, hätten seine Worte nicht der Klägerin gegolten. Die Klägerin müsse ja selbst zugeben, dass sie den Beklagten beim betr. Vorfalle gar nicht selbst sah. Eventuellst werde Provokation seitens der Klägerin geltend gemacht. Beklagter berufe sich deshalb auf die Prozesseingaben, Akten, Entscheidungen etc. in dem von Gähwiller gegen die Klägerin angestrebten Verleumdungsprozesse. Es solle daher heute eine Zeugeneinvernahme bezüglich der von der Klägerin geladenen Zeugen nicht vor sich gehen. Die Zeugenabhörung solle im Hauptprozesse stattfinden. Beklagter beruft sich namentlich auch auf die in jenem Prozesse von ihm angerufenen Zeugen Frau Mock, Bruggisser und Therese Sendele. Wenn dem Beklagten bei dem fraglichen Vorfalle irgendwelche unparlamentarische Aeusserungen entschlüpft seien, so sei das höchstens in der Aufregung über die unerhörten vorangehenden Verleumdungen und Beschimpfungen geschehen, welche durch den Beklagten der Klägerin gegenüber bereits eingeklagt sind; es läge also zum mindesten schwere Provokation seitens der Klägerin vor (Beweis: die genannten Zeugen).

3. Der Widerklage liegt Folgendes zu Grunde: Die Widerbeklagte vertrat im Verfahren vor Vermittleramt den Standpunkt, dass der Widerkläger nicht in Zürich, sondern faktisch in Rorschach wohnhaft sei. Da der Widerkläger aber vor Vermittleramt nicht persönlich erschien, sondern durch Herrn Advokat Huber vertreten war, stellte die Widerbeklagte beim Vermittleramt das Begehren, dass der Widerkläger persönlich vor Vermittleramt zu erscheinen habe. In diesem Zusammenhange machte die Widerbeklagte vor Vermittleramt zugestandenermassen die Aeusserungen: Wenn Gähwil[l]er ein gutes Gewissen hätte, dürfte er selbst vor Vermittleramt erscheinen. Der Widerkläger behauptet nun, die Widerbeklagte habe gesagt, er, Gähwiller, habe kein Gewissen, und dürfe deshalb nicht selbst vor Vermittleramt erscheinen. Diese Worte sollen sich nach Ansicht des Widerklägers als Beschimpfung karakterisieren [sic].

Das Gericht beschloss die Einvernahme der von Frau Lehr angerufenen Zeuginnen, auferlegte ihr aber die Gerichtskosten von Fr. 6.50. Die Zeuginnen bestätigten die Aussagen der Gemüsehändlerin, woraufhin das Gericht den Beklagten für schuldig befand und zu einer Geldbusse von Fr. 50.- verurteilte. Ausserdem erklärte es die Ehrverletzungen für gerichtlich aufgehoben, wies die Widerklage ab und bürdete dem Schuldigen die Gerichtskosten von Fr. 29.10 auf. Zudem hatte Gähwiller seine Kontrahentin aussergerichtlich mit Fr. 57.05 zu entschädigen. Zur Höhe dieses ungeraden Betrags ist im Urteil keine Begründung zu finden.

Zwischen dem Sohn der Frau Lehr und Eduard Gähwiller war eine andere Geschichte vorausgegangen, die im Urteil vom 14. November 1916 beschrieben ist. Raimund Lehr hatte – wie Zeugen bestätigten – dem Kaufmann Anfangs Juni 1916 zugerufen: „Du Güggelischelm, Du bist ein Schelm, wart, ich erwische Dich schon noch, Du nüntiger Chog“, und ausserdem beigefügt „Du musst mich nicht Schwabeglünggi heissen“. Der Vorwurf des „Güggelischelm[s]“ beruhte auf dem Verschwinden eines Hahns der Familie Lehr, welchen Gähwiller laut Aussagen von vier Knaben und einem Mädchen in seinen eigenen Hühnerstall getrieben haben sollte. Dort hörte man ihn anderntags frühmorgens zwar noch krähen, später aber fehlte jede Spur von ihm. Der junge Lehr wurde für seine zitierten Aussagen der Beschimpfung schuldig erklärt und zu einer Geldbusse von Fr. 10 und der Übernahme der Gerichtskosten von Fr. 29.30 verurteilt. Gähwiller seinerseits zahlte seinem Anwalt für diesen Gerichtsspruch Fr. 123 an Deserviten und Fr. 33.40 an Auslagen.

Ende Dezember schliesslich findet sich nochmals ein Urteil. Erneut klagte Gähwiller, diesmal gegen die Mutter von Raimund Lehr. Mehrere Zeuginnen bestätigten im wesentlichen seine Vorwürfe, wonach die Gemüsehändlerin folgende scandalösen schändlichen Ehrabschneiderischen [sic] und verleumderischen[,] tief an der Ehre kränkenden Aussagen gemacht habe:

1. Gähwiller sei der nüntigste Chog weit herum und sei nicht wert, dass ihn ein Hund anseiche (mehrmals).

2. Zahle zuerst 100 rp. [sic] für den Franken.

3. Ich sei ein Friedhofschelm und habe auf dem Friedhof gestohlen.

4. Der Sauchog besuche in Zürich die Bordelle, das verstehe ich am besten.

5. Ich habe mit Frau Candreya wollen dies betreiben. Sie habe sich aber nicht mit mir abgegeben, sie gab sich nicht für das her.

6. Wird seit einiger Zeit stetsfort belästiget mit allen erdenklichen Schimpfworten und händelsuchenden Mittel[n] von Frau Lehr und Raimund Lehr; ich gehe alle Tage in die Kirche und stehle.

