Briefkopf Platten

Ostermontag, 9. April 1917 – Ein St.Galler organisiert Lenins Reise nach Petrograd

Im April 1917 verhalf der Arbeiterführer und Linkssozialist Fritz Platten (1883-1942) dem im Zürcher Exil ausharrenden Lenin, in einem «versiegelten» Bahnwagen über deutsches, schwedisches und finnisches Gebiet nach Petrograd (St.Petersburg) zu gelangen. Hier rief Lenin zur sozialistischen Weltrevolution auf. Kein Geschoss, schrieb Stefan Zweig in seinen Sternstunden der Menschheit, war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte als dieser Zug. Es mag eine Randnotiz der Weltgeschichte sein, dass ausgerechnet ein St.Galler Bürger diese Reise mitorganisierte. Die Informationen zur Einbürgerung der Familie Platten finden sich unten im Text. Im Beitragsbild sieht man den Briefkopf des Schreibens, mit welchen sich der Vater von Fritz Platten an den Regierungsrat des Kantons St.Gallen wandte und um das Bürgerrecht nachsuchte.

Die Zugfahrt nach Petrograd

Regelmässig besuchte ein ruhiger introvertierter Herr die Zentralbibliothek Zürich. Der unscheinbare Vielleser wohnte im Niederdorf an der schmalen Spiegelgasse 14 bei Schuhmacher Titus Kammerer. Heute erinnert eine Gedenktafel daran, dass hier Wladimir Ilitsch Ulianow Lenin vom 21. Febr. 1916 bis zu seiner Abreise am 2. April 1917 wohnte.

Von ganz anderem Kaliber war Fritz Platten, der Sekretär des Arbeiterbildungsvereins «Eintracht». Er war kein stiller und verbissener Ideologe, sondern leidenschaftlich und den Freuden des Lebens, wie dem Tanzen und Jassen, durchaus zugetan. Da Platten die Kasse des Hilfsvereins für russische Flüchtlinge und politische Gefangene betreute, lernte er Lenin kennen und nahm mit ihm zusammen 1915 an der Zimmerwalder Konferenz teil. In einem Brief bezeichnete Lenin seinen Mitstreiter Platten als unfähigen Wirrkopf. Wie sehr ihm dessen Verhandlungsgeschick aber entgegenkam, zeigte sich bald.

Platten führte erfolgreich die Verhandlungen mit Freiherr von Romberg, dem deutschen Botschafter in der Schweiz und organisierte nach Ludendorffs Bewilligung die Reise Lenins nach Petrograd. Lenin wollte auf schnellstem Wege nach Russland. Die Zeit drängte, denn bereits seit dem 8. März 1917 rebellierten dort die hungrigen Arbeiter. Soldaten liefen zu den Aufständischen über, und die Staatsduma proklamierte eine neue Provisorische Regierung. Der Zar hatte am 15. März abgedankt.

Die deutsche Kriegsseite erhoffte sich von der Infiltration radikaler Revolutionäre beim russischen Gegner den dringend benötigten separaten Friedenschluss im Osten, da die Provisorische Regierung, im Gegensatz zu Lenin, den Krieg gegen Deutschland nicht beendigen wollte. Jeder Verbündete zur Zersetzung der russischen Front war willkommen, und so akzeptierte man die von Lenin gestellten Reisebedingungen weitgehend.

Am Ostermontag, dem 9. April, rollte der Zug mit insgesamt 33 Emigranten, darunter war das Ehepaar Lenin und dessen engste Mitarbeiter Georg Sinowjew und Karl Radek, aus dem Zürcher Hauptbahnhof. Die Reiseleitung oblag Fritz Platten. Deklariert war der verschlossene Wagen als Rücktransport sibirischer, in die Schweiz entflohener Sträflinge nach Rußland: Streng geheim – Exterritorialer Transport – Zusteigen verboten. Plombiert waren aber nicht die zwei Wagen des Zugs, sondern das Gepäck. Später stieg der Deutsch-Schwede Wilhelm Jansson, als Mitglied der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften, hinzu. Als von General Luddendorff auserwählter Transportleiter auf deutscher Seite stieg Arwed Freiherr von Planitz, Rittmeister des Regiments der Sächsischen Gardereiter, an Bord.

Die Fahrt ging vom Grenzübergang Gottmadingen über deutschen Boden mit Zwischenhalt in Berlin nach Sassnitz. Von dort aus fuhr die Gruppe mit der Fähre nach Trelleborg in Schweden, dann über Stockholm nach Tornio im Norden Finnlands, das damals zu Russland gehörte. Während Platten an der schwedisch-russischen Grenze von der republikanischen Regierung aufgehalten wurde und deshalb zunächst in die Schweiz zurückreiste, ging Lenis Reise weiter nach Petrograd, dem heutigen Leningrad, wo die Gruppe am 16. April 1917 abends ankam.

Der Husarenstreich durch Feindesland gelang. Kaum war Lenin angekommen, hielt er vor versammelten Arbeitermassen eine erste Rede.

In der Oktoberrevolution siegten Lenins radikale Bolschewisten über die bürgerlich-liberale Regierung. Der Separatfrieden im Osten änderte jedoch nichts am deutschen Kriegsschicksal, und Lenin wurde auch vorgeworfen, mit dem Feind kooperiert zu haben.

