Freitag, 28. April 1916 – Adiö, liebe Anstalt!

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Vom Letzispaziergang.

Am Mittwoch Nachmittag machten wir Oberklässlerinnen mit Hrn. u. Frau Bühr u. mit Trudi und Hans den Letzispaziergang. Unser Ziel war Romanshorn. Am Morgen war es neblig. Am Mittag wurde der Nebel von der Sonne verjagt. Um 310 Uhr fuhren wir ab. Als der Zug in Roggwil hielt, begrüssten wir den Bodensee.

Wir ergötzten uns an den Frühlingsblumen u. schönen Bäumen. Später trafen wir einen ehemaligen Zögling, Frl. Bertha Hess, in Neukirch-Egnach. Sie kam auch mit uns. Auf dem Bahnhof in Romanshorn begegneten wir Frau Keller, Marthas Mutter. Sie begleitete uns auf den Friedhof u. zeigte uns das Grab von unserer verstorbenen Mitschülerin, Martha Keller. Sie hat einen sehr schönen Grabstein bekommen. Daran steht ein Mädchen weinend u. ein Sträusschen Blumen in der Hand. Der Spruch heisst: Nicht verloren, nur vorangegangen. Im Beet hat es schöne Blumen. Nachher gingen wir an das Grab von Marthas Schwester Lina. Es hat einen fast gleichen Stein. Beide Gräber gefielen uns sehr gut. Hierauf besuchten wir die protestantische Kirche. Diese ist sehr schön gebaut. Unterwegs sahen wir eine Kaffeehalle. Wir gingen hinein. Wir wurden von Frau Keller u. Frl. Hess eingeladen. Wir genossen Kakao u. Krämli. Es mundete uns. Als wir fertig waren, schauten wir das schöne Städ[t]chen an. Hierauf statten wir noch der katholischen Kirche einen Besuch ab. Wir kamen an den See. Wir sahen die Luftschiffhalle bei Friedrichshafen. Wir gingen über die Brücke der Badanstalt u. wieder zurück. Wir kamen zur Insel. Das ist ein schöner Aussichtspunkt. Die Aussicht war nicht ganz hell. Wir kehrten dann wieder um u. bummelten am Ufer entlang u. kamen zum Hafen. Es hat dort viele Kieshaufen. Einige Personen beschäftigten sich mit Fischfangen. Um halb 7 Uhr mussten wir auf den Bahnhof gehen. Wir fuhren mit dem Schnellzug heim. Wir nahmen noch von Fr. Keller u. Frl. Hess Abschied u. dankten ihnen füre [für] ihre Freundlichkeit. Der Letzispaziergang war ein schöner Abschluss unserer Schulzeit. 

Freitag 28. April 1916

Heute sind wir zum letztenmal in die Schule gegangen. Meine Schulzeit ist zu Ende. Ich bin froh, dass ich so manches lernen durfte. Ich will der Anstalt dafür dankbar sein, indem ich mir Mühe gebe, ein tüchtiger, guter Mensch zu sein.

Adiö, liebe Anstalt! Auf Wiedersehen!

Reigen

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Tagebuch) sowie A 451/4.2.2-1 (Mädchengruppe mit Efeukränzen) und BTN 1/1.1-042 (Bodensee-Toggenburgbahn: Stationsgebäude Roggwil-Berg, ca. 1910). 1909 feierte die damalige Taubstummenschule Jubiläum. An der Feier führten Schülerinnen einen Reigen auf. Eines der jüngeren Mädchen in der Mädchengruppe könnte Emma Graf, die Tagebuchschreiberin, sein.

Samstag, 22. April 1916 – Der Schnee zertrümmert eine Gartenbank in der Sprach-heilschule

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Am Montag war ein Herr von der Basler Volksversicherung da. Josephina Braun musste ein Schriftstück unterzeichnen. Die Mutter hat alle ihre Kinder versichert. Sie muss [für] jedes Kind jede Woche 50 Rp. Prämie in die Versicherung einbezahlen. Nach 15 Jahren bekommt jedes Kind 400 Franken. Wenn ein Kind vorher stirbt, bekommt die Mutter das Geld. Wenn die Mutter schon gestorben [ist], bekommen es die Erben.