7. Nicht nur an E. Gähwiller ist genannte bösartige Frau zornswütig, sondern an ihrer eigenen kranken Tochter, die sie vergangenen Samstag Abends zwischen 8 u. 9 Uhr schwer misshandelte im Dachzimmer und ihr verwahrloste Chog zurief resp. nannte, bis sie bis Mitternacht wimmerte und die Nachbarschaft arg belästigte.

8. Ich sei bekannt, dass ich aufs Stehlen losgehe.

Das Gericht befand Marie Lehr-Rauh nach der Anhörung der Zeuginnen zwar der Verleumdung und Beschimpfung schuldig und verurteilte sie zu einer Geldbusse von Fr. 50 und der Übernahme der Gerichtskosten von Fr. 76.20. Ausserdem sollte sie dem Kläger aussergerichtlich Fr. 220 Entschädigung bezahlen. Die Richter hielten aber auch fest, dass der Kläger keinen einwandfreien Leumund besass. Gegen ihn war 1906 eine Strafuntersuchung wegen Blumendiebstahls vom Friedhof ergangen, und 1913 war er wegen grobunzüchtigen Handlungen mit Personen gleichen Geschlechts verurteilt worden.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, G 2.7.1-1916 (Protokoll des Bezirksgerichts Rorschach: Urteile vom 10.10.1916, 14.11.1916, 23.11.1916, 19.12.1916 und 28.12.1916 sowie Stempel)

Dienstag, 28. November 1916 – Motion zur Schaffung eines Verwaltungsgerichts

Aus der Herbstsession des Grossen Rates:

Das Präsidium [gibt] dem Rate Kenntnis vom Eingang folgender, von Herrn Kantonsrat Dr. Lehmann und 40 weiteren Ratsmitgliedern eingereichten Motion, lautend:

„Der Regierungsrat wird eingeladen, die Frage zu prüfen und dem Grossen Rate darüber Bericht und Antrag vorzulegen, ob nicht im Kanton St.Gallen ein Verwaltungsgericht einzuführen sei.“

Die Motion wird auf die Tagesordnung gesetzt.

Der Regierungsrat beriet die Motion erstmals im folgenden Frühling, freilich ohne erkennbare – oder zumindest ohne protokollierte – Stossrichtung. Im November 1917 erkundigte sich das Justizdepartement deshalb beim Regierungsrat, welche Haltung er einzunehmen gedenke. Der Regierungsrat beschied dem sachthematisch zuständigen Justizdepartement, dass man dessen Auffassung teile: Die Motion sei „in wohlwollendem Sinne zur Prüfung entgegen zu nehmen“, „immerhin nicht ohne gleichzeitige Betonung der Bedenken, welche durch die mit der Verwirklichung der Motion verbundene, weitgehende Zersplitterung und Verteuerung der Rechtspflege hervorgerufen werden, und unter Hinweisung auf die Möglichkeit, auf dem Wege der Spezialgesetzgebung über die in Frage kommenden einzelnen Verwaltungsgebiete den Bestrebungen der Motion teilweise Rechnung zu tragen.“

Der etwas lustlose Eindruck täuscht nicht: Fortan wird das Geschäft auf der Pendenzenliste des Regierungsrates bis in den Mai 1924 mitgeschleppt. Dann beantragt das Justizdepartement die Streichung der Motion von der Tagesordnung des Parlaments. Der Regierungsrat beschliesst, diesem Antrag zu folgen und beim Parlament die Streichung zu beantragen. Der Grosse Rat folgt der Regierung in der Frühjahrssession ohne nennenswerte Opposition. Als Grund für die Streichung nennt das Ratsprotokoll die bevorstehende Errichtung eines eidgenössischen Verwaltungsgerichts und die „mangelnde Dringlichkeit eines bezüglichen gesetzgeberischen Erlasses“.

Ein St.Galler Verwaltungsgericht wurde schliesslich erst 1965 geschaffen; Mitte 1966 nahm es seine Amtstätigkeit auf. Seither ist es vorwiegend als Beschwerdeinstanz gegenüber der Regierung und der Verwaltung tätig. Als Teil der sogenannten dritten Staatsgewalt (Judikative) ist es unabhängig von der Regierung und der Verwaltung. Beim Verwaltungsgericht angefochten werden können Verfügungen und Entscheide der Regierung und anderer Verwaltungsbehörden (Erziehungsrat, Universitätsrat, Gesundheitsrat, Verwaltungskommission der Gebäudeversicherungsanstalt, Rat der pädagogischen Fachhochschule Rorschach), aber auch Rekursentscheide der kantonalen Departemente.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZA 005 (gedrucktes Protokoll des Grossen Rates) und ZMH 64/877.020.1 (Büromöbel-Verkauf in St.Gallen, zwischen 1909 und 1913, Foto: Otto Rietmann, St.Gallen)

Mittwoch, 22. November 1916 – Begnadigung eines zum Tod Verurteilten

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916) später Kantonsrat und Nationalrat sowie Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

Grosser Rat – Sitzung.

Begnadigung des Mörders Eichmann von Uznach. Ich stimmte gegen die Begnadigung,

um für die Todesstrafe zu demonstrieren.

Mit 145 gegen 37 Stimmen wandelte das Kantonsparlament die vom damaligen Strafgesetz für Mord vorgesehene Todesstrafe in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe um. Es handelte sich dabei nicht um einen Bauchentscheid: Die Ratsmitglieder konnten zuvor Einsicht in die Strafakten nehmen. Zudem waren das kantonsgerichtliche Urteil, das Begnadigungsgesuch des Verurteilten sowie die Botschaft des Regierungsrates allen Ratsmitgliedern zugestellt und im Rat verlesen worden.

