Maria Wenner 1913 und 1922

Dienstag, 17. Dezember 1918 – Erste Weihnachtswünsche

Maria Wenner-Andreae erhielt Weihnachtspost von ihrem Vater, Alexander Andreae (1846-1926). Sie war die zweitjüngste Tochter aus seiner zweiten Ehe mit Johanna Broecker, hatte vier Geschwister und fünf Halbgeschwister (aus der ersten Ehe ihres Vaters mit der 1883 verstorbenen Lily Stumpf). Das erste Porträt zeigt sie 1913 bei ihrer Verlobung, das zweite 1922 nach dem Krieg.

Der Brief enthielt auch diverse Mitteilungen zu anderen Familienmitgliedern.

Milano, li 17.12.1918

Geliebte Kinder & Kindeskinder.

Da noch allerlei dazwischen kommen könnte, will ich schon heute meine allerherzlichsten Weihnachtswünsche an Euch richten, in der stillen Hoffnung, dass Ihr Alle [sic] dies schwere Fest ohne irgendwelche Störung und recht friedvoll & freudenreich werdet vollbringen können! –

Gina wird es dem Christkinde abnehmen[,] Euch auch einige kleine Gaben in unserem Namen auf den Weihnachtstisch zu legen, da werden sicher unsere Gedanken auch dort sein und Antheil an Eurer Weihnachtsstimmung nehmen. –

Gott Lob fühlt auch die gute Mama sich wiedeer ein wenig kräftiger, die letz[t]e Zeit war ihr Puls ja wieder sehr schlecht & ihre Stimmung sehr gedrückt, das bleibt ja für uns leider eine grosse Sorge.

Heute empfing ich Alex’ens Brief vom 14 ct, worin er mir schreibt, dass er hoffe[,] den 23 o 24 ct bei uns zu sein[;] hoffentlich kommt er nicht zu spät.

Hans kam gestern recht erregt Abends [sic] nach hause [sic], weil man ihm f. Ende Januar gekündigt hat, H Stoppani erlaubt der neue Chef nicht einmal mehr[,] in die Fabrik zu kommen. Das ist nun auch wieder eine Sorge mehr für Hans & uns. Für Landwirthschaft hat er keine Lust, er hätte sich s. Zt. dazu bringen lassen[,] nur um den Eltern nicht zu widersprechen. Wolle Gott, dass bald was Richtiges für ihn finde: Lili schuftete sich gehoerig ab für Hans, für’s Asil, die Weihnachtsgaben für die Schwestern, übt auch mit diesen Choräle ein, & für das Home etc[.] dabei [sic] kommen nur zu oft Frau Conti, Fräulein [unlesbar, Pachou?], die Sängerin & Abends [sic] sitzt sie bis spät in ihrem Schlafzimmer, um noch «Stickereien» für Mama zu vollenden. Hoffentlich kappt sie uns nicht zusammen. – Von Pima kam heute ein Bericht, wonach es ihr besser geht, aber Erminio sei noch recht kopfmüde [sic] und habe viel verlernt. – Auch von August kam ein ½ englisch, ½ deutsch geschriebener Brief, den er im Mai angefangen, Mitte November fortgeschickt hat. Es sind 2 englische, socialistische Gedichte darin, die er einer Sozialistisch [?] Zeitung schickte. Povero Augusto, wenn er nur seine Weltverbesserung mit sich anfangen wollte. Er schreibt[,] dass er sich ein neues Haus baue, um es zu vermieten an Sommerfrischler, das Geld dazu nehme er aus dem Verkauf eines Theiles seines Terrains, das wird er am Ende nach und nach verbuttern? – Mit Minna ist er noch nicht versöhnt, faselt noch von Scheidung, es gaebe genug netter, junger Mädchen dort, die ihn gleich nähmen. – Zia Claudia hatte leider auch wieder eine Bronchitis, ihrer Teresa gab sie sechsfachen Monatsgehalt, die Entlassung & bin ich froh[,] diese unverschämte Person nicht mehr empfangen zu müssen.