Josephina Braun bekam am Dienstag eine Karte vom Expressgutbüreau, ein Korb sei für sie angekommen. Ein Knabe hat ihn abgeholt. Ich dachte, es sei ein leerer Waschkorb zum Einpacken von ihren Effekten. Heute über 8 Tage dampfen wir mit Sack u. Pack ab. Herr Bühr sagte zu Seppli, sie habe einen Korb bekommen. Diesen Ausdruck braucht man auch bildlich. Er sagte uns verschiedene Beispiele. Wenn man etwas anbiete u. man werde abgewiesen, so sage man, man habe einen Korb bekommen. Bei der Konfirmation schenkte Herr Bühr unseren Angehörigen den Wein ein. Elsis Schwester Anni wollte keinen Wein haben. Sie hat Herr[n] Bühr einen Korb gegeben.

Jetzt sind wir nicht mehr zu fünft in der Oberklasse, sondern zu siebent. Kurz vor unserem Austritt sind 2 neue Schüler noch eingetreten, ein gelbes Männchen u. ein gelbes Weibchen. Sie erzählen eifrig, was sie erlebt haben. Sie schnabulieren fleissig, was Rösli ihnen vorgesetzt hat. Es sind 2 Kanarienvögel. Sie sind kreuzfidel.

Diese Woche hat es ziemlich stark geschneit. Der Schnee rutschte auf dem Dach nach vorn. In der Nacht gefror er zu Eis. Am Morgen schien die Sonne einwenig. Die Schneemasse löste sich u. stürzte herab. Sie zertrümmerte eine Gartenbank. Wir können Gott danken, dass keine Person da unten stand. Sie wäre unfehlbar tot gewesen.

Frau Bühr kaufte für Seppli einen Hut. Herr Bühr sagte, wir sollen keinen grossen Wert auf das Äussere legen. Wir wollen aber auch nicht vernachlässigt aussehen.

Emma Graf schreibt nicht, womit die Kanarienvögel gefüttert wurden. Möglich wäre, dass man das Futter bei Emil Hausknecht besorgte.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Tagebuch) und ZMH 64/400 (Briefkopf)

Samstag, 15. April 1916 – Frosch-schenkel als Fastenspeisen und Gespräche über den Tod und das Sterben

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Am Sonntag besuchten die Mädchen den Wildpark. Sie haben die jungen Moufflonschafe gesehen. Sie sagten, das seien possierliche Tiere. Aber sie gumpten [hüpften] nicht herum. Sie hielten einen Mittagsschlaf. Sie waren erholungsbedürftig. In der gleichen Abteilung sind 2 Schneehasen. Man nennt sie auch Alpenhasen. Die Mädchen haben sie nicht gesehen. Sie sind im Winter weiss wie Schnee. Wenn der Frühling kommt, wechseln sie ihr Kleid. Sie nehmen die Farbe der Erde u. des Gesteins an. Sie sind so vor den Raubvögeln u. vor den Jägern geschützt. Die Mädchen sahen, dass die Hirsche u. Rehe ihre Haare verlieren. Sie wechseln ihre Haare. Im Winter hatten sie einen dicken Pelz. Jetzt bekommen sie ein leichtes Sommerkleid. Anna Altenburger fütterte einen Hirsch mit Gras. R. Hängi tupfte ihn auf seine Schnauze. Da lief er erschrocken davon.

Familie Bühr erhielt wieder eine Karte von Willi aus Zürich. Er schrieb, er u. seine Genossen seien einen Tag in Zürich geblieben. Sie haben die Stadt angeschaut u. auf dem See gerudert. Hr. Bühr fragte Elsi, ob es in Churwalden auch einen See habe. Elsi nickte mit dem Kopf. Herr Bühr sagte, das sei kein See, es sei nur ein Fröschenweiher. Er fragte mich, ob in Niederurnen ein See sei. Ich sagte nein, nur Klunken [Pfützen], wenn es regne. Er fragte weiter, ob die Katholiken in Niederurnen auch Frösche fangen. Da war Seppli aufgeregt. Jetzt allüberall fangen die Katholiken Frösche. Von der Fastnacht bis Ostern dürften sie kein Fleisch von warmblütigen Tieren essen, nur Froschschenkel u. Fische. Das sind Fastenspeisen.

