Musterbeispiel

Mittwoch, 18. Dezember 1918 – Folgen der Grippe

Fraefel & Co. mit Hauptsitz in St.Gallen war 1883 gegründet worden.  Die «Anstalt für kirchliche Kunst» stellte (s. Beitragsbild), bei weitem nicht nur Artikel für den liturgischen Gebrauch her. Bereits 1888 exportierte sie Produkte nach Deutschland und in die USA. Von 1912 bis 1929 besass sie Niederlassungen in Toledo (Ohio, USA), Chicago und New York.

Der im nachstehenden Brief angesprochene und hier abgebildete, 1888 geborene Gallus Fraefel war in die USA ausgewandert und lebte in Toledo (Ohio):

Gallus Fraefel

St.Gallen, den 18. Dez. 18.

Lieber Gallus!

Bestätige dankend Deine beiden Briefe v. 18. Okt. & 16[.] Nov. Diese Briefe sind etw. spät eingetroffen. Den Brief an Wellauer adressiert habe ich erhalten & brauchst keine Sorge darüber zu haben. Dass ich Deine Briefe nicht sofort beantwortete[,] war Schuld meiner Krankheit (Grippe)[.] War im Spital[,] hernach in der unteren [sic] Waid b. Mörschwil & bin hoffentl. wieder auskuriert. Doch muss ich noch sehr vorsichtig sein & bin auch noch sehr müde & schwach[.] Deine 5 Photos habe ich auch erhalten[.] [Es] Erfreut mich Dein guter Gesundheitszustand. Die geschäftl. Lage hier in St.G. ist allerdings kritisch, immerhin ist[‹]s noch zum aushalten [sic,] da wir jetzt doch den Frieden vor uns haben[.]

Alfons Fraefel

Mit Alfons [s. Bild nebenan] ist es nun so: Wegen Krankheit v. ihm selbst & nachträgl. seinen Stickerinnen kam sein Geschäft in grosse Stockung[,] was ihn finanziel[l] derart hernahm[,] dass er alle Hoffnung aufgab. Er entlies[s] seine Arbeitskräfte & war in Schulden[.] Dagegen machte er den grossen Fehler, dass er Vater zwingen wollte[,] den Erbteil der Mutter auszuhändigen & steckte das alles hinter einen Advokaten. Das ist natürlich ganz unschön v. ihm & Vater hatte viel verdruss [sic]. Ich stand letzterem bei & ging dann n. Zürich[,] um Alfons ins Gebet zu nehmen. Mit Mühe gelang es uns[,] einig zu werden & Vater hat ihm 1000 fr. gegeben mit der schriftl. Verpflichtung, dass Alf. auf diesen Erbteil verzichte. Für was sich Vater aber weiterhin verpflichtet hat, das muss ich erst noch fragen. War eben in letzter Zeit wegen d. Grippe von allem weg & konnte keine Aktionen übernehmen[.] Gegenwärtig (vor Weihnachten) hat Alf. sehr viel Arbeit & wie es nachher dann wieder wird, weiss ich nicht. Es wird auch gehen. Einzig das war gar nicht recht, dass er es mit Vater so gemacht hat. (Vater war gestern wieder da & hatte keine Grippe.[)] Schädler & Wellauer haben wohl auch eine Krisis[.] Sie sind freundl. mit mir & ersterer hat mir nach dem Rummel erzählt[,] wie es damals ging. Schädler ist ja ziehml. [sic] vernünftig, dagegen Wellauer war die Triebfeder & der Grobian.

Nun Schluss f. heute & hoffe[,] Du bleibest gesund & stellst Dich finanziell auch bald wieder besser. Mache[,] dass Du gros[s] & fest wirst & spare kein Essen in dieser Zeit, wenn man presentieren [sic] will.

Mit herzl[.] Gruss Dein Bruder Willy.

Auch zum Absender des Briefs gibt es im Familien- und Firmenarchiv Fraefel, das sich im Staatsarchiv St.Gallen befindet, Fotos:

Willy Fraefel

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 318/2.1 (Korrespondenz Willy Fraefel, 1914-1924) sowie W 318/2.2-11.7 (Willy Fraefel, geb. 1890), W 318/2.2-11.10-02 (Gallus Fraefel, geb. 1888), W 318/2.2-11.8  (Alfons Fraefel, geb. 1891, Bild von 1905) und W 318/1.2-05 (Beitragsbild, Vereinsfahne, hergestellt von der Firma Fraefel)

Maria Wenner 1913 und 1922

Dienstag, 17. Dezember 1918 – Erste Weihnachtswünsche

Maria Wenner-Andreae erhielt Weihnachtspost von ihrem Vater, Alexander Andreae (1846-1926). Sie war die zweitjüngste Tochter aus seiner zweiten Ehe mit Johanna Broecker, hatte vier Geschwister und fünf Halbgeschwister (aus der ersten Ehe ihres Vaters mit der 1883 verstorbenen Lily Stumpf). Das erste Porträt zeigt sie 1913 bei ihrer Verlobung, das zweite 1922 nach dem Krieg.

Der Brief enthielt auch diverse Mitteilungen zu anderen Familienmitgliedern.

Milano, li 17.12.1918

Geliebte Kinder & Kindeskinder.

Da noch allerlei dazwischen kommen könnte, will ich schon heute meine allerherzlichsten Weihnachtswünsche an Euch richten, in der stillen Hoffnung, dass Ihr Alle [sic] dies schwere Fest ohne irgendwelche Störung und recht friedvoll & freudenreich werdet vollbringen können! –

Gina wird es dem Christkinde abnehmen[,] Euch auch einige kleine Gaben in unserem Namen auf den Weihnachtstisch zu legen, da werden sicher unsere Gedanken auch dort sein und Antheil an Eurer Weihnachtsstimmung nehmen. –

Gott Lob fühlt auch die gute Mama sich wiedeer ein wenig kräftiger, die letz[t]e Zeit war ihr Puls ja wieder sehr schlecht & ihre Stimmung sehr gedrückt, das bleibt ja für uns leider eine grosse Sorge.

Heute empfing ich Alex’ens Brief vom 14 ct, worin er mir schreibt, dass er hoffe[,] den 23 o 24 ct bei uns zu sein[;] hoffentlich kommt er nicht zu spät.