Höhen und Tiefen einer kommunistischen Karriere: Fritz Plattens Schicksal

Ende 1917 brach Platten erneut in Richtung Petrograd auf. Im Folgejahr soll er Lenin vor einem Revolverattentat gerettet haben und dabei an der Hand verletzt worden sein. Regelmässig pendelte Platten zwischen Russland und der Schweiz hin und her. 1921 wurde in der Schweiz die kommunistische Partei gegründet. Platten wurde ihr erster Sekretär sowie erster kommunistischer Nationalrat. Im Herbst 1923 gründete Platten eine schweizerische landwirtschaftliche Kommune in Simbirsk und bewog seine Eltern, mit ihm nach Russland auszuwandern. Dieses Unternehmen war erfolglos, und die Mutter verstarb 1928 verarmt im Altersasyl in Tablat. Platten selber wurde Opfer von Stalins Säuberungswellen und am 22. April 1942 in einem Arbeitslager erschossen.

Zeitgleich zu Plattens Rückführungsplanung der radikalen Exilanten versuchte der sozialistische Nationalrat Robert Grimm eine allgemeine Rückführung zu organisieren. Die selbständige Abreise der Bolschewisten wurde vom Emigrantenkomitee als Provokation wahrgenommen. In Zusammenarbeit mit Grimm hatte der St. Galler Bundesrat Arthur Hoffmann, ohne Kenntnis seiner Regierungskollegen, versucht, an der Weltkriegs-Ostfront einen Separatfrieden zu vermitteln. Obwohl er stets betonte, nur im Interesse der Schweiz gehandelt zu haben, wurde ihm von den Westmächten vorgeworfen, dass er Deutschland begünstigen wollte, damit deutsche Truppen zur Stärkung der Westfront hätten abgezogen werden können. Hoffmann trat auf Grund dieser Affäre am 19. Juni 1917 zurück.

Plattens Herkunft und Kindheit in St.Gallen

Das Staatsarchiv St.Gallen besitzt nur Quellen zu den frühen Jahren dieser abenteuerlichen, an Höhen und Tiefen reichen Biographie und Familiengeschichte, da die Familie bereits 1892 nach Zürich übersiedelte. Dort besuchte Fritz Platten die Sekundarschule.

Im Zivilstandsregister der vormals selbständigen St.Galler Gemeinde Tablat findet man im Geburtenregister A von 1883 unter der Nr. 169 die handschriftlich, zwischen die vorgedruckten Zeilen eingetragenen Angaben des Zivilstandsbeamten Carl Weyermann:

«Den achten Juli achtzehnhundert achtzig & drei um sieben Uhr Vormittags wurde in Hoggersberg lebend geboren: Friedrich ehelicher Sohn des Peter Platten, (Beruf: Schreiner von Mi[n]den, Bez[irk] Coblenz. Preuss[en] [heute: Nordrhein-Westfalen] in Hoggersberg [Höggerberg] und der Paulina Strässle von Bütschwyl. Eingetragen den neunten Juli achtzehnhundert achtzig & drei auf die Angabe des Vaters Peter Platten, Abgelesen und bestätigt: Peter Platten

Nachträglich vermerkte Staatsarchivar Josef Anton Müller am 8. Juli 1917 am Rand, dass Fritz Platten 1892 das Bürgerrecht von Tablat erhalten hatte.

Die Einbürgerungstaxe für die Familie betrug laut Quittung der Kantonsbuchhaltung 150 Franken.

Im Taufbuch der Dompfarrei von St.Gallen findet man zusätzlich auf Seite 164 unter der Nummer 289 den Taufeintrag des später konfessionslosen Kommunisten und erfährt, dass Friedrich, Sohn von Peter «Platen» (sic!) und Paulina Platten-Strässle (urspründlich aus Bütschwil SG), am 8. Juli morgens um 7 Uhr geboren und am 29. Juli getauft wurde. Als Wohnort der Eltern ist Rosenberg, Tablat angegeben.

Im Bürgerregister von Tablat findet sich das Blatt der Eltern von Fritz Platten: Peter Platten (08.07.1852-28.04.1925, Schmied!) und Maria Paulina Strässle (25.02.1851-11.12.1931). Sie hatten am 15. April 1879 in St.Gallen geheiratet. Neun Kinder sind aufgelistet, wobei die Reihenfolge in ein chronologisches Durcheinander ausartete:

1) Barbara Paulina (*16. Mai 1879)

2) Josefina Babetta (*28. Nov. 1880)

3) Franz (*23. Juni 1882)

4) Anton (*30. Aug. 1884)

6) Florian (*10. Nov. 1886)

5) Friedrich (*8. Juli 1883)

8) Veronika (*1. Juni 1891)

9) Albertina (*15. Jan. 1894)

7) Hugo Paul (*19. Jan. 1887)

Der zuständige Beamte legte der Familie ferner noch ein (unten fett markiertes) «Kuckucksei» ins Nest. Den Einträgen in den grossen blauen Zivilstandsregistern von St.Gallen und Tablat entnimmt man Folgendes:

Geburtsdatum Name Eltern Beruf d. V. Adresse
1 1879, 16. Mai Barbara Paulina Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Unterer Harfenberg 15 St.Gallen
2 1880, 28. Nov. Josefina Babetta Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Engelgasse 1, St. Gallen
3 1882, 23. Juni Franz Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Engelgasse 1. St.Gallen
4 1883, 8. Juli Friedrich Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Höggersberg
5 1884, 30. Aug. Anton Peter Platten Paulina Strässle Schreiner St. Fiden
6 1886, 10. Nov. Florian Peter Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Kleinberg
7 1887, 19. Jan. Hugo Paul Anton Anton Platten Maria Catharina Eberle Schreiner Kronthal
8 1891, 1. Juni Veronika Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Kleinberg
9 1894, 15. Jan. Albertina Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Zürich

Die Eltern des unter Nr. 7 in der Liste aufgeführten Hugo Paul Anton hiessen Anton Platten und Maria Catharina Eberle. Da besagter Anton Platten wie obiger Peter Platten ebenfalls aus Minden kam, muss man annehmen, dass es sich um dessen Bruder handelt. Den Beweis hierfür liefert der Ehebucheintrag von Anton Platten (geboren 09.08.1861) und Maria Katharina Eberle (geboren 20.08.1858), die am 6. August 1885 in St.Gallen geheiratet hatten. Als Eltern des Bräutigams Anton Platten werden hier ebenfalls Johann Platten und Margaretha Jacobs aufgeführt. Die Brüder Anton und Peter ergriffen beide das Schreinerhandwerk und fanden in der Gemeinde Tablat eine neue Heimat, was die Verwechslung natürlich begünstigte.