Seit längerer Zeit lag ein ehemaliger Zögling, Karl Anderegg, im Kantonsspital. Er litt an Lungenschwindsucht. Letzte Woche bekam er noch tuberkulöse Gehirnentzündung. Am Samstag schied er aus dem Leben. Seine Mutter kam. Sie übernachtete in der Anstalt. Morgen Nachmittag wird er auf dem hiesigen Friedhof bestattet. Karl hatte auch eine taubstumme Schwester, Hermine. Sie war 8 Jahre in der Anstalt. Kurz nach dem Austritt ist sie auch an Lungenschwindsucht gestorben. Sie wurde in Rheineck bestattet. Die Leichname der Geschwister sind getrennt. Ihre Seelen sind vereinigt bei Gott. Herr Bühr fragte uns, ob wir uns vor dem Tode fürchten. Wir sagten: im Gegenteil, wir fürchten uns nicht davor.

Liseli hat Pech gehabt. Die Buchbinderin hat ein Heft von Johann Gemperle zu Liselis Heften gebunden. Es ist schade. Jetzt sind beide Bücher verhunzt. Herr Bühr will sie der Buchbinderin zurückgeben. Sie muss sie ändern.

Hr. Bühr hat uns am Montag beim Mittagessen ein Eilein gezeigt. Rösli hat letzten Sommer 2 Kanarienvögel von Hrn. Tschudi, Waisenvater[,] geschenkt bekommen. Eines von ihnen ist ein Männchen[,] das andere ein Weibchen. Das Weibchen legte das Eilein. Rösli machte ein Nestlein u. legte das Eilein darein. Wenn das Weibchen 3 oder 4 Eier gelegt hat, stellt man das Nest in das Bauer. Dann brüten das Männchen u. das Weibchen die Eier miteinander aus. Nach einiger Zeit schlüpfen junge Kanarienvögelein aus.

Rösli hat am Dienstag vom Schlafsaal aus mit einer Bohnenstange ein Taubennest herabgestupft. Die Tauben gehört [sic] einem Herrn da unten an der Stauffacherstrasse. Er hat seine Freude an den Tauben. Er hat einen Taubenschlag. Einige Tauben fliegen oft an unser Haus. Sie sind wohl schöne u. nützliche Tierlein, aber sie fallen den Nachbarn zur Last, indem sie die Häuser beschmutzen. Immer sind die Gesimse voll Taubenmist. Wenn wir nur die anderen Nester auch herabstupfen könnten!

In der Multergasse kann man etwas Interessantes sehen. In dem Schaufenster eines Hutgeschäftes sieht man eine Aargauerin in der Tracht. Sie flickt Strohhüte. Es läuft ihr gut aus der Hand. Wir haben in der Geographie gelernt, im Kt. Aargau wird Strohhutflechterei getrieben. Warum hat der Ladenbesitzer eine arbeitende Strohhutflechterin ausgestellt? Er ist ein Schlaumeier. Er denkt, viele Leute werden vor dem Schaufenster stehen bleiben u. der Aargauerin zuschauen. Dabei werden sie die ausgestellten Hüte anschauen u. sich entschliessen, in den Laden zu gehen, um einen Hut zu erstehen. Die Aargauerin soll ein Lockvogel sein.

Letzte Woche hat Herr Bühr auf der Bank das Kapital von Liseli geholt. In früheren Jahren hat Hr. Bühr 50 fs. auf die Bank gelegt. Als er es abhob, waren es 63,25 fs. Also hat das Kapitälchen 13,25fs. Zins getragen. Wenn ich später einmal etwas erspare, will ich es auf die Bank tragen. Dort wächst das Kapital.

Am Mittwoch morgens [sic] gingen wir in das Pfarrhaus. Hr. Pfr. zeigte uns die Plätze, welche wir an der Konfirmation einnehmen müssen. Es sind 30 hörende Konfirmandinnen. Herr Pfarrer schenkt uns ein Gebetbuch. Herr Bühr bat ihn um 16 Karten für reservierte Plätze in der Kirche. Er schickte sie unseren Angehörigen.

Am Dienstag bekam Elsi Brügger das Konfirmationskleid. Es war höchste Zeit. Sie hat schon Angst gehabt, es komme überhaupt nicht mehr. Wenn es nicht gekommen wäre, wäre sie in der Tinte gewesen.