Hans kam gestern recht erregt Abends [sic] nach hause [sic], weil man ihm f. Ende Januar gekündigt hat, H Stoppani erlaubt der neue Chef nicht einmal mehr[,] in die Fabrik zu kommen. Das ist nun auch wieder eine Sorge mehr für Hans & uns. Für Landwirthschaft hat er keine Lust, er hätte sich s. Zt. dazu bringen lassen[,] nur um den Eltern nicht zu widersprechen. Wolle Gott, dass bald was Richtiges für ihn finde: Lili schuftete sich gehoerig ab für Hans, für’s Asil, die Weihnachtsgaben für die Schwestern, übt auch mit diesen Choräle ein, & für das Home etc[.] dabei [sic] kommen nur zu oft Frau Conti, Fräulein [unlesbar, Pachou?], die Sängerin & Abends [sic] sitzt sie bis spät in ihrem Schlafzimmer, um noch «Stickereien» für Mama zu vollenden. Hoffentlich kappt sie uns nicht zusammen. – Von Pima kam heute ein Bericht, wonach es ihr besser geht, aber Erminio sei noch recht kopfmüde [sic] und habe viel verlernt. – Auch von August kam ein ½ englisch, ½ deutsch geschriebener Brief, den er im Mai angefangen, Mitte November fortgeschickt hat. Es sind 2 englische, socialistische Gedichte darin, die er einer Sozialistisch [?] Zeitung schickte. Povero Augusto, wenn er nur seine Weltverbesserung mit sich anfangen wollte. Er schreibt[,] dass er sich ein neues Haus baue, um es zu vermieten an Sommerfrischler, das Geld dazu nehme er aus dem Verkauf eines Theiles seines Terrains, das wird er am Ende nach und nach verbuttern? – Mit Minna ist er noch nicht versöhnt, faselt noch von Scheidung, es gaebe genug netter, junger Mädchen dort, die ihn gleich nähmen. – Zia Claudia hatte leider auch wieder eine Bronchitis, ihrer Teresa gab sie sechsfachen Monatsgehalt, die Entlassung & bin ich froh[,] diese unverschämte Person nicht mehr empfangen zu müssen.

Gina bitte ich auch[,] den verehrten Eltern Wenner, und der l. Silvia, Fatios, Schlaepfers meine besten Festwünsche auszusprechen. Mama & Lili wollen ja auch noch direct schreiben. So empfanget von mir Küsse & Grüsse in Hülle & Fülle.

Euer Euch sehr liebender

Papa.

Pima war die familieninterne Abkürzung und der Kosename von Pauline Maria Andreae-Andreae (1873-1953). Sie war die älteste Tochter von Alexander und Lily Andreae-Stumpf und ab 1891 mit einem Vetter ihres Vaters, Conrad Andreae (1863-1947) verheiratet. Conrad Andreae war Bankier in Frankfurt und deutscher Konsul in Genua. Die Villa des Ehepaars in Rapallo bildete einen Mittelpunkt des Gesellschaftslebens. Hier waren u.a. auch Cosima und Siegfried Wagner, Gerhart Hauptmann sowie Kurban Said (Essad Bey) zu Gast.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/128.1.1918 (Korrespondenz Fritz und Maria Wenner-Andreae) und W 054/129.1 (Beitragsbild aus Fotoalbum Fritz und Maria Wenner-Andreae)

Dorfplatz in Zuoz, 1915

Donnerstag, 5. Dezember 1918 – Noch ein Schwesternbrief

Auch Adele Berner-Wenner schrieb ihrer Schwester Silvia (vgl. Beitrag zum 3. Dezember 1918). Die Themen sind ähnlich wie im letzten Brief, es geht um den offenbar unzuverlässigen Postverkehr zwischen Italien und der Schweiz in den letzten Kriegstagen, um die Grippe und um einen allgemeinen Austausch über das Wohlergehen der weit verstreuten Familienmitglieder. Die verwitwete, alleinerziehende Adele Berner-Wenner erwähnt auch ihren Sohn, Alex, zu dem in früheren Beiträgen einiges zu erfahren war (vgl. Artikel zum 9. Juni 1917, 22. August 1917, 11. September 1917, 6. Oktober 1917 und 27. November 1917):

«Les Magnolias», Montreux, 5. Dec. 1918

Meine liebe Silvia, zwei liebe Briefe habe ich von Dir bekommen, während ich jetzt im Bellevue war, für die ich Dir sehr danke. Bitte sage auch Mama[,] dass ich ihr viel, vielmals für ihre beiden Briefe danke. Wir waren diesmal manche Woche ohne Nachrichten von Euch gewesen, & war es darum eine doppelt grosse Freude, als all› die lb. Briefe anlangten. – Es tut mir so leid zu hören[,] dass Fritz sich so langsam von der Grippe erholt, & noch recht angegriffen sei; hoffentlich hat er guten Appetit & kann sich wieder recht auffüttern. – Es war mir gar nicht recht[,] dass ich nur so spät auf Eure Geburtstage geschrieben habe, ich fürchte[,] dass die Briefe auch noch recht lang unterwegs waren. – Nachdem diesen Herbst so manches anders gegangen war, als ich erwartet hatte, so hat sich dann doch noch alles so gut gefügt. Ich konnte am 19[.] Nov. doch noch einmal nach Bellevue fahren & war sogar noch 3 Tage mit Alex zusammen dort. Für Alex war es gewiss viel besser[,] dass ich über seine Ferien nicht da war, denn er giebt sich immer viel natürlicher[,] wenn ich nicht dabei bin, & so hat er sich viel mehr an Pauls [gemeint ist die Familie von Paul] angeschlossen, was mich vollständig mit meiner Grippe ausgesöhnt hat. Man sah ihm an[,] wie sehr er die Ferien genossen hat, es hat ihm so gut getan[,] nach mehr wie [sic] 1 Jahr wieder eine Zeit in einem Heim zu verbringen. Nachdem Alex weg war[,] blieb ich noch 1 Woche, bis zum letzten Samstag bei Pauls, & habe es noch furchtbar genossen. Es war diesesmal [sic] besonders gemütlich, weil Paul ein System herausgefunden hatte, wie man mit wenig Holz den calorifère anheizen konnte, um den salon [sic] ganz schön warm zu bekommen, & das Treppenhaus vollständig zu temperieren. Es ist aber auch dieses Jahr viel weniger kalt als das letzte, was ich ungemein geniesse, denn um diese Zeit hatte man schon 2 Monate wirklich gefroren. – Am Samstag kam ich hieher, & fuhr von Lausanne nach Vevey mit Frau Ella’s Mann zusammen, was mich sehr freute. Gaspard’s geht es gut, & er erträgt die grosse Arbeit, die alle Aerzte wegen dieser langen Epidemie haben, recht gut. Die Grippe hatte schon abgenommen, als man leider wieder mobilisieren musste, & da ist sie wieder stark aufgeflackert. Es sind jetzt hunderte von unseren Soldaten & Offizieren in Glion zur Erholung. Das Wetter ist prachtvoll & sonnig. Ich wollte eigentlich nur bis heute bleiben, aber da morgen Pauls kommen, & den Nachm. & die Nacht hier bleiben, da sie am Samstag weiter fahren, so habe ich gern noch 2 Tage zugegeben. Das Reisen ist jetzt recht schlimm. Ich werde um 7 Uhr den Tram nach Vevey & dort die Bahn nach Chexbres nehmen müssen, um den Zug von Lausanne zu treffen, & dann komme ich um 5 Uhr an; anders geht es nicht. Aber man will das gern ertragen, in der Hoffnung[,] dass bald wieder bessere Zeiten kommen, & unser Schweizerland auch wieder den inneren Frieden erlangen wird. – Wenn Du die Collecte für die Zambézias [?] machen wolltest, so wäre es mir sehr recht, & ich hoffe[,] Du könnest das notwendige aus den Büchern ersehen. Du wirst sehen[,] dass die Beiträge zu L. 6.- meistens in 2malen, im Frühling und Herbst eingezogen sind, da es den Leuten so lieber ist.