Gina bitte ich auch[,] den verehrten Eltern Wenner, und der l. Silvia, Fatios, Schlaepfers meine besten Festwünsche auszusprechen. Mama & Lili wollen ja auch noch direct schreiben. So empfanget von mir Küsse & Grüsse in Hülle & Fülle.

Euer Euch sehr liebender

Papa.

Pima war die familieninterne Abkürzung und der Kosename von Pauline Maria Andreae-Andreae (1873-1953). Sie war die älteste Tochter von Alexander und Lily Andreae-Stumpf und ab 1891 mit einem Vetter ihres Vaters, Conrad Andreae (1863-1947) verheiratet. Conrad Andreae war Bankier in Frankfurt und deutscher Konsul in Genua. Die Villa des Ehepaars in Rapallo bildete einen Mittelpunkt des Gesellschaftslebens. Hier waren u.a. auch Cosima und Siegfried Wagner, Gerhart Hauptmann sowie Kurban Said (Essad Bey) zu Gast.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/128.1.1918 (Korrespondenz Fritz und Maria Wenner-Andreae) und W 054/129.1 (Beitragsbild aus Fotoalbum Fritz und Maria Wenner-Andreae)

Bischof Buerkler in der Kutsche

Mittwoch, 13. Juni 1917 – Der Bischof kommt ins Dorf

In Oberbüren erwartete man den Bischof, um die Firmung durchzuführen. Der Besuch löste im Dorf einiges an Vorbereitungsarbeiten aus. So hielt Architekt Thürlemann in seinem Tagebucheintrag vom Montag, 11. Juni 1917, fest:

Caroline arbeitete von 3 h Nachmittags bis abends 9 Uhr bei Nachbar Carl Bauer, der auf die Ankunft des Bischofs Robert Bürkler von St.Gallen am nächsten Mittwoch Abend, einen Triumphbogen (mit Tannenreis geziert) erstellen will.

Im Eintrag zum Mittwoch steht dann zu lesen:

Von 10 bis ½ 12 Uhr vormittags wurde bei unserem Gemüsegarten an der Strasse nach Niederwyl ein einfacher Triumphbogen, zum Empfange des Landesbischofs aufgestellt.

«Salve Roberte!» – Die Arbeit wurde von Nachbar Carl Bauer, Sekretär Escher & Gallus Hälg ausgeführt.

[…]

Um 4 Uhr begab ich mich in den «Hirschen» & gieng mit Julia & Ludwig zur Kirche, um uns dem Zuge zur Abholung des Bischofs Robert Bürkler anzuschliessen. Es nahmen wenige Männer Theil. – Um 4 ¼ h erschien der Bischof in Kutsche – von Niederwyl her, begleitet von Regens Dr. Rohner & zwei Abgeordneten hiesiger Kichenverwaltung: Präsident T. A. Stolz (Ktrth:) und Vorsteher Mrd Bächtiger vom Thurhof.

Beim Triumphbogen an unserem Garten stieg der Bischof aus & kleidete sich an. Er wurde dann unter dem Traghimmel in Begleitung des Ortspfarrers Ernst Scheffold & Beichtiger J. B. Lüthi von Glattburg mit Kreuz und Fahnen zur Kirche begleitet. – Es begann zu regnen.

Hier sang der Chor das Veni creator Spiritus & der Bischof ertheilte den Segen. – Regens Dr. Rohner verlas den auf heute & morgen bewilligten Ablass von 40 Tagen & für die Mitglieder der ewigen Anbetung vollkommenen Ablass.

Hierauf Seelenvesper für

… [so im Tagebuch zwei Linien mit Punkten am Anfang]

Hernach nochmaliger Segen & Rückzug des Bischofs in’s Pfarrhaus – ca. 5 ¼ h.

Auf dem Heimwege strömender Regen.- /: Unterstehen bei der Scheuen des Emil Kempter zum «Frohsinn». :/

Rückkunft nach Hause um ½ 6 h. Ich war ganz durchnässt wie alle andern Leute auch.