Gestern kam Fräulein Scherrer auf Besuch. Am Abend halfen sie u. Frl. Groth Fr. Bühr[,] die Sommerhüte garnieren. Bald wird Fräulein Scherrer nicht mehr in Romanshorn wohnen. In der Woche nach Ostern zügeln [ziehen um] Scherrers nach Zürich mit Sack u. Pack.

Herr Bühr bekam heute einen Brief von einem ehemaligen Zögling. Er ist ein Appenzeller von Trogen. Vor vielen Jahren ist er mit seinem Vater als Käser nach Russland übersiedelt. Der Brief wurde am 19. Febr. abgeschickt. Er braucht fast zwei volle Monate. Er musste eine lange Reise machen über Schweden, um England, durch Frankreich [Wort gestrichen], bis er sein Ziel erreichte.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Tagebuch) und P 909, 02.03.1916 (Inserat aus dem St.Galler Tagblatt)

Sonntag, 9. April 1916 – Prächtiges Wetter, grosse Wäsche und ein Ausflug in den Wildpark

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Am Sonntag spazierte Herr Bühr mit seiner Familie nach Peter u. Paul. Er erzählte uns, er habe vor einiger Zeit im Tagblatt gelesen, die Moufflonschafe haben Junge bekommen. Es sind 3 Stück; es seien possierliche Tierlein. Der Artikelschreiber bemerkte dazu, es sei doch ein gewaltiger Unterschied in der Entwicklung eines jungen Menschen u. eines solchen Tierchens. Ein solches Tierlein kann einen Tag nach der Geburt schon herumgumpen u. selber Futter suchen u. mit den anderen spielen, während ein junger Mensch 1-2 Jahre braucht, bis er laufen kann. Die Familie Bühr sah auch einige junge Steinböcke u. ein junges Rehböcklein. Es hatte wahrscheinlich seine Mutter verloren. Der Wärter kam. Er hatte eine Saugflasche mit Milch in der Hand. Er rief: „Wo ist der Bubi, komm, komm, Bubi.“ Das Rehböcklein gumpte herbei u. trank die Milch. Es war schnell fertig damit. Das war ein lustiger Anblick. – Wir Mädchen machten einen schönen Spaziergang nach Abtwil über St. Josephen u. über die Hängebrücke heim. Als wir über die Brücke kamen, schwankte sie. Einige Mädchen waren ängstlich.

Am Montag wurde Anton Vogler aus dem Spital entlassen. Der Sanitäter Hr. Giger muss weiter mit ihm üben, bis der Arm wieder beweglich ist. Die Ärzte haben immer noch nicht herausgefunden, was Anton eigentlich fehlt. Auf der photographischen Platte sieht man keinen Bruch.

Am Dienstag hatten wir keine Schule. Es war prächtiges Wetter. Wir hatten grosse Wäsche. Die Vorhänge vom ganzen Haus, die Tischdecken, die Bettüberwürfe u. andere Sachen wurden gewaschen. Am Abend war alles fix u. fertig, bis auf das Bügeln.

Am Donnerstag u. gestern kamen die Glätterinnen u. legten die letzte Hand an.

Wir haben wieder eine neue Patientin, Frl. Müller. Sie wurde von der Influenza gepackt. Vielleicht kommt jetzt die ganze Lehrerschaft an die Reihe. Als ich erzählen wollte, dass Frl. Groth auch nicht ganz wohl sei, da sagte Herr Bühr, ich soll schweigen. Man dürfe dem Wolf nicht rufen, sonst komme er.

Am Donnerstag u. gestern haben wir Leintücher gesäumt u. gezeichnet. Frau Bühr hat 62 m Stoff gekauft. Es gab 26 Leintücher. Zu einem Leintuch braucht es rund 2,40 m. Wir sind jetzt fertig damit.

Am Montag hatten wir von 2 Geistlichen Besuch. Zuerst kam der katholische Religionslehrer, Hr. Pfr. Bärlocher. Er hat jetzt gerade Ferien. Er will alle Klassen besuchen, um zu lernen, wie man die Taubstummen unter[r]ichtet. Kaum war er hinausgegangen, da kam Herr Pfr. Hauri. Er prüpfte [sic] uns Konfirmandinnen. Nächsten Mittwoch nach 7 Uhr gehen wir in das Pfarrhaus. Hr. Pfr. will uns die Plätze zeigen, welche wir bei der Konfirmation einnehmen müssen.