Der 36-jährige Josef Anton Eichmann hatte am 15. August 1916 in einem Waldstück seinem sechsjährigen Sohn die Kehle durchschnitten. Um sich nicht verdächtig zu machen, beteiligte sich Eichmann eifrig an der folgenden Suchaktion. Als das tote Kind gefunden wurde, vermutet die Polizei als Tatmotiv zuerst einen Lustmord, begangen von einem Landstreicher. Eichmanns Inszenierung misslang indes und bereits am 19. August wurde er in Haft gesetzt. Zwei Tage später gestand Eichmann die Tat. Als Motiv gab der in ärmlichsten Verhältnissen lebende Fabrikarbeiter an, dass ihn das Benehmen des Knaben häufig gereizt und aufgeregt habe. Der kleine Josef habe ihm nicht mehr gehorcht und hätte ihn „auch gar viel angelogen“. Eichmann hatte sich schon längere Zeit überlegt, wie er den ungeliebten Sohn loswerden könnte. Unmittelbarer Auslöser der Tag war Eichmanns Wut darüber, dass Josef jun. nicht zum vereinbarten Zeitpunkt vom Beerensuchen heimkehrte und er ihn im Wald suchen gehen musste.

Die latente Tötungsabsicht von Eichmann und die ihm bescheinigte volle Zurechnungsfähigkeit könnten Josef Scherrer bewogen haben, im Rat gegen eine Begnadigung zu stimmen. Im Gegensatz zu Scherrer erkannte der Regierungsrat jedoch eine Reihe von Milderungsmomenten, die nach Ansicht des Gremiums eine Strafumwandlung rechtfertigten: Eichmann war nicht vorbestraft, lebte unauffällig und galt als fleissig, verfügte über einen guten Leumund und zeigte Reue. Laut der Botschaft des Regierungsrates habe „die Herkunft, die Erziehung und der Lebensgang des Verurteilten offenbar wesentlich dazu beigetragen, dass er so tief sinken konnte.“ Schon der Vater des Täters sei wie sein Sohn „geistig schwach begabt“ gewesen und die Mutter eine Trinkerin. Nachdem Eichmann als Sechsjähriger Vollwaise geworden war, wuchs er im Armenhaus auf.

Als er als Erwachsener selber Familienvater geworden war, überforderte ihn die Erziehung des kleinen Josef und dessen jüngerer Schwester zunehmend. Eichmann brachte seine Kinder deshalb auf eigene Kosten im Bezirkswaisenhaus unter. Mangels Geld musste er die Kinder aber schliesslich wieder in seinen Haushalt zurücknehmen: „Offenbar“ – so der Regierungsrat – „trug dann seine geistige Rückständigkeit und Unbeholfenheit wesentlich dazu bei, dass er keine andern geeigneten Mittel fand, um den Knaben auf bessere Wege zu bringen und schliesslich auf den schrecklichen Gedanken kam, ihn zu beseitigen.“

Das nächste und letzte Todesurteil im Kanton St.Gallen wurde erst 1938 gesprochen. Auch hier wurde der Doppelmörder Paul Irniger schliesslich begnadigt, 1939 im Kanton Zug aber wegen einem anderen Mord verurteilt und mit der Guillotine hingerichtet.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch), GA 002/376 (Gerichtsakte Eichmann: Fingerabdrücke eines fälschlicherweise verdächtigten, „übelbeleumundeten Vaganten“)

Sonntag, 19. November 1916 – Eine „ausgesprochene Diebsnatur“ stiehlt Milchgeld und Damenuhr

Kurzlebenslauf und Straftat eines Zuchthaussträflings, in die Strafanstalt St.Jakob in St.Gallen eingetreten am 22. Juli 1915, ausgetreten am 19. November 1916, verurteilt wegen Diebstahls im Rückfall.

Der Gefängnisdirektor hielt in den sogenannten Stammbüchern neben einem allgemeinen Signalement, den Vermögensverhältnissen, dem Gesundheitszustand und der Art des Verbrechens u.a. auch die Lebensgeschichte eines jeden Häftlings fest:

Leg. [legitim, d.h. ehelich] geboren, den 15. Febr. 1877 in Seengen. Die Eltern sind gestorben, der Vater […], Sticker 1892 & die Mutter […] 1902. Er hat eine verheiratete Schwester. Die Erziehung soll recht gewesen sein.

In Münchwilen, wo er die Primarschule mit ordentlichem Erfolg besucht hatte, arbeitete er 2 Jahre in der Spinnerei & kam dann für ebensolange nach Winterthur zu einem Bäcker in die Lehre. Hierauf betätigte er sich in den Kantonen Zürich & Thurgau als Geselle & 1900 absolvierte er in der Winterthurer Lokomotivfabrik einen Heizerkurs.

Nun liess er sich für die Linie Mannheim-Rotterdam als Schiffsheizer engagieren & zwischenhinein hielt er sich vorübergehend wieder als Tagelöhner in der Schweiz auf. Im Frühjahr 1914 habe er die Heizerstelle verlassen & sei mit dem Zirkus Malfi in Deutschland herumgewandert.

Anlässlich der allgemeinen Mobilmachung trat er am 5. August 1914 in den Militärdienst & am 29. gl. Mts. erfolgte am Hauenstein seine Verhaftung. Nach Verbüssung der 8½monatlichen Freiheitsstrafe in Tobel [Kanton Thurgau] wurde er am 22. Juni 1915 dem Bezirksamt Alttoggenburg zugeführt.

Vorstrafen: […]

Anklage: Geständigermassen hat […], eine laut Leumundszeugnis ausgesprochene Diebsnatur, am 8. Aug. 1913 vormittags aus dem Hause seines frühern Dienstherrn, des Landwirts […] in Unterbatzenheid, bei dem er während der Heu- und Emdernte 1913 helfend, Kost & Logis gehabt hatte, 910 Fr. in bar & eine silberne Damenuhr samt Kette im Werte von 37 Fr. entwendet.