Als Peter Platten am 6. Mai 1882 von St.Gallen nach Tablat kam, erwarb er ein eigenes Haus und ging neben dem Wirtschaftsbetriebe hauptsächlich der Schreinerei nach, wie man dem Schreiben des Tablater Ortsverwaltungsrats vom 13. November 1891 betreffend Einbürgerungsgesuch des Peter Platten entnehmen kann. Der Vater wurde als arbeitsamer wie tüchtiger Mann charakterisiert, der für seine musterhafte Wirtschaftsführung bekannt gewesen sei (vgl. Briefkopf im Beitragsbild).

Text und Recherche: Benno Hägeli, Staatsarchiv St.Gallen

Nächster Beitrag: 10. April 1917 (erscheint am 10. April 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZVD 64.2 (Zivilstandsregister Tablat, Geburtenregister A, 1883, Nr. 169), ZLA 2b/77 (Bürgerregister Tablat, Band B, Nr. 605), ZLA 002/312 (St.Gallen, Dompfarrei: Taufbuch, 1879-1884, S. 164, Nr. 289), ZLA 002/315 (St.Gallen-Dompfarrei: Ehebuch, 1870-1892, S. 178, Nr. 80) und KA R.88-5-a (Einbürgerungen, Dossier Peter Platten, 1891)

Literatur über Fritz Platten:

Hahlweg, Werner: Lenins Rückkehr nach Russland. 1917, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte.5. Jg. 4. Heft von 1957, S. 307-333. (http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1957_4.pdf).

Belzner, Emil: Die Fahrt in die Revolution, oder Jene Reise. Aide-Memoire. München, 1988

Platten, Fritz N.: Mein Vater Fritz Platten: ein Leben für die Revolution, in: Turicum, Sept. 1972, S. 17-22

Zweig, Stefan: Der versiegelte Zug: Lenin, 9. April 1917, in: Ders.: Die Sternstunden der Menschheit: Zwölf historische Miniaturen. Zürich: Ex Libris, 1982, S. 240-252

Miller, Ignaz: Der geheime Zug. In: NZZ am Sonntag, 02.04.2017

Huber, Peter: Stalins Schatten in die Schweiz. Schweizer Kommunisten in Moskau: Verteidiger und Gefangene der Komintern. Zürich: Chronos, 1994, S. 275-293

 

Dienstag, 5. Dezember 1916 – „ein roher verdorbener Bursche […], der nur durch eine längere Strafe gebessert werden kann.“

Kurzlebenslauf und Straftat eines Zuchthaussträflings, in die Strafanstalt St.Jakob in St.Gallen eingetreten am 5. Dezember 1916, ausgetreten am 4. Dezember 1920, verurteilt wegen schwerer Körperverletzung.

Der Gefängnisdirektor hielt in den sogenannten Stammbüchern neben einem allgemeinen Signalement, den Vermögensverhältnissen, dem Gesundheitszustand und der Art des Verbrechens u.a. auch die Lebensgeschichte eines jeden Häftlings fest. Ausserdem legte er Zeugnis über das Betragen während der Haft ab. Der Verurteilte wurde in der Schuhmacherei beschäftigt. Seine Arbeitsleistung sei befriedigend, das Betragen sehr gut gewesen. Es ist anzunehmen, dass die Sträflinge gröberes Schuhwerk bearbeiteten, als der „Fortschrittsstiefel“ für Damen im Briefkopf der Firma Conrad Müller in St.Gallen ausweist.

Leg. [legitim, d.h. ehelich] geboren, den 21. Sept. 1899 in Luzern. Der Vater […], Taglöhner, ist 1906 gestorben, die Mutter […] wohnt noch dort. Er hat 8 Brüder & 3 Schwestern, je 1 davon verheiratet. Die Erziehung soll recht gewesen sein.

Nach Austritt aus der Schule, die er in Luzern mit mittlerem Erfolg besuchte, ging er ¼ Jahr in eine Nietenfabrik & bekam [sic] dann als Handlanger mit einem Stundenlohn von 46 Rp. in das Baugeschäft Keller in Luzern ein, in dem er bis zu der am 27. Sept. 1916 dort erfolgten Verhaftung in Arbeit stand.

Vorstrafe: 1915 Dezb. 10. Statthalteramt Luzern, Diebstahl, 10 Tage Gefängnis.

Ausserdem erhielt er wegen Belästigung von Militärwachen, Skandal, Misshandlung, Streit, Ruhestörung & Schlägerei 9 Polizeibussen von 3 bis 9 Fr.

Anklage: Am 22. September 1916 reisten […] & sein Verwandter (Schwagersbruder) […] von Luzern nach Küssnacht, wo sie nachmittags, nachdem sie unterwegs verschiedene Wirtschaften besucht hatten, ankamen & wieder an diversen Orten einkehrten, so im Restaurant „Bahnhof“, wo […] aus dem Büffet 7 bis 8 Fr. entwendete, was sofort entdeckt wurde. Nun nahmen sie Reissaus & auf der Flucht stahl […] abends ca. 9 Uhr ein vor dem Gasthaus zu den „Dreikönigen“ stehendes Velo, um dem vorausgeeilten […] nachzufahren.