Hier trank ich den Kaffee und bereinigte später mein Tagebuch.

Caroline begab sich um ½ 8 Uhr abends zur Kirche (Abendsegen) um auch ihre Beichtandacht zu machen. Sie kehrte um ½ 9 Uhr nach Hause zurück. (: Beichte bei Regens Rohner)

Um ½ 10 Uhr begab ich mich zur Ruhe.

Der eigentliche Firmgottesdienst fand dann am Donnerstag, 14. Juni 1917, statt. Thürlemann beschrieb die Festlichkeiten in seinem Tagebuch wie folgt:

Morgens 1/2 6 h begab sich Caroline zur Kirche, um die Hl. Communion zu empfangen.

Gegen ½ 7 Uhr folgte auch ich nach & wohnte der Frühmesse des Bischofs bei. Hernach theilte er die Hl. Communion aus. – Nach dem Gottesdienste Grabbesuch. –

Gegen ½ 8 h kehrte ich wieder nach Hause zurück & nahm das Morgenessen. –

Hernach Vorbereitungen zum Festgottesdienste.

Um ½ 9 Uhr begann derselbe.

Die Firmlinge hatten sich mit ihren Pathen beim neuen Schulhause um 8 Uhr versammelt & zogen um 8 ¼ Uhr in die Kirche ein. – Es waren 89 Kinder.

Um ½ 9 Uhr Einzug des Bischofs in die Kirche. (:Veni Creator:) Hierauf Predigtlied & Predigt von Bischof Robert Bürkler.

Text: «Wir aber haben nicht den Geiste der Welt empfangen, sondern den Geist aus Gott!»

  1. Epist. Pauli ad Corinth. 2.12

Das Sakrament der Firmung ist das Sakrament der Stärkung & Befestigung. Besonders die Jugend hat für alle Anstürme der Welt & des Satans eine Kräftigung nöthig, um in diesem unausgesetzten Kampfe des Weltgeistes & des Geistes der Finsternis nicht zu unterliegen.

Der ganze Lebenslauf des Menschen ist ein Kampf dieser 2 Geister, des bösen Geistes und des guten Geistes, und der Apostel Paulus sagt, dass wir nicht den Geiste der Welt, sondern den Geist aus Gott (in der Hl. Taufe) empfangen haben.

  • Thl. Die Kennzeichen des bösen Geistes.
  • Thl. Die Kennzeichen des guten, heiligen Geistes.

Der böse Geist ist:

  • ein hochmüthiger Geist.
  • ein unreiner Geist.
  • ein feindseliger Geist.

Wer diese Kennzeichen an sich bemerkt, wende sich mit aller Entschiedenheit davon ab & folge dem guten, heiligen Geist, dessen Merkmale denjenigen des bösen Geistes entgegengesetzt sind.

Der gute Geist ist:

  • ein demüthiger Geist.
  • ein reiner Geist.
  • ein friedfertiger Geist.

Mit eindringlichen Mahnungen zu einem reinen, keuschen, heiligen Leben, empfiehlt der Bischof als bestes Mittel im Kampfe dieser Geister, den öftern Empfang der Hl. Sakramente & fleht auf die Firmlinge die Gaben des Hl. Geistes herab.

Nach der Predigt segnet der Bischof: Rosenkränze, Kurzifixe, Medaillen, Skapuliere u. drgl. & dankt für den freundlichen Empfang. Dann ertheilt er den Segen für alle Anwesenden & die Zuhausegebliebenen.

Hierauf 5 Vater Unser für die Firmlinge & Jene, die den vollkommenen Ablass erlangen wollen.

Dann stille Messe von Ortspfarrer Ernst Scheffold mit Gesang seitens der Kinder. (:Singmesse:)

Von ¾ 10 Uhr an Erhteilung der Firmung durch den Bischof.

Mein Bruder Ludwig hatte Pathenstelle zu versehen bei deinem Knaben des Nachbars Forrer: Gebhard Forrer.