Er hatte es speziell auf das Milchgeld abgesehen, das […] am Morgen des Entlassungstages ausbezahlt erhielt und im Sekretär der Stubenkammer versorgte, was der noch anwesende […] hörte, worauf er draussen wartete, bis die Eheleute […] das Haus verliessen. Da ihm der Aufbewahrungsort der Schlüssel bekannt war, öffnete er mit dem im angebauten Abtritt [WC] hängenden [Schlüssel] die Haustüre & dann mit dem in einem im Nebenzimmer stehenden Kinderwagen unter dem Spreusack liegenden [Schlüssel] die Stubenkammer & zuletzt den Sekretär mit demjenigen, der darauf lag.

In einigen Minuten hatte er dem Sekretär das Geld & einer unverschlossenen Kastenschublade in der Küche Uhr & Kette entnommen; dann verliess er das Haus & machte sich flüchtig. Infolge des unmittelbar vor der Tat gelösten Vertrauensverhältnisses ist der Diebstahl zwar nicht ein im Sinne von Art. 5q lit. b qualifizierter, aber die Benützung der dank desselben erworbenen Kenntnisse bei der Ausführung des Delikts wirkt straferschwerend, ebenso der Umstand, dass der Beklagte ein typischer Gewohnheitsdieb ist & sich im 9. Rückfalle befindet.

Verhandlung der Strafkammer des Kantonsgerichts, am 22. Juli 1915 und Verurteilung […], als des Diebstahls im Rückfalle schuldig, in Anwendung von Art. 58, 56 Ziff. 4, 39, 35 & 36 Abs. 2 Str.G. zu einer

Zuchthausstrafe von 1 Jahr & 4 Monaten.

Im Stammbuch wurde auch das Betragen während der Haft festgehalten. Der Verurteilte wurde als Heizergehilfe beschäftigt. Arbeitsleistung und Betragen seien angehend.

Buch

Das Leben in der Strafanstalt war sehr monoton, es gab nur wenig Abwechslung. Lesen beispielsweise, war nur zu bestimmten Zeitpunkten erlaubt, und die Lektüre war thematisch stark eingeschränkt. Wer im Zuchthaus wenigstens geistige Höhenflüge machen wollte, konnte sich das 108seitige Büchlein über die Ballonfahrten von Eduard Spelterini ausleihen. Ob er allerdings das schöne Titelblatt sehen konnte – das Büchlein ist nicht illustriert – bleibt dahingestellt. Wie Klebespuren auf der Innenseite des Einbandes belegen, war es nämlich zum Schutz mit einem blauen Papier eingefasst.

Umschlag

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.86 B 5, Band 1912-1919 (Stammkontrolle Strafanstalt St.Gallen) und op. coll. 1696 (Buch aus der Gefangenen-Bibliothek)

Samstag, 9. September 1916 – 12‘000 Liter Schweizermilch pro Tag für Konstanz

Von der benachbarten Grenze und unsere Landwirtschaft.

(Korrespondenz.)

Der Stadtrat von Konstanz ist unermüdlich und in vorbildlicher Weise für die Sicherung der Lebensmittelversorgung seiner Einwohnerschaft tätig. Die Organisation, die er hiefür getroffen hat, funktioniert tadellos, nicht in letzter Linie wohl dank seiner Einfachheit. Grosse Mühe gibt sich der Konstanzer Stadtrat auch um die Aufrechterhaltung des kleinen Grenzverkehrs mit der Schweiz, für den an einzelnen Orten und bei höheren Instanzen immer noch nicht das nötige Verständnis vorhanden zu sein scheint. Für die Milchversorgung ist Konstanz beispielsweise grösstenteils auf die Schweiz angewiesen, werden doch täglich über 12000 Liter Schweizermilch nach Konstanz zum Verkauf als Konsummilch gebracht. Um sich nun die Schweizermilch einigermassen zu sichern, hat der Stadtrat von Konstanz mit sofortiger Wirksamkeit beschlossen, den Preis für Schweizermilch auf 27 Pfennig anzusetzen, denjenigen für einheimische Milch dagegen auf 26 Pfennig zu belassen. Für diesen Beschluss war u.a. auch der gegenwärtige Kursunterschied in deutscher und schweizerischer Währung wegleitend, denn die Milchhändler werden in Konstanz in Mark und Pfennig bezahlt, während sie ihre Lieferanten in Frankenwährung zu bezahlen haben, etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte. Aber bis vor verhältnismässig kurzer Zeit bezahlten die schweizerischen Milchhändler ihre schweizerischen Produzenten von Milch nicht in Franken, sondern eben auch in Mark, gerechnet zum früheren vollen Kurse; den seit Kriegsbeginn eingetretenen Kursverlust hatte dann der Bauer, der Milchproduzent zu tragen, bis nun endlich einmal die schon längst notwendige Aenderung eintreten musste.

Um den Ansammlungen vor den Konstanzer Metzgereien zu begegnen, führt nunmehr nach einer Beschlussesfassung der Stadtrat auf 1. Oktober den sogenannten Kundenzwang ein, der darin besteht, dass jede Haushaltung einen bestimmten Metzgermeister als ihren Lieferanten bezeichnet und dann in der Folge berechtigt ist, bei diesem Metzgermeister ihr Fleisch auch zu kaufen. Die Stadt Konstanz wurde zu diesem Zwecke in zehn verschiedene Bezirke eingeteilt und jeder Bezirk hat dann seinen besondern Metzgermeister.

In Konstanz hat dieser Tage auch eine Neuregelung der Fleischpreise stattgefunden. Die Höchstpreise für das Halbkilo betragen für Rindfleisch Mark 1.90, ebenso für Kalbfeisch, für Hammelfleisch Mark 2.-, für gesalzenes Fleisch Mark 2.10, für frisches Schweinefett 2.20, für ausgelassenes Schweinefett 2.60, für Speck 2.20-2.60, für Schinken 2.80-3.60, für Schinkenwurst 2.20, Bratwurst, Leber- und Blutwurst ebenfalls, für Schwartenmagen 1.40 usw.