Ich werde Dich im nächsten Brief gern bitten[,] einige Weihnachtsgeschenke für mich auszuteilen, & bin Dir sehr dankbar für Deine Mühe. – Alex schreibt, dass man sie sehr streng arbeiten lasse, & dass man vom 26. bis 31. Dec. wahrscheinlich Schule halten werde, & so gehen wir wo[h]l nicht mehr nach Zuoz. Wie sehr werde ich wieder an Euch alle denken in den Weihnachtstagen, wie ein Traum kommt mir manchmal dieses ganze Jahr vor. Ich bin heute seit 11½ mit Lise allein zu Hause, das Gaspard’s bis zum Abend in Lausanne sind. Marcelle interessiert sich immer so für alles, dass man nie fertig ist mit erzählen & reden. – Ich habe mich Gottlob [sic] sehr gut erholt & fühle mich nun viel wohler als im Herbst. Grüsse Eltern & Geschwister & die Bübchen sehr herzlich & sei Du selbst von Herzen umarmt von Deiner Schwester Adele Berner.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/127.4.2 (Korrespondenz Silvia Wenner) und W 132/2-112 (Beitragsbild: Album Gebirgsschützenbataillon 8: Aktivdienst 1914-1918, Dorfplatz von Zuoz, 1915)

Lily Wenner

Dienstag, 3. Dezember 1918 – Zwischendurch hatte ich eben die Grippe …

Korrespondenz zwischen den Schwestern Lily Wenner (1877-1959, Beitragsbild) und Silvia Wenner (Bild unten im Beitrag):

3. Dezember 1918

Meine liebe Silvia

Vorgestern brachte mir die Post Deinen lieben Brief & Mamas Fortsetzung von ihrem Brief vom 2. Nov. Euch beiden viel[en,] viel[en] herzlichen Dank. Wie sehr habe ich mich über alles gefreut, besonders dass es Euch Lieben allen wieder gut geht. Ja, Du hast sehr recht, mein liebes Kleinsele, wenn das Aneinanderdenken einem näher rückte, dann wären wir gewiss schon längst beisammen, denn dann hätten auch meine Gedanken schon eine gehörige Anzahl von Kilometern zurückgelegt. Hoffentlich haben wir nun aber bald diese Gedankenwanderung hinter uns & bringt das neue Jahr auch ein frohes Wiedersehen!

Du sagst, Ihr hättet schon so lange nichts mehr von mir gehört, hast Du vorher meinen Brief vom 26. Oktober nicht erhalten? Das wäre mir leid! Ferner muss noch ein Brief von Mama vom 24. Nov. unterwegs sein. Zwischendurch hatte ich eben die Grippe & war gute 14 Tage zu nichts Gescheitem zu gebrauchen. Zum Glück bin ich aber längst wieder ganz wohl. Bei der Gelegenheit ist es nur klar geworden, dass ich, in der ganzen langen Zeit, die ich hier wohne, noch nie auch  nur im Bett gefrühstückt  hatte, wofür ich nicht dankbar genug sein kann. Da kannst [Du] Dir aber auch denken[,] was es für einen Eindruck machte, als ich nun wirklich einmal zu Bett bleiben musste. Ich kann gar nicht sagen[,] wie rührend lieb ich von allen Seiten gepflegt wurde! – Aber nun muss ich Dir noch ganz besonders herzlich für Dein reizendes Bild danken. Ich finde es ganz ausgezeichnet, also, weisst Du Kleinsele, picfein [sic]. Ich habe grosse, grosse Freude daran. Es ist ein herrlicher Zuwachs zu der Bildergallerie [sic] auf meinem Schreibtisch, die mein Zimmer so heimelig macht. Auch die Bilder der Kinder & ihrer Mütter sind reizend. – Hier geht es wie es eben gehen kann, gesundheitlich, zum Glück, soweit gut. Leider haben wir gestern die Nachricht bekommen, dass Anna nicht mehr an ihrem bisherigen Aufenthaltsort bleiben kann & einstweilen auch nicht dahin ziehen[,] wo Du sie zuletzt im Sanatorium besucht hast. Somit werden sie & ihr Fräulein nächste Woche auf unbestimmte Zeit hier erscheinen[,] was uns natürlich etwas zu denken gibt. Hoffentlich geht es ruhig ab, aber eine grosse Erschwerung des an und für sich schon nicht leichten Lebens ist es eben doch. Wenn es nur nicht lange dauert. – Nun ist mein Papier wieder zu Ende und ich schliesse daher mit meinen allerherzlichsten Grüssen für Euch Alle Gross & Klein. Den Eltern sage ganz besonders innige Grüsse. Auch meine Umgebung grüsst vielmals. – Dich selbst aber umarmt in treuer Liebe Deine so viel an Euch denkende Schwester Lily Wenner.

«Kleinsele» war der familieninterne Kosename für Silvia Wenner (1886-1968, ab 1925 verheiratet mit Hermann Ochsenbein). Der Kosename kommt auch in anderen Briefen an sie vor, vgl. die Beiträge zum 11. September 1917 und zum 24. Juli 1918. Hier ein undatiertes Porträt von ihr:

Silvia Wenner

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/127.4.2 (Korrespondenz Silvia Wenner) und W 054/124.9.8b (Beitragsbild, Lily Wenner, um 1920) sowie W 054/127.9.3d (Silvia Wenner, undatiert)

Emily und Paul Fatio-Wenner

Mittwoch, 27. November 1918 – Generalstreik und Grippe aus Sicht einer bürgerlichen Frau

In ihrem Brief an Silvia Wenner berichtete Emily Fatio-Wenner (1881-1961) unter anderem vom landesweiten Generalstreik vom November 1918 in der Schweiz:

[Randnotiz:] Erhalten i. Fratte

Bellevue près Genève, Mittwoch, 27/II-1918

Meine liebe Silvia

Soeben erhalte ich Mama’s l. Brief vom 5. Nov., sowie den Deinigen vom 9. & Deine Karte vom 14. Tausend Dank Euch Allen, wir sind froh & dankbar um die guten Berichte. Seit mehr als 3 Wochen wussten wir nichts mehr von Euch & fingen an[,] etwas besorgt zu sein. Ja, welch grosse, unglaubliche Ereignisse erleben wir! In der ganzen Schweiz ist die Freude u. Dankbarkeit gross! – Wir durchlebten recht angstvolle Tage, die die Unruhen & die grève générale [Generalstreik] bringen. Aber wie ein Mann stellte sich das ganze Land, die Truppen strömten herbei wie vor 4 Jahren, ein Jeder aus allen Ständen gleich fest entschlossen[,] bis zum äussersten seine Pflicht zu tun. Dank dieser Einigkeit & diesem festen individuellen Auftreten, ist man ja auch merkwürdig rasch der Bewegung Meister geworden. Aber welche Empörung in aller Herzen zurückgeblieben ist, sehen die fremden Elemente [nicht], die zu uns herübergeschickt worden sind[,] um mit Geld und allen erdenklichen schändlichen Mitteln Aufruhr zu stiften, im Augenblick[,] wo die Niederlage nicht mehr zu umgehen war, das kannst Du Dir kaum denken! Es kocht nur so bei jung & alt, & jedes Fünkchen Sympathie ist vergangen. Zu vieles ist an’s Tageslicht gekommen! – Paul stellte sich gleich am ersten Morgen der Tramdirektion, & fuhr gleich mit einem Tram als erster auf unserer Linie Molard-Genève. Du hättest dieses Erstaunen sehen sollen (es wagte aber niemand zu mu[c]ksen[)]. Am nächsten Tag präsentierten sich zwei Andere, & so machte er dann den vollen Dienst wä[h]rend zwei Tagen. Noch viele andere Herren hier versahen ähnliche Dienste, was ohne Ausnahme hochgeschätzt wurde. –

Leider forderte die Mobilisation die unter so schwierigen Transportbedingungen vor sich gehen musste sehr viele Opfer. Fortwährend hört man von neuen Todesfällen durch die Grippe, es ist ein Jammer. Unter der Zivilbevölkerung hat die Krankheit stark abgenommen. Bei Guillaume’s hatten sie Nola [?] und Victor seit 3 Tg. seitdem er aus dem Dienst zurück ist. Es geht ihnen aber befriedigend. – Hier zu Hause sind wir alle wo[h]l & können nicht dankbar genug darüber sein. – Adèle kam am 19. zu uns zurück. Sie war noch recht blass, müde & hustete noch ziemlich.  Sie hat sich aber schon recht erholt, sieht besser aus, der Husten ist vorbei, & sie ist wieder unternehmend & aufgeräumt. In Zürich war es eben schon ganz grau, neblig & viel kälter wie hier. – Alex ist am 23. wieder abgereist, & am 25. ist seine Schule wieder angegangen[.] Er sah prächtig aus, & hatte sich wirklich förmlich herausgegessen [sic] [.] Er hat seine Ferien wie noch nie genossen, da André auch keine Schule hatte, waren sie beständig beisammen. Ich finde Alex wie umgewandelt, besonders wenn er ohne seine Mutter ist. Aber auch mit ihr ist er viel netter. – Wir haben im Sinn[,] nächste Woche abzureisen. Die Hauptsache ist vollständig in Ordnung, was eine grosse Erleichterung ist. Aber die Züge hier in der Schweiz erschweren einem das Reisen sehr. Adèle verlässt uns am Samstag morgen, & geht noch für einige Tage zu Marcelle. Den Cousinen geht es allen gut. – Anne schrieb am 22. Nov. Sie hatte auch die Grippe gehabt[,] zum Glück nicht schlimm, & war 8 Tg. zu Bett gewesen, fühlte sich aber wieder ganz wo[h]l. sie sei rührend & ausgezeichnet gepflegt worden. In der Familie sei sie bis jetzt die einzig Kranke gewesen, aber es habe in der Stadt sehr viele Fälle. Sonst lauten ihre Berichte gut, nur scheint es mir[,] sie denkt über vieles noch recht konfus, obschon so viele schon ganz umgesattelt haben. – Es ist wieder viel milder geworden, was wir sehr geniessen. – Ich schreibe am Donnerstag fertig & hat Adèle heute 2 Briefe von Mama & einen von Dir erhalten, für welche sie Tausendmal [sic] danken lässt. Wir sind so froh[,] viele détails zu vernehmen, die wir uns oftmals gefragt hatten. Tausend Grüsse von uns dreien an Euch Alle. Es küsst Dich von ganzem Herzen Deine Dich innig liebende Emily.

Emily Fatio-Wenner war ab 1905 mit Paul Fatio (1874-1961) von Genf verheiratet. Fatio war als Ingenieur in Neapel, Rom und Genf tätig.

Zu dem im Brief erwähnten Alex Berner und seiner verwitweten Mutter, Adele Berner-Wenner, sind bereits folgende Beiträge erschienen: 9. Juni 1917, 22. August 1917, 11. September 1917 und 6. Oktober 1917.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/127.4.2 (Briefe an Silvia Wenner, 1917-1921) und W 054/126.9.8 (Beitragsbild)

 

Visitenkarte Major Riklin

Samstag, 2. November 1918 – Riklin darf endlich nach Hause

Der Psychiater Franz Beda Riklin-Fiechter, aus dessen Korrespondenz bereits einige Beiträge publiziert wurden (letztmals zum 8. Juni 1918) weilte immer noch im Militärdienst. Er war unterdessen Kommandant der ESA (Etappen-Sanitäts-Anstalt) in Solothurn. Anfang Oktober hatte man ihn zum Major befördert, was er im Brief an seine Ehefrau vom 7. Oktober folgendermassen kommentierte: Ich bin jetzt also Major, u. das macht mir sogar etwas Spass. Hier wird es ähnlich wie ein freudiges Familienereignis durchgenommen, u. es gab sofort Leute, die herumfuhren[,] um schleunigst die nötigen Uniformänderungen vornehmen zu lassen. Sonst bin ich ganz verstrickt in Seuchenbekämpfung [gemeint ist die Spanische Grippe] u. Wachsamkeit. Beim Militär ist hier der Höhepunkt wieder überschritten, aber in der Bevölkerung nicht. Wir hatten zwei Todesfälle im Ganzen, auf etwa 100 Erkrankungen, u. einige schwere Fälle, die durchkamen, darunter mehrere Offiziere. Zudem helfen wir der Civilbevölkerung hier u. in der Umgebung aus. […] Die Beförderung zum Major ist mir gleichsam die symbolisch-formale Bestätigung vieler anderer Erfüllungen, die ich auch erwarte, eine Art Rehabilitation und ein Symbol des Richtiggehens.

Auf der Visitenkarte (siehe Beitragsbild) steht: Diese Visitenkarte hat mir mein Bureau geschenkt. Herzlichste Grüsse an Dich u die Kinder v. Deinem treuen Major Franz Riklin Kommandant E.S.A. Wie steht’s mit der d. Weinlese? Schicke bald Wäsche 8.10.18. Solothurn

Im Brief vom 29. Oktober 1918 an seine Frau heisst es:

Liebste Frau!

Am 31. kommt mein Nachfolger, Oberstlt. Riggenbach. Wahrscheinlich komme ich dann schon am Samstag heim. Ich bin sehr froh darüber u. freue mich unendlich. Hoffentlich war es der letzte Dienst u. der letzte Akt u. die letzte kleine Mithilfe auf dem Wege zum Frieden.

Der Epidemieschub [Spanische Grippe] hier geht stark zurück, u. so ist meine Sache getan. Ich freue mich auf anderes, u. weg von der lieblosen Atmosphäre von Solothurn. Also auf ein frohes Wiedersehen.