Dieser hatte unterdessen den von Bischofswil heimkehrenden Arbeiter […], mit dem er in der Dunkelheit zusammengestossen war, angefallen, misshandelt & über den Strassenrand bei Langwies hinuntergeworfen. […] will hiebei mit einem Schlagringe über das linke Auge geschlagen worden sein. Der Beklagte bestreitet, einen solchen gehabt zu haben, gibt aber zu, dass er dem […] mit dem geschlossenen Messer einen Streich versetzt haben könnte. Weil er „voll“ gewesen sei, könne er sich nicht mehr genau daran erinnern.

Während der Misshandlung war auch […] (geb. 1893) herbeigekommen, der geständigermassen mit seinem Veloschlüssel dem […] Streiche versetzte. Dieser wurde sehr schwer verwundet, blutete aus Nase & Mund, hatte laut ärztlichem Gutachten schwachen & unregelmässigen Puls & starke Quetschungen am Kopfe; Nasenbein & Nasenknorpel waren gebrochen.

Später konstatierte der Arzt vollständige Durchtrennung der Hornhaut & zerrissenen Augapfel, was dessen vollständigen Verlust durch operative Entfernung zur Folge hatte. Das schon 1894 durch Operation vom Star geheilte rechte Auge müsse neuerdings operiert werden. […] erklärt, er habe vom zweiten Angreifer 2 Schläge auf den Hinterkopf erhalten.

Die Tat des […] ist eine so ruchlose, dass derselbe trotz seiner Jugend hart bestraft werden muss. Aus seinem Vorstrafenverzeichnis ergibt sich, dass er ein roher verdorbener Bursche ist, der nur durch eine längere Strafe gebessert werden kann. In Bestätigung des kriminalgerichtlichen Erkenntnisses vom 24. November 1916, gegen welches […] appellierte, wurde dieser als der schweren Körperverletzung schuldig (nicht angefochten Zivilentschädigung an […] 3000 Fr., nämlich 300 Fr. für totale Arbeitsunfähigkeit vom 21. Sept. bis 21. Novb. 1916, 200 Fr. für Arzt- & Spitalkosten & 2500 Fr. für bleibenden Nachteil) vom Kantonsgericht Schwyz in Anwendung von §64 K. ST.G. am 4. Dezember verurteilt zu einer

Zuchthausstrafe von vier Jahren,

unter Abzug der Untersuchungshaft.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.86 B 5, Band 1912-1919 (Stammbuch der Strafanstalt St. Jakob) und ZMH 64/311 (Ausschnitt aus Briefkopf)

Freitag, 1. Dezember 1916 – Die Artistenfamilie Nock logiert im Hotel Bahnhof in Gossau

Oben: Seiltänzer auf einem Bild von Eugen Blondin, 1897.

Am 1. Dezember 1916 findet man im Fremdenbuch des Hotels Bahnhof in Gossau folgende Gäste eingetragen:

Fremdenbuch

Beim Cinematographenbesitzer Nok Vater und seinem Sohn Nok Carl handelte es sich um Mitglieder der aus Baden-Württemberg stammenden Artistenfamilie Nock. Diese Familie verbindet man weniger mit dem Kanton St.Gallen als die Zirkusfamilie Knie, welche in Rapperswil ansässig ist.

Wohnwagen

Eugen Blondin (1871-1960), der Maler der Beitragsbilder, war der Sohn von Henri Eugen und Nina Blondin-Knie (1844-1916, Schwester von Ludwig Knie-Heim). Zunächst wie seine Eltern als Zirkuskünstler tätig, ging er ab 1887 bei einem Deokorationsmaler in die Lehre. Nach mehreren Jahren der Wanderschaft erhielt er 1900 eine Anstellung in der Firma Reinwald in Stuttgart, wo er nebenberuflich zusätzlich mehrere Semester an der Kunstgewerbeschule studierte. 1912-1914 war er als Gehilfe des Professors Cissarz, dem Vorstand der grafischen Abteilung der Stuttgarter Kunstgewerbeschule, tätig. Nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit konnte er 1915 wieder bei Reinwald eintreten. 1917 zog man ihn in den Landsturm ein. Nach Kriegsende war er nochmals zwei Jahre bei Reinwald angestellt. Ab 1921 wohnte Blondin in der Schweiz, wo er bis Anfang der 1930er Jahre im Zirkus Knie den Kassierdienst versah. Danach arbeitete er wieder als Dekorationsmaler.

Unterschrift Blondin

1897 malte er ein Bild (s. Ausschnitte oben), das die Grössenverhältnisse zwischen Zirkusartisten, Arbeitern und einzelnen Maschinenteilen des englischen Schnelldampfers Lucania darstellt. Die Lucania war bis 1897 das weltgrösste Schiff und mit dem Blauen Band ausgezeichnet. Letzteres wurde an Passagierschiffe vergeben, welche einen Schelligkeitsrekord bei der Überquerung des nördlichen Atlantik aufgestellt hatten:

Bild

Es ist das bisher einzige Bild im Staatsarchiv St.Gallen, welches Leben und Arbeiten von Zirkusartisten illustriert.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 037 (Auszug aus dem Fremdenbuch des Hotels Bahnhof in Gossau) und W 236 (Bild von Eugen Blondin, 1893)

Dienstag, 5. September 1916 – Auch die Polizei soll nach fremden Fliegern Ausschau halten

An sämtliche Angehörige des st.gallischen Polizeikorps.