In den nächsten Wochen schon soll die ganze Bevölkerung von Konstanz mit Kartoffeln versorgt, und zwar soll der ganze Bedarf bis und mit April 1917 gedeckt werden. Auf den einzelnen Kopf der Bevölkerung kann bis 2 Zentner beansprucht werden; für Restaurants und Hotels bestehen besondere Vorschriften. Beim Bezug von Fett kann der einzelne Bezugsberechtigte nur die Hälfte in Butter beanspruchen, die andere Hälfte hat er in Schweineschmalz, Margarine, Rindertalg, Kokosfett usw. zu beziehen.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 248/82 (St.Galler Bauer, 3. Jahrgang, Heft 36, 09.09.1916, S. 603-604) und ZOF 003/1.15 (Bild: Häftlinge der Strafkolonie Montlingen, eine Art Vorläuferin der Strafanstalt Saxerriet, bei der Kartoffelernte, zwischen 1918 und 1921)

Donnerstag, 7. September 1916 – Anklage wegen Kreditschädigung im Falle einer Familienzeitschrift: Frauen als Zeuginnen vor Gericht

Das Bezirksgericht Rorschach war zur Beurteilung des vorliegenden Falles folgendermassen zusammengesetzt:

  • Albert Steiger, Malermeister von Rorschach (Vorsitz als Vizepräsident des Bezirksgerichts, in Abwesenheit von Eduard Löpfe, Kantonsrat, Rorschach)
  • Wilhelm Fisch, Kantonsrat, Grub
  • X. von Euw, Kantonsrat, Rorschach
  • Karl Hintermeister, alt Kantonsrat, Rorschach
  • Xaver Troxler, Gemeinderat, Rorschacherberg
  • Karl Rusch, Gemeinderat, Goldach
  • Ulrich Hofstetter, Kaufmann, Rorschach

Verhandelt wurde eine Klage auf Kreditschädigung. Beteiligt waren Vertreter zweier Familienzeitschriften, die ihre Blätter u.a. mit Hilfe einer an das Abonnement gekoppelten privaten Unfallversicherung anzupreisen versuchten. Auch andere Blätter als die in den Fall involvierten boten solche Versicherungen an, wie obiger Ausschnitt aus diesem Briefkopf von 1922 belegt:

Briefkopf

Das Bezirksgericht Rorschach hat in seiner Sitzung vom 7. September 1916, an welcher teilnahmen die Herren Vice-Gerichtspräsident Steiger, Bezirksrichter Fisch, von Euw, Hintermeister, Troxler; Ersatzrichter Rusch und Hofstetter; Gerichtsschreiber Metzger

In der Streitsache von

G. Meyer, Verleger des „Fürs Schweizerhaus“ Seefeldstr. 11 in Zürich 8

Kläger

vertr. durch Dr. E. Kaiser, Advokat, vom Adv.Bür. Dr. B. Heberlein in Rorschach,

gegen

Jakob Kuster, Reisender, Bogenstrasse 13 in Rorschach (bezw. jetzt in St.Gallen, Steingrüble 45), bürgerlich von Eschenbach (Kt. St.Gallen), geb. 12. Aug. 1861, verh;

Beklagten

vertr. durch Dr. J. Eisenring-Reutty, Advokat, Rorschach

betr. Kreditschädigung

In Fortsetzung der Verhandlung vom 6. April 1916 weiter

In Betracht gezogen:

1. Von den Zeugen, deren Einvernahme am 6. April 1916 beschlossen wurde, ist zunächst Frau Heller geb. Moser, welche von Buchen-Staad inzwischen nach Giubiasco (Kt. Tessin) übersiedelte, unterm 16. August 1916 durch die „Pretura die Billinzona“ auf dem requisitionswege [sic] als Zeugin einvernommen worden. Die deponi[e]rte dort wie folgt: „Ohne den Tag genau angeben zu können, erinnere ich mich, dass Herr J. Kuster, den ich persönlich kenne, mir zugesprochen hat, ich soll das Abonnement ‚Fürs Schweizerhaus‘ abgeben und dafür das ‚Nach Feierabend‘ abonni[e]ren. Als Grund gab er an, dass die Abonnenten des ersteren Blattes bei einer italienischen Gesellschaft versichert seien und diese bezahle, weil Italien im Kriegszustand sei, meine [sic, keine?] Unfaelle mehr. Auf diese Erklärung hin habe ich auch wirklich das Blatt ‚Nach Feierabend‘ abonni[e]rt.“

2. Heute werden nach Ermahnung zur Wahrheit und unter Hinweis auf die Folgen falschen Zeugnisses als Zeugen einvernommen:

2a) Frau Elisabeth Spörri geb. Wacker, von Schüpfen (Kt. Bern, wohnhaft in Steinach, geb. 1864 Januar 7; verh;)

Dieselbe sagt; Herr Kuster erschien bei mir und pries mir das Blatt „Nach Feierabend“ an. Ich erklärte, ich hätte das Blatt „Fürs Schweizerhaus“ und brauche deshalb das „Nach Feierabend“ nicht auch noch. Kuster sagte nun, ich solle das „Fürs Schweizerhaus“ doch abgeben; nachdem Italien im Kriege sei, zahle das „Fürs Schweizerhaus“ wahrscheinlich doch nicht mehr. Kuster wurde sehr aufdringlich. Er legte mir schliesslich etwas zum Unterzeichnen vor und [ich] bezahlte 30 cts. Ich erklärte aber, dass ich zuerst mit meinem Manne reden müssen [sic]. Der Mann wollte das neue Blatt aber nicht. Ich weiss bestimmt nicht mehr, wann das war; jedenfalls nach Kriegsausbruch und zwar im Anfange des europäischen Krieges; es mag fast 2 Jahre her sein. Ca. ¼ Jahr, vielleicht auch ein pa[a]r Monate nachher, erhielt Jemand, der vom Blatte „fürs Schweizerhaus“ zu mir kam, von mir über diese Sache Aufschluss. Ich wiederhole, dass ich die Zeit nicht mehr genau weiss; ich bin in dieser Beziehung vergesslich.