Auch meine Nichte Julia hatte das gleiche Amt für ein unbekanntes Mädchen [Auslassung im Tagebuch] Stolz, bürgerlich von Oberbüren. –

Nach der Firmung, die der Bischof im weissen Ornat spendete, bestieg Ortspfarrer Scheffold die Kanzel & hielt eine Danksagungsandacht mit Erneuerung der Taufgelübde & 3 Vater Unser.

Hierauf ertheilte der Bischof vom Hochaltare aus den letzten Segen & damit war die Feier geschlossen, & der Bischof mit dem Baldachin in das Pfarrhaus begleitet.

Die Ceremonie hatte bis ½ 11h gedauert.

Ludwig & Julia nahmen ihre Firmlinge mit nach Hause, in den «Hirschen» & Wir [sic] speisten um ½ 12 Uhr zu Mittag. –

Nachmittags von ½ 2 bis 2 Uhr fand in der Kirche nochmals eine Andacht zu den 7 Gaben des Hl. Geistes für die Firmlinge statt. – Fast Alle wohnten derselben bei: – Hernach wurden von Einigen Ausflüge nach Auswärts gemacht.

Die Leute setzten heute ihre Heuernte fort & führten viel Futter ein.

Ich besorgte nachmittags Büreauarbeiten.

Um 3 ¼ h nachmittags verreiste der Bischof unter Glockengeläute nach Kloster Glattburg.

Den Abend brachte ich mit schriftlichen Arbeiten zu.

Caroline half im Verlaufe des Nachmittags (1/2 4 h bis 5 h) meinem Bruder Carl beim Heuen. (:Wiese im «Reckholder» : ) –

Ich begab mich um 9 ¼ h zur Ruhe.

Nächster Beitrag: 16. Juni 1917 (publiziert am: 16. Juni 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035a (Tagebuch Thürlemann) sowie ZOA 004/1.3.07 (Fotosammlung Psychiatrische Klinik Pfäfers: Bischof in der Kutsche, links sitzend, Ort unbekannt, ca. 1920) und BMA 063 (Porträtbild von Bischof Robert Bürkler, 1863-1930)

Sonntag, 13. Mai 1917 – Zufall? Schicksal? Oder doch göttliche Fügung?

Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, trifft zu seinem Leidwesen viel zu selten auf die von ihm verehrte Margrit Peter. Umso kostbarer sind deshalb diese Momente des Aufeinandertreffens:

Ich komme in Versuchung, an einen Zufall mit eigenem Willen zu glauben, und glaube, er ist mir günstig gesinnt. Es ist das dritte Mal, dass ich mit Margrit P. zusammengekommen bin, ohne es zu ahnen. Nein, das ist falsch; ich will sagen, ohne einen Anhaltspunkt für diese Möglichkeit zu haben; denn geahnt habe ich es jedesmal so ungefähr; jedesmal habe ich vorher immer noch viel mehr als sonst an sie denken müssen. – Dieses Zusammenkommen war gestern am 12. Mai.