Hiemit bringen wir Ihnen Folgendes zur Kenntnisnahme & Nachachtung:

1. Das Armeekommando hat zur Verhinderung von Grenzverletzungen durch Flieger kriegführender Staaten einen militärischen Meldedienst eingerichtet.

2. Schweizerischen Flugzeugen ist im 7. Territorial-Kreise das Ueberfliegen der Linien Winterthur-Wil-St.Gallen-Altstätten untersagt. Flieger die nördlich dieser Linie beobachtet werden, sind daher mutmasslich Angehörige der kriegführenden Staaten & unverzüglich zu melden.

3. Die Meldung soll telefonisch oder telegraphisch direkt an die Nachrichtensektion des Armeestabes, Bern Telephon Nr. 4601, sowie auch an das Territorial-Kommando VII in St.Gallen oder an das nächste Platzkommando (Frauenfeld, St.Gallen, Herisau) gerichtet werden.

An den Anfang der Meldung ist das Stichwort: Fliegermeldung zu setzen.

St.Gallen, den 5. September 1916.

Das kant. Polizeikommando.

Vergleiche auch den Beitrag vom Freitag, den 31. März 1916.

Die Zeit um den Ersten Weltkrieg war geprägt von technischer Euphorie. Gerade im Flugzeugbau wurde vieles entworfen und ausprobiert. In der Patentsammlung des Staatsarchivs St.Gallen zeugt eine ganze Reihe von Schriften von diesem Erfindungsreichtum.

So liess beispielsweis Gallus Baumann von Bütschwil 1919 ein Fahrendes, schwimmendes und fliegendes Fahrzeug patentieren:

Fahrendes, schwimmendes und fliegendes Fahrzeug

Und für alle, denen das richtige Abheben dann doch etwas riskant erschien, erfand M. Lange in Weesen im gleichen Jahr eine Flugeisenbahn:

Flugeisenbahn

In der Patentschrift heisst es dazu: Der Erfindungsgegenstand ist dazu bestimmt, zwischen bestimmten Orten grössere Lasten mit grösster Geschwindigkeit zu fördern, eventuell ohne Verwendung eines Piloten. Zu den Risiken der Fliegerei steht zu lesen: Durch vorliegende Erfindung soll eine Flugeisenbahn geschaffen werden, welche, die Tragfähigkeit der Luft ausnützend, annähernd die gleiche Schnelligkeit wie das freifliegende Flugzeug besitzt, wobei jedoch die nicht zu beseitigenden gefährlichen Eigenschaften des Flugzeuges, als: Absturz, Überschlagen, Verfliegen, Desorientierung in Wolken und Nebel, Zertrümmerung bei der Landung, Notlandung, starke Beeinflussung des Herzens durch rapid wechselnde Höhe etc., ausgeschaltet werden.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.102-1a-4 (Kreisschreiben des Polizeikommandos des Kantons St.Gallen) und ZW 2 L/59-064734 (Abbildung eines Patentanspruchs von Joseph Fleisch, Rorschach, für einen Orientierungsapparat für Flugzeuge von 1913) sowie ZW 2 S/129b-083065 (Patient für ein fahrendes, schwimmendes und fliegendes Fahrzeug) und ZW 2 S/127a-084181 (Patent für eine Flugeisenbahn)

Montag, 28. August 1916 – Witwe Karolina Thum-Helbling von Benken verfügt über ihren Nachlass

Die Bezirksämter hatten neben vielen anderen auch die Aufgabe, Testamente (sogenannte Letztwillige Verfügungen) auszustellen und aufzubewahren. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) war 1907 vom Parlament angenommen worden und 1912 in Kraft getreten. Es regelt die Bereiche Personen-, Familien-, Erb- und Sachenrecht.

Oeffentliche letztwillige Verfügung nach Art. 502 Z.G.B.

Der unterzeichnete Bezirksammann ist heute behufs Errichtung einer letztwilligen Verfügung gerufen worden zu:

Frau Wittwe [sic] Thum Karolina geborene Helbling, 77 Jahre alt, von Benken.

Diese hat dem unterzeichneten Bezirksammann nachstehende Verfügungen auf Ableben hin mitgetheilt, & ihn beauftragt, darüber diese öffentliche Urkunde abzufassen:

Von dem bei meinem einstigen Hinschiede zu hinterlassenden Vermögen soll auf Grund dieser öffentlichen letztwilligen Verfügung zum Voraus zukommen:

1. Meiner Tochter Luisa Tremp geborene Thum, Ehefrau des Dominik Tremp, zur Zeit wohnhaft auf Blatten, Benken, ein Tausend Franken Fr. 1000.- Ferner: eine Federde[c]ke auf ein grosses Bett, zwei Sessel nach Auswahl; ein Petrolkochapparat, das Kanappee [sic, Sofa]; die schönere Kupfergelte; der Tisch in der Kammer; drei Leintücher, zwei Anzüge.

2. Meiner Tochter Karolina Hofstetter geborene Thum, Ehefrau des Schneidermeister[s] & Coiffeur[s] Hofstetter im Dorf in Benken ein Tausend Franken Fr. 1000.- Ferner: eine Kommode in der Kammer; das blaue Kästli; der Tisch im Boden; die grössere Kupferpfanne.

3. Meinem Sohne Zölestin Thum, zur Zeit wohnhaft in Rüti, Kanton Zürich: der aufrechte Kasten; eine Kommode in der Küche; das schönere Kuperpfändli [sic]; zwei Anzüge; drei Leintücher; das liegende Kästli.