Dein Franz.

Da die überlieferte Briefkorrespondenz mit dem 29. Oktober endet, ist anzunehmen, dass Riklin tatsächlich am betreffenden Samstag, also am 2. November, nach Hause fahren durfte und sein langer Militärdienst, der mit Kriegsausbruch 1914 begonnen  und oft monatelang gedauert hatte, damit beendet war.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin-Fiechter, Korrespondenz)

Ehepaar Wenner

Mittwoch, 24. Juli 1918 – Familienfestvorbereitungen

Silvia Wenner (1886-1968), die Schwester von Fritz Wenner-Andreae (vgl. den Beitrag vom 1. Mai 1918), hatte offenbar ihre Neffen gehütet. Sie erhielt am 24. Juli einen Brief ihrer ältesten Schwester Lily:

Erhalten i[n] Fratte

24. Juli 1918. – Sils-Maria.

Meine liebe Silvia, – Für Deinen so lieben Brief vom 27. Juni danke ich Dir sehr herzlich u. habe mich ganz besonders gefreut[,] wieder einmal direct von Dir zu hören. Dass Du eine so schwere Zeit als Vice-Mama mit den drei Bübchen erlebt hast[,] war mir sehr leid. Ich habe lebhaft mit Dir fühlen können, aber um so schöner wird es jetzt sein[,] sie so frisch & vergnügen herum springen zu sehen. Nun ist ja Valentin auch schon 1 Jahr alt. Wie die Zeit vergeht! Ich habe am 12ten ds. an ihn gedacht, denn das war doch sein Geburtstag, nicht? – Bei uns geht es, Gottlob [sic], gut. Wir sind bis jetzt von der s.g.  [sogenannten] spanischen Influenza verschont geblieben, denn wenn es auch nichts schlimmes ist, so ist es auch keine Annehmlichkeit. – Wir haben vor einigen Tagen eine Bombenhitze gehabt, s. d. man sich nur noch im Haus hinter geschlossenen Läden verkriechen konnte. – Letzten Samstag kam Anna wieder einmal für 14 Tage. Bis jetzt geht es unberufen leidlich, aber leider wird ja die Ruhe auch nicht lange dauern. – Gestern haben wir den 75. Geburtstag von Herrn v. G. gefeiert. Wir waren mittags zu Tisch drüben, & während dem Essen haben die drei Kinder, statt dem Toast sehr hübsche Verse aufgesagt, die Frau Max gedichtet hatte. Zuerst stand Max auf & sprach von der Vergangenheit, dann fiel ihm Rudi in’s Wort & wies auf die Gegenwart & er wurde wiederum von Marguerite abgelöst, welche die Wünsche für die Zukunft & das «Hoch» auf den Grossvater ausbrachte. Es war sehr nett! – Nun sind wir alle sehr in der Ueberlegung, wie & was man an der goldenen Hochzeit machen wird. Sie ist am 22. Sept., aber bei den jetzigen Verhältnissen muss man mit allem möglichst früh anfangen, denn es ist doch recht schwierig. Wahrscheinlich werden alle Kinder & Enkeln hier sein können für den Tag, & das ist natürlich das schönste, aber gerade darum giebt [sic] es so viel zu überlegen & einzurichten. Ich bin schon so voller Geheimnisse von allen Seiten, dass ich gar nicht mehr weiss, über was ich sprechen darf, u. über was nicht, & immer in Gefahr bin[,] mich zu verplappern. – Weisst Du noch, wie am Abend vor der silbernen Hochzeit der Eltern wir im Schulzimmer die Kränze wanden, & Fritz so viel Unsinn schwatzte, dass wir alle ganz schwach wurden? Wie weit scheint einem doch schon diese Zeit! Wenn Du einmal Bilder von den Zimmern zu Hause auf dem Lande hättest, wäre es mir eine grosse Freude[,] wenn Du sie mir schicken könntest! – Und nun hoffe ich, dass diese Zeilen Euch Alle [sic] wohl antreffen mögen, & dass auch die Berichte von Tante Jeanne leidlich lauten. Wie traurig muss ihr Zustand sein, & wie schwer für Onkel Robert[,] dass er nun auch dieses langsame Aufhören mit erleben muss! – Bitte, grüsse die lb. Eltern ganz besonders herzlich von mir & sage auch Fritz & Maria viel Liebes. Ich habe mich gereut zu hören[,] dass es Maria’s Mutter auch besser geht. – Meine Umgebung lässt vielmals grüssen. Dich selbst aber, mein Liebes Kleinsele, umarmt in treuer Liebe

Deine

Lily Wenner [1877-1959, Elisabeth Jeanne, genannt Lily, älteste Tochter von Friedrich und Emma Wenner-Freitag].

Im Beitragsbild sind Friedrich (1845-1931) und Emma (1852-1942) Wenner-Freitag zu sehen, die – wie im Brief erwähnt – am 22. September 1918 ihre goldene Hochzeit feiern konnten. Die undatierte Aufnahme entstand in der Stadtwohnung des Paars in der Via Medina in Neapel.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/127.4.2 (Korrespondenz an Silvia Wenner, 1917-1921) und W 054/123.5c (Beitragsbild)

Briefkopf des Hotels in Lyon

Samstag, 8. Juni 1918: Der Dienst will nicht enden

Der Militärdienst wollte kein Ende nehmen, Franz Beda Riklin konnte auch Anfang Juni noch nicht zu seiner Familie heimkehren (vgl. Beiträge zum 7. und zum 13. Mai 1918). Nach wie vor weilte er als Mitglied der Commission Franco-Suisse Pour l’Internement des Prisonniers de Guerre in Lyon. In mehreren kurzen Briefen hatte er seiner Frau berichtet, wie langweilig der Dienst und wie uninspirativ seine Kameraden seien. Ein überraschender Kurzbesuch seiner Frau eine gute Woche zuvor war eine mehr als willkommene Abwechslung gewesen.

Lyon, 8. Juni 1918.

Liebster Schatz! Ich weiss nicht, ob dieser Brief das Glück hat, Dich gleich zu erreichen. Mein Termin ist abgelaufen, aber der Nachfolger noch nicht da u. im übrigen die Grenze gesperrt. Gut, dass Du nicht dageblieben bist; ein Gefühl von möglichen Überraschungen hielt mich zurück, etwas Ausserordentliches zu unternehmen. Man hätte jetzt die allerärgsten Schwierigkeiten für Deine Rückkehr. Drei Collegen sind blo[c]kiert. Wir hoffen heute mit den offiziellen Nachrichten nach Bern das Nötige zu erreichen, dass auf diplomatischem Wege die Überschreitung der Grenze möglich gemacht wird. Also etwas Geduld. Es wird nicht lange gehen. Der letzte Zug kam von der Grenze mit französischem Personal. Heute Nacht kommt wieder einer, und wir hoffen, dass wahrscheinlich Oberst Bohny persönlich mit nach Lyon kommen kann, und dass wir ihm mündlich unsere dringenden Anliegen mitteilen können.