Wir, die ganze Familie, machten einen Ausflug ins Nidelbad und wollten um 2 Uhr mit dem Schiff abfahren, haben dann dieses Schiff verpasst und warteten auf das nächste (um 3 Uhr ab). War jetzt das ein blinder Zufall, dass wir das erste Schiff verpassen mussten und erst das zweite nahmen, auf dem Margrit P. war? Und weiter war es gewiss auch nicht blinder Zufall, der sie allein auf das Schiff brachte, während sie es mit einer Freundin ausgemacht hatte. Sie wollte nämlich zu einer anderen Freundin nach Kilchberg; weil sie nun ganz allein war, setzte sie sich zu uns her und wir unterhielten uns, bis sie in Kilchberg ausstieg. Diese freundliche Begegnung ist mir umso wichtiger, weil ich gerade vorher noch mich ihretwegen sehr aufgeregt hatte. Sie hatte nämlich in der letzten Woche, wie es mir schien, absichtlich alles versucht, mich nicht zu sehen, wenn wir in der Rämistrasse uns begegneten. Einmal versteckte sie sich geradezu hinter einer andern und eben gestern Samstag Morgen bemerkte ich, dass nur ihre Freundin meinen Gruss erwiederte, sie hingegen gradaus sah. Das konnte ich mir nicht erklären; es regte mich sehr auf; zuerst war ich sehr erstaunt, dann unglücklich und schliesslich empört. Denn ich war mir keiner Dummheit oder Flegelhaftigkeit ihr gegenüber bewusst. Dass sie aber launisch sei und einfach nicht mehr grüssen wollte, konnte ich natürlich nicht glauben; deshalb quälte mich ihr Benehmen, aber immer mehr kam ich bei meinem eigenen ruhigen Gewissen in Ärger und Trotz. Es kostete mich allerdings viel, meinen Kummer in Trotz umzusetzen; aber da ich glaubte, ihn so schneller verwunden zu haben, bemühte ich mich darum und war schon im Begriff, ein paar wutentbrannte (d.h. im Innersten natürlich unwahr empfundene) Verse zu leimen, die etwa so begonnen hätten:

«Die Liebe ist zum Teufel,

Die Sehnsucht hat ein End.

Ich pfeife auf ein Mädchen,

Das mich mit Fleiss nicht kennt.»

Denn ich war schon ganz überzeugt, dass ich nichts mehr dagegen machen könne. Erklärung verlangen konnte ich nicht, da ich sie nicht einfach auf der Strasse anreden wollte und konnte, umso weniger, als sie mich ja scheinbar nicht mehr kannte. Und auf anderm Weg als durch mich selber wollte ich nichts erfahren, schon weil ich überhaupt niemand etwas davon wissen lassen wollte.

Und jetzt kam mir der gute Zufall wieder zu Hilfe, wie schon 2 mal. (Das erste Mal, dass ich mit ihr zusammen kam nach dem Konzert des Schülerorchesters, das andere Mal im Nikisch-Konzert.) Die Bekanntschaft wurde wieder aufgefrischt und gleichzeitig brachte sie die Nachricht, dass nächsten Mittwoch unsere Tanzgesellschaft im Zürichhorn zusammenkomme. Dort bietet sich mir vielleicht Gelegenheit, Aufschluss über ihr sehr rätselhaftes Gebahren zu bekommen. Denn soviel vertraue ich meinen Augen doch, dass sie auch noch nicht falsch sehen, selbst wenn sie Margrit P. sehen. Freilich schaue ich immer nur so ganz schnell hin beim Grüssen, dass ich doch nicht so ganz sicher bin. Immerhin bin ich jetzt sehr gespannt auf den Mittwoch-Abend.

Ich will hier noch einen Zettel abschreiben, den ich vor einigen Wochen vollgeschrieben habe. Woher ich damals den Gedanken bekam, weiss ich nicht:

Meine Lebensanschauungen haben immer gewechselt und haben in gewissem Sinn schon die meisten der unterschiedlichen Formen gehabt:

1.) Als Kind vor dem Beginn selbständigen Denkens: Realist; die Sachen, soweit man sie kennt, werden genommen, wie sie sich darstellen, und was sich nicht darstellt, existiert nicht. Der liebe Gott stellt sich auch dar; nämlich im Himmel sitzt er. Er ist nur zu weit weg, um gesehen zu werden. Aber hinter dem blauen Vorhang sitzt er und sieht uns doch, weil er ja durch alles durchsieht. (Mit 11 Jahren schwache Ahnung von Liebe, die sich aber mit Eintritt der Flegeljahre in eine Art trotzige Feindschaft gegen das betreffende Wesen umwandelt. Von da an eine Zeitlang überhaupt Mädchenfeind, nachher tritt an Stelle der Feindschaft Gleichgültigkeit, bis auf weiteres.

2.) Selbständiges Denken. Trotz Konfirmation Ausbildung zum Skeptiker, aber gleichzeitig infolge vieler neuer Eindrücke starker Mystiker. Zeitweise verschwindet der Zweifel, kommt aber immer bald wieder.

