Die monatlich erscheinende Gratisbeilage zur Rorschacher Zeitung war ab Mitte 1917 nicht mehr genau datiert. Da sie Anfang des Jahres jeweils am letzten Wochenende des Monats erschienen ist, ist möglich, dass das auch im Dezember so war. Diese Datierung vorausgesetzt, kam der Beitrag ohne Autorenangabe auf der Titelseite der Ausgabe ein paar Tage zu spät in die Haushalte:
Weihnacht – Weltkrieg.
Wieder ist es Weihnacht geworden. Während draussen die Waffen klirren, die Kanonen donnern, tönt drinnen im Heiligtum die alte, ewig wunderbare Botschaft an die Seele: «Apparuit benignitas et humanitas Salvatoris nostri – Erschienen ist die Güte und Menschenfreundlichkeit unseres Erlösers.»
Die «grosse Freude», welche der Engel Gottes in der Christnacht den Hirten verkündet hat, durchzieht auch heute die ganze Christenheit und alle treuen Christenherzen – trotz des Weltkrieges mit seinem Jammer und Elend. Ja, gerade das Verderben des männermordenden Krieges zeigt das Ereignis der Christnacht in seiner alles Irdische überragenden göttlichen Grösse und himmlischen Freudenfülle. Auf der Erde Nacht, Tod und Zerstörung – im Hirtentale himmlisches Licht, die Herrlichkeit Gottes umleuchtet die armen Schafhirten – Freudenbotschaft aus Engelsmund – Jubellieder, gesungen von den Chören unzähliger Geister des Himmels. Auf Erden bricht der menschliche Stolz, brechen Weltreiche nach jahrhundertelangem Glanze im Qualm der Geschütze, im Strom des Blutes von Hunderttausenden ohnmächtig zusammen – in der Christnacht tönt das Gesetz der Ewigkeit, die einzig wahre Lösung des Menschenglückes, über die schweigenden Fluren: Soli Deo gloria! «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.» – Nur wer Gott allein die Ehre gibt, erringt den wahren Frieden – jenen innern Herzensfrieden, dessen Fundament der «gute Wille» und dessen Krönung der äussere Friede in der Familie, im Staate, unter den Völkern ist.
«In jener Zeit ging ein Befehl aus vom Kaiser Augustus, den ganzen Erdkreis aufzuschreiben.» So berichtet das Evangelium der ersten Weihnachtsmesse. «In jener Zeit» – welche Zeit ist es an der ehernen Uhr der Weltgeschichte? Wir stehen im eisernen Zeitalter nach dem Propheten Daniel. Mit Blut und Eisen haben die römischen Eroberer ihre Weltmacht aufgerichtet, den grössten Teil der Völker Europas, Asiens und Nordafrikas ihrer Herrschaft unterworfen. Die Sprache der Römer regiert und richtet vom fernen Westen bis tief ins Morgenland. Auch das auserwählte Volk Gottes ist dienstbar und zinsbar geworden. Einer ist Herrscher – Cäsar Augustus – beide, Heidenvölker und Judenvolk, sind auf ihren Lebenswegen zu einem Punkte gekommen, wo die Sehnsucht nach dem Welterlöser in den Herzen aller mächtig geworden ist. «Die Fülle der Zeit» ist gekommen, das Zepter von Juda gewichen. Jetzt gedenkt Gott der Verheissung, die er einst – vor zweitausend Jahren – dem Patriarchen Jakob gegeben hat: «In deinem SAmen sollen gesegnet werden alle Völker der Erde.»
«Es ging ein Befehl aus vom Kaiser Augustus» – wunderbare Fügung! Augustus, der Mensch, gebietet, und Christus, Gott, gehorcht. Und doch bewährt sich hier in unbeschreiblicher Grösse das Wort: «Der Mensch denkt und Gott lenkt». Denn in Wahrheit ist der mächtigste Mann jenes Zeitalters, Kaiser Augustus, ohne es zu wissen, der Diener dessen, der ihm gehorcht. Er meint, den Entschluss seines Herrscherstolzes zu vollziehen – in Wahrheit aber ist er das Werkzeug der göttlichen Vorsehung zur Verwirklichung des ewigen Ratschlusses der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Jesus muss geboren werden zu Bethlehem in der Stadt Davids, damit die Prophezeiung des Michäas erfüllt werde, damit das Volk Gottes den Messias finden könne in der Stadt seines königlichen Stammvaters. Augustus befiehlt, und die gnadenvolle Jungfrau wandert aus Nazareth nach Bethlehem, damit aus ihr geboren werde Jesus, der genannt wird Christus.
Wir leben in einer Zeit des Werdens und Vergehens aller Völker und grosser Reiche. Gar viele schauen mit bangem Blicke in die Zukunft. WAs soll aus der Kirche werden, wenn aus den Stürmen des Weltkrieges ein Imperium emportaucht, gegen das der Staat der römischen Cäsaren ein Kinderspiel war? Nolite timere! «Fürchtet euch nicht, kleine Herde», sagt der Welterlöser Jesus Christus. In der Hand Gottes sind wir heute, wie im Zeitalter des Augustus, die grössten Weltherrscher lediglich kleine Knechte, welche die Ratschlüsse der göttlichen Vorsehung vollziehen müssen. Das Kind in der Krippe zu Bettlehem führt noch heute, wie vor 1900 Jahren, die Zügel der Weltregierung. Seinem REgimente unterstehen alle Völker. Ein Wink seiner Hand und der stolzeste Herrscherthron sind in den Staub. Das Reich des Kindes zu Bethlehem aber besteht und dauert fort in Ewigkeit. Sein Regierungsprogramm hat schon der Prophet Isaias ausgesprochen: «Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf dessen Schultern die Herrschaft ruht, und sein Name wird heissen: Wunderbarer, Ratgeber, Gott, starker Held, Vater der Zukunft, Friedensfürst».
Auf derselben Seite der Rorschacher Blätter erschien auch ein Gedicht von Jean Bättig:
Heilige Weihnachten 1917.
Weihnacht feiern wir heute wieder / In des Krieges schwerer Zeit; / Es erschallen Freudenlieder / Durch die Welt voll Kampf und Streit.
Schaurig die Kanonen singen / Vor der Stadt Jerusalem, / Engelchöre heut erklingen / Aus dem kleinen Bethlehem.
Jesus Christus ist geboren, / Freud und Friede dieser Welt, / Ach, wir haben ihn verloren, / Dem man Ehrenfeste hält!
Möcht ein heilig Feuer brennen / Hier auf Erden, fern und nah, / Und bald alle Welt erkennen, / Was zu Bethlehem geschah!
Möchte leuchten dieser Erde / Bald des Friedens schönstes Bild, / Dass zum Paradiese werde / Dieses Lebens Kampfgefild.
Schönster Stern erscheine wieder / In dem schönsten Gnadenschein, / Von dem Euphrat schallts hernieder, / Leucht in jedes Herz hinein!
Friede muss ës wieder werden / Bei den Völkern nah und fern, / Und dann leuchtet hier auf Erden / Christus als der Morgenstern.
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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, P 913A (Text: Rorschacher Blätter zur Unterhaltung und Belehrung, Gratisbeilage zur Rorschacher Zeitung, Nr. 12, 1917, 29.12.1917) und