Ich habe reichlich genug von hier. Es beginnt ganz entsetzlich öde zu werden, u. fein war es nie.

Dein Besuch war der glänzende Punkt in der ganzen Unternehmung, u. ich habe eine unendliche Sehnsucht, Dich wiederzusehen, Dich zu lieben u. mit Dir zu leben. Ich bin hier meist müde u. schlafe unendlich viel.

Heute habe ich hier im Museum, trotz Hitze u. muffiger Luft, mit einigem Vergnügen eine Anzahl sehr schöner[,] moderner Franzosen zu sehen bekommen.

Addio, cara mia. Ich freue mich unendlich auf Dich und die Rosen. Grüsse die Kindlein herzlich. Grüsse auch Mutter, u. wer nach mir fragt. Ich sehne mich so sehr nach frischer Luft u. Grün, nach der heissen Stadt.

Wir waren kürzlich in Vienne. Heisse, schmutzige Stadt, mit einigen schönen römischen Bauten. Ich küsse u. umarme Dich herzlich u. danke für Deine letzten guten Nachrichten.

Es könnte nichts schaden, wenn Du beim Internierungsbureau, Schänzlistr. ca. 50, Bern, einmal telephonisch vorstellig würdest, u. sagen, dass man mich zuhause dringend benötigt.

Dein treuer

Franz.

Oberst Karl Bohny (1856-1928) war Chefarzt des Roten Kreuzes. Zusammen mit seiner Frau, Marie Bohny-Pertsch, leitete er die Organisation von Transportzügen für die Repatriierung von Gefangenen und Verletzten der verschiedenen Kriegsparteien, vgl. https://geschichte.redcross.ch/ereignisse/ereignis/die-repatriierung-verletzter-auslaendischer-soldaten.html

Riklin steckte in Lyon fest. Eigentlich hätte sein Einsatz nach sechs Wochen beendet sein sollen, und er wartete schon lange sehnlichst auf Ablösung. In einem wegen der Zensur französisch verfassten Brief vom 13. Juni 1918 berichtete er seiner Frau, dass sein Nachfolger, der am 10. Juni hätte eintreffen sollen, wegen der geschlossenen Grenzen nicht nach Frankreich einreisen könne. Ausserdem beklagte er sich über seinen Chef, Lt.Col. Breiter. Ihm mangle es an Initiative und Fähigkeit im Umgang mit einer solch speziellen Situation. Les chemins administratifs sont malheureusement un peu longues. Autrement je suis en bonne santé, mais très peu enchanté de la situation. Je ne retournerai jamais à Lyon sous pareilles circonstances. In einer zweiten, kurzen Notiz vom gleichen Tag heisst es, er habe endlich die Erlaubnis erhalten, in ein oder zwei Tagen die Grenze zu überschreiten. Dies scheint aber doch nicht geklappt zu haben, ist doch ein weiterer Brief vom 18. Juni 1918 erhalten: Me voilà encore à Lyon. J’attends le permis pour rentrer – depuis une semaine. J’espère que cette Autorisation arrivera enfin, à peu près demain ou après demain. Inutile de de raconter mes réflexions et les détails des démarches faites à ce sujet. Tu l’entendras après mon retour. Demande encore une fois à Berne. Nous [statt: Nos] moyens de communications [sic] sont très restraints. Je n’ai pas de tes nouvelles depuis 8 à 10 jours.

Offenbar hatte er die Erlaubnis schliesslich doch noch erhalten. Der nächste Brief der erhaltenen Ehekorrespondenz ist einen guten Monat später datiert mit: Küsnacht, 15.7.18. Dieses Schreiben «reiste» ins Toggenburg, wo seine Familie Sommerferien verbrachte. Riklin selber versuchte, wieder ein ziviles Leben zu führen, Patienten zu behandeln und zu Hause zum Rechten zu sehen. Für die psychiatrischen Dienste in Solothurn, deren Betrieb in diesen Tagen durch die Spanische Grippe stark eingeschränkt war, erstellte er wöchentlich Gutachten zu Patienten.  Daneben beanspruchte die Gemeinde Küsnacht, wie einem weiteren Brief vom 20. Juli 1918 zu entnehmen ist, seine Dienste bei der Lebensmittelinspektion und bei der damals so genannten Kostkinderkontrolle (Kontrolle von Kindern, die in Privatfamilien fremdplatziert waren).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin, Korrespondenz)

Lyon um 1918

Montag, 13. Mai 1918: Nachrichten aus Lyon mit Vorboten der Grippe

Der Psychiater Franz Beda Riklin weilte immer noch in Lyon (vgl. Beitrag zum 7. Mai 1918). Alle zwei bis drei Tage verschickte er einen Brief an seine Ehefrau, zwischendurch auch Ansichtskarten mit teils sehr knappem Inhalt. So hiess es auf einer Karte vom 8. Mai 1918: Bloqué. Vais bien. Mille salut. Franz. Einen Tag später war er guter Hoffnung, bald zurückkehren zu können, weil ein Nachfolger am kommenden Tag eintreffen sollte. Von einem konkreten Rückkehrdatum war in der folgenden Korrespondenz jedoch keine Rede mehr:

Lyon, 10.5.18.

Liebste Frau!

Morgen früh 8 Uhr soll endlich ein Austauschzug ankommen, u. nachmittags auf dem Rückweg in die Schweiz soll dieser Brief mitgehen. Am liebsten käme ich selber mit; denn die Herrlichkeiten u. Emotionen hier sind nicht übertrieben. Eine etwas meridionale Stadt, ohne die Schönheiten von Florenz. Immerhin schöne Parke [sic] u. Plätze. Bisher hatten wir nur zwei Sitzungstage. Seither müssen wir wegen des mangelnden disponiblen Unterkunftraums warten, bis wieder einige hundert Mann abgefahren sind.

Gestern war ich krank, hatte Fieber, Kopf- & Gliederschmerzen, etwas Bronchialkatarrh, u. dazu eine recht öde, gottverlassene Stimmung. Heute ists [sic] schon viel besser; ich habe gestern u. heute möglichst viel im Bett gelegen u. es mir sonst bequem gemacht. Also schon wieder ziemlich gesund. Natürlich konnte ich da in der freien Zeit nichts leisten.

Im Theater hörten wir statt des angesagten Cyrano den Aiglon, immerhin sehr gut gespielt. Die Kameraden sind sehr ordlechi [sich, Schweizerdeutsch für «sehr ordentliche»]; aber gar nicht interessant.*) [Einschub am Rand: *)u. man muss mit ihnen in einem schweizerdeutschfranzösisch conversi[e]ren, dass es einem im Ohr weh tut.] Zu essen bekomme ich viel, mit reichlich Olivenöl.

Wenn man erschöpft ist, so kommt gleich die Traurigkeit u. man meint, überhaupt nichts mehr zu sein u. tun zu können. Aber die Influenza war viel Schuld daran. Wenn’s nur Euch gut geht, lieber Schatz. Und Du mich lieb hast. Das Leben der Kleinigkeiten sieht man hier so drückend-überwältigend, besonders durch die Complication des Kriegs.

