Herbstsession des Grossen Rates, Auszug aus der Eröffnungsansprache von Grossratspräsident Anton Messmer, Stickereikaufmann und Erziehungsrat aus St.Gallen, von 1902 bis 1912 Regierungsrat, später von 1919 bis 1935 Ständerat:
Meine Herren Kantonsräte!
Zur ordentlichen Herbstsession des Grossen Rates heisse ich Sie herzlich willkommen.
Wir tagen abermals zur Zeit des furchtbaren Weltkrieges, dessen schreckliche Wirkungen und Folgen Ihnen schon wiederholt geschildert worden sind.
Seit unserer diesjährigen Maisession ist sogar ein weiterer Staat aus seiner Neutralität herausgetreten und in den Strudel dieses Krieges hineingerissen worden, indem am 27. August dieses Jahres Rumänien an Oesterreich-Ungarn den Krieg erklärt hat. Es steht mir nicht an, an dieser Stelle eine Ansicht darüber auszusprechen, ob Rumänien mit diesem Schritt das getan hat, was für seine Ehren und Interessen das Beste war; dagegen hat es jedenfalls die Hoffnungen auf einen baldigen Friedensschluss nicht gestärkt und über sein eigenes Land unermessliches Unglück gebracht.
So werden wir mit sorgeerfülltem Herzen noch länger warten müssen, bis endlich die Sehnsucht aller Völker nach dem erlösenden Worte: „Friede!“ erfüllt wird.
Ist unser Vaterland auch bisher – und wir wollen zu Gott hoffen, dass dies auch in Zukunft der Fall sein werde – vom Kriege verschont geblieben, so gestalten sich immerhin die wirtschaftlichen Verhältnisse stets schwieriger. In einer Zeit, in der die Völkerrechte mit Füssen getreten werden und die brutale Gewalt triumphiert, bemächtigt sich auch bei uns weiterer Kreise eine bange Sorge, weil unseren Industrien die Bewegungsfreiheit und der Lebensspielraum immer mehr beschnitten und ein grosser wirtschaftlicher Druck auf uns ausgeübt wird.
Diese Verhältnisse mahnen alle Schweizer zu einem engeren Zusammenschluss der politischen Kreise und zu einer Sammlung und gegenseitigen Annäherung aller geistigen Kräfte. Glücklicherweise kann hierin wieder eine Besserung konstatiert werden. Es bricht sich immer mehr der Gedanke Bahn, dass mit vermehrtem Eifer und doppelter Vorsicht alles vermieden werden muss, was uns im Lande trennen könnte, und dass die ganze moralische Kraft des gesamten Volkes notwendig wird, um die Krisis zu überstehen, die uns im letzten Akt dieses furchtbaren Weltereignisses noch bedroht.
Halten wir vor allem auch fest an unserem vollen Vertrauen zum Bundesrat, der mit Unparteilichkeit, Kraft und Würde seines schweren Amtes waltete, an der dankbaren Anerkennung der Verdienste unserer Armee, die mit Opferwilligkeit die Grenzen der Schweiz bewacht, und an der Liebe zu unserm Vaterlande das die Neutralität bewahrt und uns bisher den Frieden erhalten hat.
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In der kritischen Finanzperiode der Kriegszeit ist der st.gallischen Staatskasse unerwartet ein Millionengeschenk zugeflossen, das noch kurz zu erwähnen ist; es ist der kantonale Anteil an der eidgenössischen Kriegssteuer, deren Ergebnis im Kanton rund sechs Millionen Franken beträgt. Wenn in Betracht gezogen wird, dass unsere Hauptindustrie unter dem Krieg vielfach leidet und dass die meisten grössern Bankgeschäfte der Hauptstadt die Kriegssteuer ausserhalb des Kantons, an ihrem Hauptdomizil zu entrichten haben, so darf das Ergebnis des Kantons St.Gallen als ein erfreuliches Zeichen vaterländischer Gesinnung und patriotischen Opfergeistes betrachtet werden.
Es ist zu hoffen, dass bei der Beschaffung weiterer Einnahmen des Bundes in ähnlicher Weise Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kantone genommen wird, denn der Bund hat ein grosses Interesse daran, dass bei der Neuordnung des Finanzwesens auch der Finanzhaushalt der Kantone saniert wird.
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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZA 005 (Protokoll Grosser Rat) und BMA 328 (Anton Messmer-Lutz, Grossratspräsident 1916, zur Zeit des Ersten Weltkriegs)