4. Alle, oben unter Ziffer 1.2.3. nicht genannten, & von mir zurückzulassenden Fahrnisse & Hausräthlichkeiten [sic] irgendwelcher Art, sie mögen heissen wie sie wollen, sollen meiner Tochter, Frau Karolina Hoffstetter geborene Thum, ohne weitern Entgelt, noch zukommen.

5. Meinem Tochterkinde Olga Hoffstetter, des Schneidermeister[s] Hoffstetter: das von mir benutzte Bett in der Kammer, vollständig ausgerüstet; das Nachttischli.

6. Meinem Patenkind Dominik Tremp, des Dominik, zur Zeit wohnhaft auf Blatten, Benken, fünfzig Franken. Fr. 50.-

7. Der Pfarrkirche Benken für Anschaffung eines Messgewandes vier hundert Franken Fr. 400.-

8. Dem titl. Pfarramt Benken für Lesung der Gregorianischen heiligen Messen & anderer heiligen Messen ein hundert Franken Fr. 100-

9. Für ein Grabdenkmal für mich samt Einfassung & Weihwasserkessel drei hundert Franken Fr. 300.-

Diese Urkunde wurde der Erblasserin in Gegenwart der beiden unterschriebenen Zeugen vom unterzeichneten Bezirksammann vorgelesen. Die Erblasserin erklärt, dass die Urkunde ihre letztwillige Verfügung enthalte.

Benken, den achtundzwanzigsten August neunzehnhundertsechszehn.

Der Bezirksammann:                       Die Erblasserin:

Alois Rüdisühle                                 Karolina Thum-Helbling               

Wir, die Unterzeichneten, Tissot Arnold, Conditor, bürgerlich von La Chaux de Fonds & Locle, Kanton Neuenburg, & Keel Albert, Schmiedmeister, von Rebstein, Kanton St.Gallen, beide wohnhaft in Benken, bezeugen hiermit durch unsere Unterschrift, dass diese Urkunde vom Bezirksammann der Erblasserin in unserer Gegenwart vorgelesen wurde, & dass hierauf die Erblasserin, welche sich dabei nach unserer Wahrnehmung im Zustande der Verfügungsfähigkeit befand, erklärte, die vorgelesene Urkunde enthalte ihre letztwillige Verfügung.

Benken, den achtundzwanzigsten August neunzehnhundertsechszehn:

Die Zeugen:

Albert Keel, Schmied.

Arnold Tissot.

Anmit erkläre ich, dass ich diese Urkunde nach den Vorschriften der Art. 499-502 des Zivilgesetzbuches & getreu dem letzten Willen der Erblasserin abgefasst habe, sowie dass die Zeugen Albert Keel, Schmied & Arnold Tissot diese Urkunde in meiner Gegenwart eigenhändig unterzeichnet haben.

Benken, den achtundzwanzigsten August neunzehnhundertsechszehn.

Der Bezirksammann:

Rüdisühle

[Stempel:] Bezirksammannamt Gaster, Ct. St.Gallen

Unterschriften

Unterschriften 2

Unterschriften des Bezirksammanns, der Erblasserin und der beiden Zeugen

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, A 321/3.1 Bezirksamt Gaster, Letztwillige Verfügungen, Testament der Karolina Thum-Helbling (darin: Stempelmarken des Kantons St.Gallen auf der Urkunde)

Dienstag, 20. Juni 1916 – Tätowierter stiehlt Kupferdraht und demontiert Blitzableiter

Der Leiter des Arbeitshauses hielt in den sogenannten Stammbüchern neben einem allgemeinen Signalement, den Vermögensverhältnissen, dem Gesundheitszustand und der Art des Vergehens u.a. auch die Lebensgeschichte eines jeden Inhaftierten fest. Der folgende Lebenslauf dokumentiert die Lebensumstände eines Arbeitshaussträflings, der wegen qualifiziertem Diebstahl im 7. Rückfall verurteilt worden war. Am 20. Juni 1916 trat er seine Strafe an, am 19. Juni 1917 wurde er entlassen.

Leg. Geboren, den 9. Novb. 1887 in Lachen, Kt. Schwyz. Der Vater […], Schreiner, ist 1902 gestorben; die Mutter […] wohnt in Uznach. Er hat einen ledigen Bruder & 2 verheiratete Schwestern. Die Erziehung war mangelhaft.

Nachdem er die Primarschule in Uznach, 2 Klassen repetierend, [mit] mittelmässigem Erfolg besucht hatte, musste er schon als Ergänzungsschüler [Unterricht nach der obligatorischen Schulzeit] in die dortige Färberei, in welcher er bis zum 18. Jahre arbeitete.

Dann kam er als Handlanger in eine Sägerei in Gommiswald & blieb dort, den Beruf als Säger erlernend, 2½ Jahre in Stellung. Seither betätigte er sich teils als Säger, teils als Handlanger & Taglöhner in Rüti Kt. Zürich, Sihlbrugg, Uznach, Elgg & Lachen; im Frühjahr 1916 kam er zu Bauern in den Seebezirk & am 24. Mai wurde er in Uznach verhaftet.

Vorstrafen: [Diverse, u.a. wegen Übertretung des Fischereigesetzes, Einbruchs und Velodiebstahls]

Anklage: […] ist geständig, in den Gemeindalpen von Rieden Kupferdraht von Blitzableitern entwendet zu haben. Er sei zu diesem Zwecke 3-4 Male, zuletzt am 15. Mai in die Alpen hinaus gegangen, habe mit einer Zange die Drähte abgezwickt & diese in Stücke von 40 bis 50 cm zerschnitten. Einen Teil wand er auch zu einem Knäuel, versorgte diesen in seinem Rucksack & trug das Kupfer nach Uznach, um es an Ferd. Garbbaccio & an den Schneider Niederist zu veräussern. Dabei gab er vor, den Draht von Bauern in Kaltbrunn gekauft zu haben; den Erlös verbrauchte er für sich.