Sonntag fahren wir nach St-Pierre …?, 50 km. nach Süden, zu einem schweizer. Fabrikbesitzer, einem Herrn Hegetschwiler. Hoffentlich ist’s schön. Und nach Avignon möchte ich unbedingt für 2 Tage, zur Compensation.

Das Hotel ist recht, natürlich lärmt es sehr auf der Strasse, aber man gewöhnt sich.

Vielleicht kann Dir Dr. [?] Häberlin noch Auskunft geben, wie man rationell Briefe spedi[e]rt. Ich freu  mich sehr auf Nachrichten. Das Buch von Barbusse «Le feu» ist sehr gut geschrieben; Schützengrabenleben; sehr wahr, reich in der Beobachtung, viel reicher als «Lettres d’un soldat». Aber man hat doch bald genug Kriegsliteratur.

Allerherzlichste Grüsse u. Küsse, u. hab Dich lieb. Grüsse u. küsse die Kindlein.

Dein treuer

Franz.

Nach über einer Woche Aufenthalt in Lyon erhielt er erstmals Post von seiner Frau:

Lyon, 13. Mai 1918.

Allerliebste Frau!

Soeben habe ich Deinen ersten lb. Brief erhalten u. bin sehr froh darüber, zu sehen, dass man sich wenigstens berichten kann, u. froh etwas von Dir zu haben. Hier ist ja alles recht u. gut, aber eigentlich langweilig; es erinnert zu sehr an frühere Dienste; interessant ist nicht viel an der ganzen Sache, u. im Herumreisen ist man sehr gehemmt, obwohl (ich möchte fast leider sagen) Zeit genug da wäre.

Vorgestern habe ich mir die Ankunft eines Zuges mit rapatriirten [sic] Internierten angesehen; grosse Zeremonie mit Anwesenheit des kommandi[e]renden Generals von Lyon, Kavallerie, viel Clairons, grosse Rede u.s.f. Die Heimkehrenden u. wa  man von ein paar anwesenden Angehörigen sehen konnte, waren sehr emotioniert [sic]. Ich habe den Kameraden einen Brief für Dich mitgegeben.

Hier sind viele italienische Soldaten. Es sind die, welche uns durchschnittlich am höflichsten grüssen. Ob es ist[,] weil sie unsere Uniform kennen oder weil sie sie sie gerade nicht  kennen? Item. Es sind die freundlichsten.

Heute Nacht kommt ein Austauschzug an u. kehrt mit gewechselter Fracht wieder zurück. Den Brief für Dich gebe ich aber einem Kameraden mit, der sich auf der Durch- & Heimreise befindet.

Der ganze ärztliche Modus der Gefangenenauswahl wird jetzt überholt durch die viel bedeutenderen u. weitern Berner Abmachungen, auf Grund derer gewaltige Zahlen nichtkranker Gefangener ausgewechselt werden kann.

Lieber Schatz, es ist mir nicht sehr wohl hier, eben weill ich weiss, wie Du Dich inzwischen abhundest, u. weil anderes Wichtiges zu tun wäre. Ich gebe heute auch einen Brief an Claparède mit.

Meine «Krankheit» ist vorüber; als Rest bleibt nur noch ein Rifenbart [?] von ziemlicher Ausdehnung. Ein bis zwei Tage war es misslich, besonders die Stimmung. Übrigens hats die andern teilweise auch gepackt; es muss eine Grippeinfection im Hôtel genistet haben.

Einer der Collegen ist ein Dr. Barry, ursprüngl. u. in s. Wesen ein Landschaftler [sic, eigentlich «Landschäftler», d.h. aus  dem Kanton Baselland], war lange Jahre in Vitznau, jetzt zeitweilig Hotelarzt in St.Moritz. Dein Vater war Hausarzt der Familie u. hat ihn auch behandelt.

Sturzenegger ist viel eintöniger als ich mir gedacht habe. Überhaupt ist nicht viel los mit den Herrschaften. Brunner ist noch der beweglichste.

Ja, geh doch ein paar Tage ausruhen irgendwo. Diese Putzerei beängstigt mich wirklich, dazu die ungelöste Hausfrage, u. die Beobachtung, dass Dir der Auszug auch schwer fällt. Aber wir wollen mutig sein. Und ich sage Dir, wir leben doch ein interessanteres Leben als viele, u. reicher. Ich will alles herausschlagen, was ich aus mir herausholen kann, u. wir wollen durchkommen, so oder so.

Barbusse «Le feu» ist eigentlich doch furchtbar; d.h. der Krieg ist furchtbar, grauenhaft in seinem eintönigen Dreck u. Zerstörung. Und ich habe für lange genug von der Kriegsliteratur.

Bald geht der Zug ab, und ich muss schliessen. Es ist nicht weit nach Hause, u. doch gehen sehnsüchtige Wünsche mit diesem Brieflein. Ich hoffe, es gehe alles gut, u. Du tragest etwas Sorge für Dich.

Schreibe mir ein paar Warenpreise auf für Wolle, Seife u. ähnl., damit ich weiss, ob ich Dir hier kaufen soll. (10 [Zeichen für: Pfund] Marseillerseife kosten hier z.B. ca 14 Schweizerfranken, 1 kg Wolle ca 8 Schweizerfranken).

Tausend herzlichste Küsse u. viele Grüsse an die lieben Kindlein.

Ich komme sobald als möglich, u. jedenfalls allerspätestens nach dem Ablauf von 6 Wochen; es ist nun schon mehr als eine vorüber.

Auf Wiedersehen.

Dein treuer

Franz.

Wieder zwei Tage später schrieb Franz Beda Riklin, die ersten paar Zeilen in schwarzer, danach in blauer Tinte:

Lyon 15.5.18.

Allerliebste Frau!

Es geht wieder ein College in die Schweiz zurück, u. ich gebe ihm ein Brieflein für Dich mit. Von Dir habe ich bisher zwei Briefe bekommen, den ersten direkt, nach 4-5 Tagen, den zweiten mit dem Austauschzug am 2. Tage nach Deinem Datum. Ich bin wirklich etwas in Sorge wegen Deiner Gesundheit u. möchte Dich sehr bitten, Dich lieber zu schonen. Ich habe 5 kg Marseillerseife gekauft, zu frs 18.75 cts französ. Geld, macht etwa 14 frs Schweizergeld. Soll ich Wolle kaufen, das [Zeichen für Pfund] (od kg?) zwischen 7 u. 11 frs französ Geld (5 bis 8 frs Schweizergeld)?

Das Leben hier ist wirklich nicht sehr interessant. Eine grosse Krämerstadt. Und die Collegen hier bieten furchtbar wenig. Mon dieu! Einer der letzthin zurückkam, ein Welscher, war wenigstens auf dem Himalaja, kurz vor dem Herzog der Abruzzen, u. wusste mir sehr viel Interessantes davon zu berichten.