Vorgelesen und bestätigt: gez. Elisabetha Spörri-Wacker.

[2]b) Frau Luise Tobler geb. Bohner, von Thal (St.Gallen), wohnhaft in Speck-Staad, geb. 22. April 1870, verh;

diese sagt: Es kam einmal ein unbekannter Mann zu mir – es mag ein Jahr her sein – und offeri[e]rte mir – eine Zeitschrift; deren Namen weiss ich heute nicht mehr. Ich erklärte, wir hätten schon das Blatt „Fürs Schweizerhaus“. Der Mann erwiderte, dieses Blatt sei nichts mehr, seit der Krieg sei, zahle das Blatt nichts mehr. Ich wollte die Sache nicht recht glauben; denn wir waren mit dem Blatt zufrieden; als der Mann einen Unfall hatte, wurde er richtig bezahlt. Ich sprach darüber noch mit dem Manne, und wir gaben dann das Blatt b. 2-3 Wochen hatten wir es nicht mehr, bis ein Reisender des „Fürs Schweizerhaus“ kam und uns aufklärte. Ich kann nicht mehr sagen, ob dieser mir heute als Herr Kuster vorgestellte Herr der betr. Mann war. Das weiss ich sicher, dass der Mann das Blatt „Für Feierabend“ offeri[e]rt hatte.“

Vorgelesen und bestätigt: gez. Frau Tobler, Speck-Staad.

Nach Anhören der Beweiswürdigungsvorträge der Parteien zieht das Gericht weiter

In Erwägung:

1. Die Einrede der Verjährung, welche der Beklagte auf Grund der Zeugenvernehmungen heute erhebt, muss als unbegründet abgelehnt werden. Sowohl aus dem Zeugnisse der Frau Heller, als der Frau Spörri geht deutlich hervor, dass die Aeusserungen des Beklagten erst geschahen, nachdem Italien in den Krieg eintrat. Da dies bekanntlich Ende Mai 1915 stattfand, die gegenwärtige Klage aber beim Vermittleramt am 12. November 1915 eingeleitet wurde, kann auf Grund von Art. 111 StrG. Von einer Verjährung des Klagerechtes keine Rede sein. Frau Spörri sagt allerdings, es möge fast 2 Jahre her sein und ein pa[a]r Monate später habe sie einem Vertreter des „Fürs Schweizerhaus“ über die Sache Aufschluss gegeben. Die Zeugin sagt aber ausdrücklich, dass sie die Zeitangabe nicht genau machen könne. Nachdem die Zeugin aber – ohne dass ihr vorher in der Sache irgend etwas weiteres gesagt worden wäre, erklärte, „Kuster sagte nun, ich solle das ‚Fürs Schweizerhaus‘ doch abgeben; nachdem Italien nun im Kriege sei, zahle das ‚Fürs Schweizerhaus‘ wahrscheinlich doch nicht mehr“ so muss daraus doch folgern, dass der beklagte eben nach dem Eintritt Italiens in den Krieg zur Zeugin die in Rede stehenden Aeusserungen machte, also nach Ende Mai 1915. Auch der Umstand, dass der Kläger erst am 16. September 1915 an das Eidgen. Versicherungsamt betr. Aenderung der Angabe der Versicherung schrieb, mit der Begründung, dass gewissenlose Reisende der Konkurrenz die Leute aufhetzen, ist ein Indiz dafür, dass die betr. Vorfälle eben erst nach Ausbruch des italienischen Krieges gegenüber Oestreich stattfanden.

2. Nachdem durch die Zeugen Frau Heller und Frau Spörri der Tatbestand – wie eingeklagt – dargetan wurde, ist rechtlich gegenüber dem Beklagten das Vergehen der Kreditschädigung bezw. der Verleumdung im Sinne von Art. 106 Ziff. 1 StrG. gegeben. Es sei nach dieser Richtung auf das in Ziff. 3 der Erwägungen des Beweisentscheides vom 6. April 1916 Gesagt [sic] verwiesen.

Bei der Strafbemessung fällt mildernd in Betracht, dass strikte nur 2 Fälle nachgewiesen sind, wobei freilich auch nicht unbeachtete bleiben kann, dass – angesichts der durch die Zeugin Frau Spörri erwiesenen Aufdringlichkeit des Beklagten zu weiterer Verbreitung gelangen konnten, als eine nahe liegende erachtet werden muss. Immerhin ist davon auszugehen, dass dem Kläger aus den Handlungen des Beklagten Schaden nicht entstund [sic]. Es kommt denn auch im Ganzen der Verleumdung eine gravi[e]rende Bedeutung nicht zu.

Gestützt hierauf und in Anwendung von Art. 106 Ziff. 1, 109 und 35 StrG. wird daher

Zu Recht erkannt:

1. Der Beklagte ist der Kreditschädigung bezw[.] der Verleumdung schuldig erklärt und hiewegen zur Geldbusse von 30 frs [sic] verurteilt.

2. Die kreditschädigenden Aeusserungen bezw. die Verleumdung sind als gerichtlich aufgehoben erklärt.

3. Die Kosten, nämlich    

Gerichtsgebühr              frs     40. —                                     

dem Präsidium                       1.–                                     

der Kanzlei      Geb.                32.50.                                                            

                        Ausl.                7.50.                                     

dem Weibel                            1.50.                                     

zusammen                  frs     82.50.

bezahlt – mit Gutschrift der Einleimgebühr von 20 frs – der Beklagte.