Die Familie Bühr bekam gestern eine Karte von Willi aus Zürich. Willi macht mit den Pfadfindern eine grosse Fussreise. Sie marschierten nach Ermatingen, nach Stein a/Rh., Schaffhausen, Eglisau, Brugg u. nach Zürich. Heute marschieren sie am Zürichsee entlang nach Rapperswil. Vor einiger Zeit schickte er eine Karte von Mammern. Er schrieb, er habe in einem Kurhotel 3 Stierenaugen [Spiegeleier] 2 Portionen Fleisch u. eine Flasche alkoholfreien Wein in seinen Magen befördert. Die Pfadfinder haben eine Woche lang schönes Wetter gehabt. Das Glück hat ihnen gelächelt. Heute haben Willi u. Hans den Geburtstag. Willi kann ihn in Rapperswil feiern.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Tagebuch) und ZMA 18/01.09-01 (Ausschnitt aus einer Ansichtskarte, Postkarten-Verlag Künzli, Zürich, Dep. No. 1122, 1903)

Samstag, 1. April 1916 – Hottentottenpotentaten-tantenattentäter in der Sprachheilschule

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Herr Bühr hat uns ein neues Wort gelehrt. Es heisst: Hottentottenpotentatentantenattentäter. Das ist eine gute Übung für die Zunge.

Am Sonntag machte ich Besuch in Lachen. Ich brachte ein Sträusschen Märzensternen [sic] heim. In Stein im Kt. Appenzell hat es viele Märzensterne auf den Wiesen. Wenn der März kommt, ziehen die Leute in Scharen nach Stein, um Märzensterne zu grasen. Wir haben auf dem Spaziergang wahrgenommen, dass 3 Kinder einen Haufen Märzensterne abgegrast hatten. Das ist eine Versündigung an der Natur. In einigen Jahren hat es in Stein keine Märzensterne mehr. Früher gab es in St. Gallen in den Wäldern eine sehr schöne Blume, Frauenschuh. Sie wurde von den Leuten ausgerottet. Jetzt gibt es gar keine mehr. Früher gab es in der Schweiz viele alte, dicke Bäume. Sie wurden umgehauen u. dann verkauft. Es ist schade um die schönen Bäume. In den Alpen lebten viele Adler, Hirsche, Steinböcke, Rehe, Gemsen u. andere Geschöpfe. Sie sind von den Jägern niedergeknallt worden. Viele alte, schöne Häuser wurden niedergerissen. Die Leute sagten, sie seien Verkehrshindernisse. Darum gründete man einen Naturschutzverein. Dann werden die Natur u. die Heimat geschützt vor den Naturräubern. Herr Bühr zeigte uns viele Bilder von den alten, schönen Häusern von St.Gallen.

Fr. Groth bekam eine Nachricht von Frl. Scherrer. Morgen kommt sie nach St. Gallen. Sie lässt sich bei Hrn. Dr. Bärlocher untersuchen. Bei dieser Gelegenheit macht sie in der Anstalt einen Besuch. Wir freuten uns auf das Wiedersehen. Es nimmt uns wunder, wie es [sic] Frl. Scherrer aussieht. Ich glaube, sie wurde von der Sonne gebräunt. Sie musste in Davos viel an der Sonne liegen. Die Sonne heilt die Lungen. Die Bündner haben eine besondere Sonne. Sie ist nocht [sic] so verschämt, wie die St.Galler. In St.Gallen scheint die Sonne nicht oft. Sie versteckt sich oft hinter den Wolken.

Heute u. morgen finden die Examen in der Stadt statt. Nachher beginnen die Ferien.

Familie Bühr hat jetzt einen Gast. Als Frau Bühr von Mattstetten zurückkehrte, brachte sie eine Nichte mit. Sie sieht Trudi Bühr ähnlich, nur ist diese am Gesicht u. am Körper schmäler, ihre Cousine breiter u. fester. Die Cousine spielt allein. Sie darf bald mit den Kindern spielen u. herumtollen.

Gestern hatten wir Sturm. Er hat in den Schlafsäälen [sic] Decken u. Kopfkissen auf den Boden geworfen. In Frl. Groths Alkoven hat er übel gehaust. Er hat 3 Bilder von den Wänden gerissen u. zertrümmert. Das war ein toller Geselle.