Von dem auf 180 Fr. geschätzten Kupferdraht konnte ein Teil im Werte von ca. 30 Fr. der geschädigten Ortsgemeinde Rieden wieder zugestellt werden.

Im April a.c. stahl der Beklagte dem Taglöhner Dom. Tremp bei der Spinnerei Uznaberg, für welche dieser „Büscheli“ zu machen hatte, 1 Beil, 1 Schürze & Eisendraht im Werte von zusammen 13 Fr. Tremp liess jeweilen abends sein Werkzeug auf dem Arbeitsplatze & als er am 10. April wieder auf diesen kam, fehlten ihm die besagten Gegenstände, fur [für] welche [Name des Sträflings], über deren Herkunft ebenfalls falsche Angaben machend, von einem Julius Oberholzer zugegebenermassen 4 Fr. & einen Schlegel Schnaps [erhalten hatte].

Weitere Diebstähle von Kupferdraht aus Toggenburgeralpen, die zu gleicher Zeit ausgeführt wurden, stellt er entschieden in Abrede & kann diesfalls der Schuld nicht überwiesen werden.

Die fortgesetzten Diebstähle sind qualifiziert & durch das Demolieren der Blitzableiter erwuchs der Geschädigten ohnehin eine erhöhte Gefahr.

Straferschwerend ist zu berücksichtigen, dass es sich um 2 verschiedene Fälle handelt & dass der Angeklagte nicht nur wegen Diebstahl 7mal rückfällig, sondern auch noch anderweitig vorbestraft ist.

Verhandlung des Bezirksgerichts Gaster, den 19. Juni 1916 & Verurteilung […], als des qualifizierten Diebstahls im VII. Rückfalle schuldig, in Anwendung von Art. 58, bezw. 59 Ziff. 1 lit., 36 & 39 des Str.G. zu einer

Arbeitshausstrafe von einem Jahre.

Der Verurteilte wurde im Arbeitshaus mit Korbflechten beschäftigt. Seine Arbeitsleistung sei befriedigend gewesen, das Betragen angehend. Wegen Unfugs entzog man ihm am 8. April 1917 eine Mittagssuppe. Als Besondere Kennzeichen sind vermerkt: Schielt rechts, wagrechte [sic] Narbe 5 cm lang auf der Stirn an der Haargrenze; Tätowierung 9 cm über der r. Armbeuge aussen i.A.W.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.86, B, Band 1909-1916 (Stammbuch des Arbeitshauses) und W 238/06.07-06 (Bild der Spinnerei Uznaberg auf einer Ansichtskarte von 1901 (unten links): Einem Taglöhner, der für die Fabrik „Büscheli“ (Reiswellen) machen sollte, stahl der Angeklagte das Werkzeug)

 

 

Sonntag, 21. Mai 1916 – Patent-anspruch für ein Fenster mit verschiebbarer Glasscheibe

In der Begründung zu seiner Patentschrift betreffend Fenster mit verschiebbarer Glasscheibe hielt der Erfinder, F. Seeger-Rietmann aus St.Gallen, fest:

Bei den bisherigen Fenstern mit verschiebbarer Glasscheibe sind die Anordnungen in der Regel derart getroffen, dass zwecks Öffnens der Fenster die Glasscheibe mit ihrem Rahmen zusammen verschoben werden muss. Dadurch werden die zu bewegenden Teile sehr schwer und die Konstruktionen infolgedessen unhandlich, so dass derartige Fenster möglichst wenig bewegt werden. Nach vorliegender Erfindung sollen diese Nachteile behoben werden. Zu diesem Zweck ist die Glasscheibe an mindestens einer Seite mit einer Leiste gefasst und ohne Mitbewegen ihres Rahmens in Führungen des Fensterfutterrahmens verschiebbar, während der Rahmen der Glasscheibe, zum Verstellen derselben, von der letztern abhebbar ist, im Schliesszustande der Scheibe diese an ihren Rändern überdeckt und sie dabei gegen entsprechende Teile des Fensterfutterrahmens anpresst und mit zu seinem Abheben von der Schiene dienenden Mitteln versehen ist. Auf der beifolgenden Zeichnung ist eine beispielsweise Ausführungsform des Erfindungsgegenstandes dargestellt; es zeigt: […]

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, ZW 2 B/4d-073660 (St.Galler Patentschriften)

Mittwoch, 17. Mai 1916 – Jüdische Familie erhält Bürgerrecht in Brunnadern

In seiner Sitzung vom 17. Mai diskutierte der Grosse Rat auch über eine ganze Reihe von Einbürgerungsgesuchen. Aufgrund der Unterlagen – u.a. ein Leumundszeugnis und ein Steuerausweis – erteilte der Kantonsrat dem Samuel Lichtenstein, dessen Ehefrau Adele, geborene Hauser, und dessen Tochter Edith das Bürgerrecht der Gemeinde Brunnadern.

Brunnadern nahm die in St.Gallen wohnende, jüdische Kaufmannsfamilie, wie im übrigen zahlreiche weitere, ins Gemeindebürgerrecht auf, um mit den Einbürgerungstaxen die Gemeindefinanzen aufzubessern. Auch andere arme Gemeinden des Toggenburgs wie Mogelsberg und Oberhelfenschwil verfolgten diese Strategie. Das war möglich, weil gemäss damaligem, liberalerem Einbürgerungsrecht die Wohnsitzpflicht gegen eine Gebühr abgelöst werden konnte.