4. Der Beklagte hat den Kläger mit 250 frs. ausserrechtlich zu entschädugen [sic].

V. R. W.

Im Namen des Bezirksgerichtes Rorschach

Der Präsident i.V.

Alb. Steiger [Unterschrift]

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, G 2.7.1-1916 (Urteil Bezirksgericht Rorschach) und ZMH 43/007 (Bild)

Dienstag, 20. Juni 1916 – Tätowierter stiehlt Kupferdraht und demontiert Blitzableiter

Der Leiter des Arbeitshauses hielt in den sogenannten Stammbüchern neben einem allgemeinen Signalement, den Vermögensverhältnissen, dem Gesundheitszustand und der Art des Vergehens u.a. auch die Lebensgeschichte eines jeden Inhaftierten fest. Der folgende Lebenslauf dokumentiert die Lebensumstände eines Arbeitshaussträflings, der wegen qualifiziertem Diebstahl im 7. Rückfall verurteilt worden war. Am 20. Juni 1916 trat er seine Strafe an, am 19. Juni 1917 wurde er entlassen.

Leg. Geboren, den 9. Novb. 1887 in Lachen, Kt. Schwyz. Der Vater […], Schreiner, ist 1902 gestorben; die Mutter […] wohnt in Uznach. Er hat einen ledigen Bruder & 2 verheiratete Schwestern. Die Erziehung war mangelhaft.

Nachdem er die Primarschule in Uznach, 2 Klassen repetierend, [mit] mittelmässigem Erfolg besucht hatte, musste er schon als Ergänzungsschüler [Unterricht nach der obligatorischen Schulzeit] in die dortige Färberei, in welcher er bis zum 18. Jahre arbeitete.

Dann kam er als Handlanger in eine Sägerei in Gommiswald & blieb dort, den Beruf als Säger erlernend, 2½ Jahre in Stellung. Seither betätigte er sich teils als Säger, teils als Handlanger & Taglöhner in Rüti Kt. Zürich, Sihlbrugg, Uznach, Elgg & Lachen; im Frühjahr 1916 kam er zu Bauern in den Seebezirk & am 24. Mai wurde er in Uznach verhaftet.

Vorstrafen: [Diverse, u.a. wegen Übertretung des Fischereigesetzes, Einbruchs und Velodiebstahls]

Anklage: […] ist geständig, in den Gemeindalpen von Rieden Kupferdraht von Blitzableitern entwendet zu haben. Er sei zu diesem Zwecke 3-4 Male, zuletzt am 15. Mai in die Alpen hinaus gegangen, habe mit einer Zange die Drähte abgezwickt & diese in Stücke von 40 bis 50 cm zerschnitten. Einen Teil wand er auch zu einem Knäuel, versorgte diesen in seinem Rucksack & trug das Kupfer nach Uznach, um es an Ferd. Garbbaccio & an den Schneider Niederist zu veräussern. Dabei gab er vor, den Draht von Bauern in Kaltbrunn gekauft zu haben; den Erlös verbrauchte er für sich.

Von dem auf 180 Fr. geschätzten Kupferdraht konnte ein Teil im Werte von ca. 30 Fr. der geschädigten Ortsgemeinde Rieden wieder zugestellt werden.

Im April a.c. stahl der Beklagte dem Taglöhner Dom. Tremp bei der Spinnerei Uznaberg, für welche dieser „Büscheli“ zu machen hatte, 1 Beil, 1 Schürze & Eisendraht im Werte von zusammen 13 Fr. Tremp liess jeweilen abends sein Werkzeug auf dem Arbeitsplatze & als er am 10. April wieder auf diesen kam, fehlten ihm die besagten Gegenstände, fur [für] welche [Name des Sträflings], über deren Herkunft ebenfalls falsche Angaben machend, von einem Julius Oberholzer zugegebenermassen 4 Fr. & einen Schlegel Schnaps [erhalten hatte].

Weitere Diebstähle von Kupferdraht aus Toggenburgeralpen, die zu gleicher Zeit ausgeführt wurden, stellt er entschieden in Abrede & kann diesfalls der Schuld nicht überwiesen werden.

Die fortgesetzten Diebstähle sind qualifiziert & durch das Demolieren der Blitzableiter erwuchs der Geschädigten ohnehin eine erhöhte Gefahr.

Straferschwerend ist zu berücksichtigen, dass es sich um 2 verschiedene Fälle handelt & dass der Angeklagte nicht nur wegen Diebstahl 7mal rückfällig, sondern auch noch anderweitig vorbestraft ist.

Verhandlung des Bezirksgerichts Gaster, den 19. Juni 1916 & Verurteilung […], als des qualifizierten Diebstahls im VII. Rückfalle schuldig, in Anwendung von Art. 58, bezw. 59 Ziff. 1 lit., 36 & 39 des Str.G. zu einer

Arbeitshausstrafe von einem Jahre.

Der Verurteilte wurde im Arbeitshaus mit Korbflechten beschäftigt. Seine Arbeitsleistung sei befriedigend gewesen, das Betragen angehend. Wegen Unfugs entzog man ihm am 8. April 1917 eine Mittagssuppe. Als Besondere Kennzeichen sind vermerkt: Schielt rechts, wagrechte [sic] Narbe 5 cm lang auf der Stirn an der Haargrenze; Tätowierung 9 cm über der r. Armbeuge aussen i.A.W.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.86, B, Band 1909-1916 (Stammbuch des Arbeitshauses) und W 238/06.07-06 (Bild der Spinnerei Uznaberg auf einer Ansichtskarte von 1901 (unten links): Einem Taglöhner, der für die Fabrik „Büscheli“ (Reiswellen) machen sollte, stahl der Angeklagte das Werkzeug)

 

 

Samstag, 25. März 1916 – Bauernverband gegen die Abschaffung der Militärgerichte

Der St.Galler Bauernverband publizierte in seiner Ausgabe vom 25. März 1916 folgenden Artikel:

Sozialistische Militärinitiative.