Am Donnerstag holte Willi Bühr eine Kiste auf dem Expressgut. Darin waren 4 Kaninchen, 3 weisse u. ein graues. Onkel Fritz in Mattstetten, der Vater von Trudi Gfeller, schenkte sie den Kindern, dass sie etwas zu tun haben. Willi u. Hans konnten die Sendung fast nicht erwarten. Willi fragte in den letzten Tagen hundert- u. aberhundertmal, ob sie jetzt bald kommen. Er reckte sich fast den Hals aus nach dem Bahnfuhrwerk. Er glaubte, das Bahnfuhrwerk bringe sie. Diese Woche musste Anton Vogler in den Spital gebracht werden. Sein Arm ist steif. Er kann ihn fast nicht biegen. Er wird im Spital geübt. Eine Schwester muss ihn so lange mit Gewalt zurückbiegen, bis er die Beweglichkeit erlangt hat. Er wird narkotisiert, damit er die Schmerzen nicht spürt. Diese Woche wurde er mit Röntgenstrahlen photographiert. Die Ärzte finden nicht recht heraus, wo es fehlt.

Wir haben heute eine Schülerin weniger in unserer Klasse. Gestern Abend ging Seppli mit der Mutter heim. Ihre Schwester Vreneli ist endlich von ihrem Leiden erlöst worden. Die Mutter nimmt die Leiche nach Rheineck. Sie will das Kind dort begraben lassen, damit sie das Grab öfters besuchen kann. Wenn Vreneli in St. Gallen begraben würde, so könnten die Angehörigen das Grab nicht so oft besuchen. Auch wäre jeder Besuch mit Kosten verknüpft.

Wir haben im Mädchenuaus wieder eine neue Patientin, Frl. Baur. Sie ist zum zweitenmal an Influenza erkrankt. Wahrscheinlich ist sie nach dem erstenmal zu früh aufgestanden u. zu früh an die Arbeit gegangen. Die Influenza ist eine heimtückische Krankheit.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Text) und W 238/06.09-36 (Ansichtskarte von 1910, Verlag und Lithograph: Artist Atelier H. Guggenheim & Co., Editeurs, Zürich, No. 6920 Dép.)

 

Sonntag, 26. März 1916 – Das Blech wird rar, und die Heilsarmee besucht die Taubstummenanstalt

Tagebucheintrag von Emma Graf, Schülerin der Taubstummenanstalt St.Gallen (heutige Sprachheilschule St.Gallen), geboren 1900:

Am Sonntag machten die Mädchen einen weiten Spaziergang an Wittenbach vorbei, über Kronbühl u. Heiligkreuz, durch die Langgasse u. auf der Doufurstrasse [sic] heim. Das Wetter war sehr schön. Viele Leute waren auf den Beinen. Es hat überall schon Blumen in Hülle u. Fülle. Die Mädchen haben auch gegrast, also ob sie daheim einen Stall voll Kühe hätten. – Am Nachmittag durfte ich mit Seppli ihre Schwester im Spital besuchen. Ihre Mutter war schon dort, als wir kamen. Wir sahen, dass Vreneli totenblass aussah. Vreneli schläft jetzt im Schlafzimmer der Krankenwärterin. Wir waren nur kurze Zeit bei ihr. Dann gingen wir hinaus. Als wir […] draussen im Gang waren, kam ein Krankenwagen. Ein Knabe wurde in den Spital verbracht. Er hat meines Wissens Blinddarmentzündung.

Am Abend vor 7 Uhr kamen 3 Salutistinnen [Mitglieder der Heilsarmee] in unseren Hof. Eine hatte eine Zupfgeige (eine Gitarre). Sie wollte uns ein Lied singen. Sie glaubte, wir hören es. Frl. Müller aber sagte, wir seien taub. Da sang sie nicht. Die Heilsarmee tut viel gute Werke. Sie rettet Trinker u. gefallene Mädchen. Sie baut Häuser für die armen Leute, die keine Wohnung haben. Sie baut Volksküchen, wo die armen Leute billiges Essen kaufen können. Woher nimmt sie das Geld? Sie bettelt es zusammen. Ich möchte keine Salutistin sein. Ich möchte nicht gerne in einer Uniform mit der Zupfgeige herumlaufen auf den Strassen u. in den Wirtschaften fromme Lieder singen. Ich will aber die Heilsarmee nicht verspotten. Ich will sie achten. Die Salutisten u. Salutistinnen haben Mut u. tun viel Gutes.