Die Familie Lichtenstein stammte aus Sniatynka-Drohobycz im damaligen österreichisch Galizien. Die Einbürgerungstaxe für den Kanton betrug Fr. 200.-, diejenige für die Gemeinde Brunnadern 1300.-. Laut Steuerausweis im Bürgerrechtsdossier wies Samuel Lichtenstein-Hauser, als dessen Beruf „Reisender“ angegeben wurde, im Jahr 1915 ein steuerpflichtiges Einkommen von Fr. 1400.- nach.

Dem Dossier liegt auch die Abschrift eines Ausweises des k. und k. österreichisch-ungarischen Konsulats in St.Gallen bei. Diese charakterisierte Samuel Lichtensteiger in Ermangelung eines Fotos folgendermassen:

Personenbeschreibung:

Statur: mittel Augen: dunkelbraun
Gesicht: oval Mund:  
Haare: dunkelbraun Nase: Rg.
Besondere Kennzeichen: %    

Leumundszeugnis

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.88 B1 und KA R.88-5-a (Einbürgerungsunterlagen) und W 276/08.04-02 (Ansichtskarte von 1917, hergestellt durch Artist Atelier H. Guggenheim Co., Editeurs, Zürich, No. 7395a Dép.)

Sonntag, 23. Januar 1916 – Ein Schweizerwappen-Tattoo am Vorderarm und Narben am Handgelenk

Der Direktor der Strafanstalt St.Jakob in St.Gallen hielt in den sogenannten Stammbüchern neben einem allgemeinen Signalement, den Vermögensverhältnissen, dem Gesundheitszustand und der Art des Verbrechens u.a. auch die Lebensgeschichte eines jeden Inhaftierten fest. Der vorliegende Fall betraf einen Mann, der am 24. Juli 1914 in das Gefängnis eingetreten war und am 23. Januar 1916 austreten konnte. Er war wegen Raubes verurteilt. Der Eintrag im Stammbuch weist eine Reihe von besonderen Kennzeichen auf, so unter anderem eine grosse Narbe am linken Handgelenk und ein tätowiertes Schweizerwappen am linken Vorderarm:

Leg. [legitim, d.h. ehelich] geboren, den 2. März 1893 in Montlingen, wo seine Eltern […], Sticker & […] noch wohnen. Er hat 3 Brüder & 4 Schwestern, alle 7 ledig. Die Erziehung sei recht gewesen.

Nachdem er die Primarschule in Montlingen mit ordentlichem Erfolg besucht hatte, ging er bis zum 17. Jahr in eine Ziegelei, erlernte dann beim Vater das Sticken, das er aber nach einem Jahre wieder aufsteckte & arbeitete seither als Taglöhner beim Rheindurchstich. 1913 passierte er die Infanterierekrutenschule in St.Gallen & am 31. Mai 1914 wurde er in Montlingen verhaftet.

Von der Polizeikommission Gossau ist er am 8. August 1911 wegen Ruhestörung & Rauferei mit 20 Fr. gebüsst worden; sonst weiss das Leumundszeugnis von Oberriet nichts Nachteiliges über ihn zu berichten.

Vorstrafen: keine.

Ankage: Samstag, den 30. Mai a.c. nachts zwischen 11 & 12 Uhr wurde der Pflästerermeister […] auf dem Wege von Krieseren [Kriessern] nach Montlingen das Opfer eines Raubüberfalles.

Der deshalb in Verdacht gekommene […] gestand schon im 2. Verhör, dass er jenen, den er zuvor im „Sternen“ in Krieseren in angetrunkenem Zustande gesehen hatte, in Beraubungsabsicht mit seinem Velo zu Boden gefahren, mit einigen Faustschlägen an den Kopf traktiert & geknebelt zu haben, wobei, bezw. worauf er ihn seines gesamten Tascheninhaltes beraubte.

Dieser bestand aus einer Barschaft von mindestens 214 Fr. 75, aus einem 2 Fr. wertigen Taschenmesser, aus 4 Schlüsseln im Werte von 5 Fr., 2 neuen Taschenbüchlein (Wert 2 Fr.) & einem Retourbillet [sic] St.Gallen-Altstätten (Restwert 2 Fr. 60). Von dem somit 226 Fr. 35 ausmachenden Gesamtdeliktsbetrag konnten dem Geschädigten 204 Fr. 75 in bar zurückgegeben werden. Messer[,] Schlüssel etc. will der Beklagte in den Kanal geworfen haben.

Obschon derselbe wegen Rauferei mit einer Geldbusse belegt wurde, fällt mildernd in Betracht, dass er im übrigen bisher gut beleumdet war & auch die Tat rasch gestanden hat, dass der Schaden zum grossen Teil gedeckt & für den Restbetrag anerkannt ist, sowie der Umstand, dass der Raubüberfall infolge der Trunkenheit des Geschädigten leicht durchzuführen war.

Verhandlung des Kantonsgerichts, den 23. Juli 1914 & Verurteilung […], als des Raubes schuldig, in Anwendung von Art. 66 Ziff. 2, 35 & 36 Str. G. zu einer

Zuchthausstrafe von anderthalb Jahren.

Einträge im Stammbuch der Strafanstalt St.Jakob
Einträge im Stammbuch der Strafanstalt St.Jakob

Im Stammbuch wurde auch das Betragen während der Haft festgehalten. Der Verurteilte wurde in der Schusterei beschäftigt. Arbeitsleistung und Betragen seien befriedigend gewesen.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, KA R.86 B 5, Band 1912-1919