Die Arbeit ist natürlich monoton. Mit den französ. Kameraden ist auch nicht sehr viel anzufangen. Entweder sind es Militairs, die in ihren Bureaus sehr viel Arbeit erledigen müssen, od. vielbeschäftigte Professoren der Fakultät von hier. Die haben alle zu tun u. sind in ihrem Tramp u. haben keine Zeit. Sonst sind sie alle sehr recht und nett.

Man fühlt doch überall sehr die Mühseligkeiten u. Einschränkungen des Kriegs; alle sind Bestandteile der Maschine, u. wir auch. Man speist vor allem das.

Lyon hat einige interessante Bauten, einige römische Reste, einen schönen Park, u. zwei Flüsse; sonst alles[,] alles Kramläden, Fabriken. Die Läden erinnern an Italien. Es ist alles teuer. Unsere Verpflegung täglich kommt, abgesehen vom Zimmer, auf etwa 20 frs. pro Kopf, ohne etwas ganz Ausserordentliches zu bieten, da auch Einschränkungen sind.

So freue ich mich vor allem auf die Rückkehr. Vielleicht kann ich noch, mit spez. Erlaubnissen, noch etwas von der Landschaft sehen.

Im Strassenbild ist sehr viel Militair [sic] aller Art, darunter ein starkes Kontingent Italiener, dann viel Krüppel und Spitäler, indem Lyon ein besonderes Spitalzentrum ist. Es geht alles etwas bescheidener zu als in England.

Allerherzlichste Grüsse u. Küsse, auch für die Kindlein.

Von Deinem treuen

Franz.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 106 (Nachlass Franz Beda Riklin-Fiechter; Beitragsbild: Ansichtskarte, verschickt am 16.06.1918)

Adresse

Dienstag, 7. Mai 1918: Man isst gut, ohne Zucker.

Der Psychiater Franz Beda Riklin (vgl. diverse Beiträge zu ihm im Jahr 1917) war nach wie vor im Dienst und erneut im Ausland. Nachdem er im Herbst 1917 mit einer Schweizer Ärztemission nach England geschickt worden war, weilte er im Frühling 1918 als Mitglied der Commission Franco-Suisse pour l’internement des prisonniers de Guerre in Lyon und half bei der Organisation zum Austausch von Kriegsgefangenen mit. Diese Transporte wurden per Eisenbahn über die Schweiz abgewickelt, was ihm Gelegenheit gab, jeweils einen Brief oder eine Karte an seine Frau mitzuschicken.

Riklin war auf der Suche nach einer Neuordnung seiner Lebenssituation, die ihm mehr Zeit für seine künstlerischen Ambitionen als Maler liesse. In seiner Korrespondenz an seine Frau taucht deshalb immer wieder die Wohnungsfrage auf.

Am 6. Mai 1918 schrieb er:

Lyon, 6. Mai 1918

Hotel Royal, Place Bellecour

Allerliebste Frau!

Ich benutze die Gelegenheit, dem Kommandanten des Austauschzuges, der heute nacht 10h mit Verwundeten von Konstanz kommt u. nachts zwei Uhr wieder mit deutscher Fracht in die Schweiz zurückfährt, um Dir Nachrichten von mir zu geben. Wir sind gut gereist u. gut aufgehoben; der Dienst ist nicht zu streng, sodass reichlich zu anderm, u. vielleicht auch zu nützlicher Arbeit Gelegenheit ist. Es regnet in Strömen. Von Schweizerärzten sind anwesend: Oberst Sturzenegger v. Zch [Zürich], Major Brunner v. Küsnacht, ein Oberlt [Oberleutnant] Berry (?) [sic] von Basel u. ich. Die Franzosen sind sehr nett. Man isst gut, ohne Zucker. Brotkarte im Hotel keine. Fettsaucen reichlich. (Die Fettkarte musste ich auch abgeben).

Claparède, in Genf, war leider abwesend, sei gespannt auf meine Rückkehr. Genf wäre entschieden zu machen. Ich sah eine Wohnung v. 6 teils grossen Zimmern, komfortabel, am Quai; für 1600 frs [sic]! Etwas auf dem Lande kann man noch billiger wohnen, mit Trams überall. Steuern niedriger als Zürich. Bitte hetze dich in der Zwischenzeit ja nicht zuviel ab; es wird sich alles machen.

Es wird etwas schwieriger sein, von Dir Nachricht zu bekommen als von mir z.Z. Vielleicht kannst Du beim militär. Bahnhofkommando Zürich erfahren, wann Austauschzüge fahren u. die Briefe zum Mitgeben deponi[e]ren.

Adr. Commission franco.suisse de rapatriement, Cpt Riklin, Hôtel Royal, Lyon, Place Bellecour.

Sonst probi[e]re direkt zu schreiben.

Man bekommt hier Rauchwerk und Streichhölzer nicht. Das wird Dich freuen! Sonst scheint Lyon eine comfortable [sic], ruhige Stadt zu sein.

Ich schliesse, da ich zu einer Untersuchungssitzung muss, mit herzlichsten Grüssen an Dich und die Kinder.

Dein treuer

Franz.

Einen Tag später fand er erneut Gelegenheit, ein Briefchen abzusenden. Dieses erreichte Küsnacht, den Wohnort der Riklins, zwei Tage später, wie dem Poststempel zu entnehmen ist:

Lyon, 7.5.18.

Allerliebster Schatz!

Der bewusste Sanitätszug ist heute noch nicht erschienen; wir geben die Briefschaften einem heimreisenden Collegen mit. Da Oberstlt [Oberstleutnant] Breiter in Andelfingen nächstdem [sic] nachkommt, schicke auf alle Fälle Nachrichten durch ihn, Du kannst ihm einfach verschlossene Briefe zuschicken mit der Bitte[,] sie mitzunehmen. Du kannst ihm auch telephoni[e]ren.

Ich hatte heute frei, gestern etwas Arbeit; ich habe heute die Stadt u. Umgebung besehen. Wenn ich nur die Preise wüsste f. Wolle, Leinen etc, so würde ich hier vom billigern kaufen. Vielleicht lasse ich ein gutes Civilkleid machen, für 175 frs [sic]! französisch = ca 130 frs. schweizer [sic] Geld; ich will zuerst sehen, was die andern bekommen. Tabak u. Zündhölzer gibt es hier nicht!

[Randnotiz und Schluss:] Ich lese Barbusse «Le feu». Gut! U. sonst habe ich etwas Heimweh. Herzlichste Grüsse v. D. tr. Franz.

«Le Feu» (Das Feuer)  war ein autobiographisch geprägter Roman des französischen Politikers und Schriftstellers Henri Barbusse (1873-1935). Er verarbeitete darin eigene Erfahrungen als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg. Das Werk wurde bereits im Erscheinungsjahr 1916 mit dem Prix Goncourt, einem renommierten Literaturpreis, ausgezeichnet und später in 60 Sprachen übersetzt (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Feuer_(Barbusse) ).

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W (Korrespondenz Franz Beda Riklin, Brief und Karte vom 06.05.1917 und vom 07.05.1917)