Am Montag sagte ich in der Schule wieder einmal „mutzte“ anstatt musste. Hr. Bühr sagte, ich sei ein guter Mutz. Da erzählte er uns, die Bären im Bärengraben haben Junge bekommen. Sie haben sie mit Haut u. Haar aufgefressen. Hr. Bühr sagte, ich dürfte nicht zu den Mutzen gehen. Sonst würden sie mich rübis u. stübis auffressen bis auf den Stiel.

Bertha Schär bekam am Dienstag Besuch von ihrem Vormund. Sie hat keine Eltern mehr. Sie ist Herrn Scherre[r]s Mündel. Der Vormund ist der Stellvertreter ihrer Eltern. Herr Scherrer wollte sehen, ob Bertha Fortschritte mache. Wenn sie 18 Jahre alt, ist sie volljährig. Aber sie wird nie mündig, weil sie schwachsinnig ist. Die Töchter werden mit 18 Jahren volljährig, die Söhne mit 20. Wer sich aber nicht brav hält, wird unter Vormundschaft gestellt.

Am Dienstag war der Frühlingsanfang im Kalender. In der Natur draussen hat der Frühling schon vor einiger Zeit angefangen. Unsere Spalierbirnen blühen bald. Unsere Kastanienbäume sind voll Knospen. Sie springen bald auf. Im April gibt es Blätter. Da unten in einem Garten neben dem kleinen Park steht ein Baum in voller Blüte. Die Tage werden immer länger. Die Sonne geht immer früher auf u. immer später unter. Am 21. Juni haben wir dann den längsten Tag.

Diese Woche brachte das Bahnfuhrwerk eine Kanne flüssige Seife. Es sind 10 kg. 1 kg kostete 90 Rp. Die Blechkanne kostet 2 fs. Herr Bühr will sie wieder zurückschicken. Er bezahlt nur 9 Fr. Der Fabrikant ist sehr froh, wenn er die Blechkanne wieder bekommt. Er schrieb, es habe Mangel an Blechkannen. Das Bahnfuhrwerk brachte eine Kiste Nudeln u. eine Kiste Makkaroni. Es sind zusammen 98 kg. 1 kg kostet jetzt 82 kg [sic, wohl Verschreiber für Rp.].

Am Dienstag machte Willis Klasse den Letzispaziergang. Sie gingen nach Arbon. Am Morgen glaubte man, das Wetter sei ordentlich. Als am Nachmittag um 1 Uhr die Buben abmarschierten, fing es leicht an zu regnen. Es machte so fort bis am Abend. Die Buben waren dennoch guter Dinge. Willi musste mit seiner Trommel vorausmarschieren u. kübeln.

Am Mittwoch schrieben wir die Wunschzettel für die Ostern. Jedes Mädchen durfte Schokolade, Ostereier, ein Haarband u. ausserdem noch etwas Besonderes wünschen. Ich wünschte mir Stecknadeln oder ein Taschenmesser. Nächste Woche muss Herr Bühr den Kommissionsdamen den Wunschzettel schicken. Sie werden miteinander beraten, ob sie unsere Wünsche erfüllen können oder nicht. In erster Linie werden sie ihr Portemonnaie zu Rate ziehen.

Am Nachmittag stattete Seppli [ihrer Schwester] Vreneli einen kurzen Besuch ab. Es geht ihr nicht gut. Frl. Doktor glaubte am Dienstag, sie liege in den letzten Zügen. Sie telephonierte der Mutter. Diese kam herbei, um ihrem Kinde im Sterben beizustehen. Aber Vreneli lebt immer noch. Es kann aber nicht mehr lange gehen, bis sie von ihrem Leiden befreit ist. Der Tod bedeutet für sie eine Erlösung.

Am Donnerstag Abend zwischen 5-6 Uhr regnete es. Der Regen ging bald über in Hagel. Es fiel[en] aber keine grossen Körner. Solche Niederschläge nennt man Riesel. Es rieselte.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 206 (Tagebuchtext) und ZMH 64/103e (Briefkopf der Seifen-, Soda- und Fettwaren-Fabriken, Lachen b. St.Gallen und Zug, 1913)