Die Sozialdemokratie will durch eine Initiative auf Abschaffung der Militärgerichte ihren Unwillen gegen unsere Armee zum Ausdruck bringen. Wäre es den Initianten um die Sache und nicht nur um eine Herabsetzung unseres Militärwesens zu tun, sie hätten die Revision unseres veralteten Militärstrafgesetzbuches verlangt. Hiezu braucht es nur eine Anregung in der Bundesversammlung und keine Initiative. Wir sind für die Revision des Militärstrafgesetzes und verlangen eine Milderung der Strafbestimmungen.

Wir lehnen aber die sozialistische Initiative ab.

Diese Unterschriftenbogen werden einst den kommenden Geschlechtern noch von den Namen derjenigen Schweizerbürger Kenntnis geben, welche in der Zeit des grössten Weltkrieges gegen unser Volksheer und gegen unsere Behörden aufgetreten sind. Möge kein Bauer seinen guten Namen auf diese Liste setzen[.]

Der schweizerische Bauernverband.

Quellen: StASG, W 248/82 (Rubrik „Kurze Mitteilungen“ in St.Galler Bauer, 3. Jahrgang, Heft 12, 25.03.1916, S. 186-187) und Wy 123 (Rekruten auf dem Kasernenareal in St.Gallen, 1916)

Plan für den Neubau einer Scheune in der Bitzi, Mosnang

Montag, 6. März 1916 – Neue Scheune mit Wohnung für die Zwangsarbeitsanstalt Bitzi in Mosnang

St.Gallen, den 6. März 1916.

Tit. Justizdepartement

des Kantons St.Gallen

Anstalt Bitzi.

In Erledigung Ihres Auftrages vom 12. Januar a.c. übermachen wir Ihnen in der Beilage die Pläne und Kostenberechnung betreffend Erstellung einer Scheune mit Werkstätten und Wohnung.

Nach unserer Berechnung stellen sich die Kosten für diesen Bau auf Frs. 51000,00. Dabei sind normale Fundationsverhältnisse vorausgesetzt. Den Preisansätzen sind die heutigen Verhältnisse auf dem Baumarkte zu Grunde gelegt. Ein weiterer Preisaufschlag von Baumaterialien würde auch eine Erhöhung der Einheitspreise bedingen.

Wir legen ferner das von der Bitziverwaltung ausgearbeitete Projekt u. den zugehörigen Kostenvoranschlag bei und bemerken dazu folgendes:

1.) Der Terrainabtrag fehlt, welcher in unserem Voranschlag

enthalten ist

mit 1470 m3. a Frs. 3,50

Frs. 5145,00
2.) Die dadurch bedingten Stützmauern samt Geländer fehlen,

in unserem Kostenvoranschlag enthalten mit

Frs. 4100,00
3.) Es sind geringere Mauerstärken vorgesehen,

Differenz gegenüber unserem Voranschlag

30 m3. a Frs. 31,00

Frs. 930,00
4.) Es fehlt der Keller für die Wohnung[,] Differenz Frs. 600,00
5.) Die Jauchegrube ist um rund 1,60 m3. kleiner

als in unserem Projekt

 

Differenz

6.) Die Abdeckung derselben ist nicht massiv an-

genommen wie in unserem Projekt

 Frs. 800,00
7.) Die Einfahrt ist für eine Last von 1250 Kgr.

zu schwach

Differenz

Frs. 400,00

8.) Das Kehlgebälk über dem Wohnungstrakt

und der Boden daselbst

sind nicht gerechnet

Differenz

Frs. 600,00

9.) Es fehlt die Vordachverschalung

der Scheune

Differenz

Frs. 510,00

10.) Die Stallbrücken im Ochsenstall

sind nur 36 m/m. statt 60 m/m.

dick angenommen;

Differenz

Frs. 15,00

    Uebertrag

Frs. 13100,00

11.) Es fehlt der Bretterboden über den Ställen

samt Doppellatten;

Differenz

Frs. 880,00

12.) Es fehlen die Winterfenster

in der Wohnung

Differenz

Frs. 350,00

13.) Es fehlt der Oelfarbanstrich

auf Holzwerk

Differenz

Frs. 1275,00

14.) Es fehlt die Zufuhr für Baumaterialien; Differenz

Frs. 230,00

15.) Der Jaucheauslauf ist nir [sic für „nur“] mit Frs. 80,00

in Rechnung gestellt

Differenz

Frs. 420,00

16.) Es fehlt ein Posten für Unvorhergesehenes Differenz

Frs. 1700,00

17.) Es fehlt ein Posten für Pläne u. Bauleitung Differenz

Frs. 1200,00

  In unserem Voranschlag enthaltene Mehrbeträge

infolge besserer Ausführung

Frs. 19175,00

Addiert man den aufgerundeten Betrag von Frs. 19200,00 zu dem von der Verwaltung aufgestellten Voranschlag von Frs. 30400,00, so ergiebt [sic] sich eine Summe von Frs. 49600,00.

Werden beide Voranschläge hinsichtlich der Qualität der Bauausführung auf gleiche Basis gestellt, so ergiebt sich eine Differenz von (51000,00 minus 49600,00) Frs. 1400,00, um welchen Betrag unser Voranschlag höher ist als derjenige der Bitziverwaltung. Die Differenz ist hauptsächlich eine Folge der Verschiedenheit der beiden Projekte im Grundriss und im Aufbau.

Der Kantonsbaumeister

[Unterschrift: Adolf Ehrensperger]

Beilagen:

[…]

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.62 B 2 (Text) und KPP 1/46.9 (Plan)