3.) Mit 18 Jahren Sieg des Skeptizismus über die Mystik. Eine oberflächlich verstandene Religionsphilosphie in der Schule verschärft den Kampf um einen persönlichen Gott. Bald ist der persönliche Gott ganz verloren gegangen. (Abendmahl unmöglich geworden, ebenso Beten.) Oft beinahe Ausbruch der Verzweiflung oder bittere Resignation, die sich sogar manchmal Spöttereien gegen religiöse Dinge erlaubt. Allmählich geistige Erschlaffung; das Gedächtnis ist ganz unfähig.

4.) Erste Liebe (mit 19 Jahren), urplötzliches Aufrütteln des Lebensmutes. Romantik. Ein wenig: carpe diem!

Ich werde alles versuchen, mir den Glauben an einen persönlichen Gott wieder zu erringen und darauf eine eigene Religion aufzubauen; denn unsere Kirchenreligion kann ich nicht halten.

Nächster Beitrag: 31. Mai 1917 (erscheint am 31. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 076/3.27.109 (Hafen von Rheineck, Anlegestelle mit Schiff «Bavaria», ca. 1914)

Samstag, 30. Dezember 1916 – „Ein Jahr von Blut und Eisen“

Tagebucheintrag von Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Sekretär des Schweizerischen Christlichen Textilarbeiterverbands (1910-1916), später Kantonsrat und Nationalrat sowie Mitbegründer der Christlichsozialen Bewegung:

Es neigt ein Jahr dem Schlusse zu. Ein Jahr von Blut und Eisen. Ach Gott, welches Unglück hat 1916 der Welt wieder gebracht. Ich habe zwar Anlass nur zum Danken gegenüber Gott, dem allmächtigen Vater. Meine Familie blieb von grösseren Unbilden glücklicherweise verschont. Das Jahr 1916 hat den Tod des Kollegen Lander gebracht. Da vorläufig kein Ersatz bestimmt wurde, hat meine Arbeit gewaltig zugenommen. Um einen besseren Verdienst zu haben, sah ich mich veranlasst, die Amtsvormundschaft in der Gemeinde Tablat zu übernehmen. Ich kann so wieder ein Gebiet studieren und wieder ein Stück Leben kennenlernen.

Heute bekomme ich von Trogen unerwartet Bericht, dass mein Bruder Franz dort schwer krank darniederliegt. Auf telefonisches Befragen erklärt man mir, dass mein Bruder Franz sehr ernst erkrankt ist und Todesgefahr besteht. Ich veranlasse mit Charge-Express den hochwürdigen Herrn Pfarrer Eberle in Speicher meinen Bruder sobald als möglich zu besuchen, um ihm doch den letzten Trost rechtzeitig spenden zu können. Hoffentlich kann mein Bruder mit gutem Verstand die heiligen Sakramente empfangen. Möge Gott ihn am Leben erhalten.

Im nachfolgenden Tagebucheintrag vom 31. Dezember 1915 heisst es, der Vater habe den Bruder besucht. Es gehe dem jungen Mann noch nicht gut, aber es scheine nicht allzu gefährlich zu sein.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1

Freitag, 15. Dezember 1916 – 20‘000 Fr. Bettagskollekte im Kanton St.Gallen

Im Amtsblatt wurde das Resultat der am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag in den Gotteshäusern eingegangenen Kollekte publiziert.

Bettagskollekte 1916.

Polit. Gemeinden Fr. Polit. Gemeinden Fr.
St.Gallen 3,990.83 Quarten 238.—
Tablat 810.03 Amden 50.—
Wittenbach 239.50 Weesen 136.10
Häggenschwil 49.— Schänis 110.—
Muolen 81.50 Benken 84.40
Mörschwil 138.81 Kaltbrunn 92.—
Goldach 200.52 Rieden 35.60
Steinach 61.— Gommiswald 50.30
Berg 31.30 Ernetschwil 29.—
Tübach 51.— Uznach 104.65
Untereggen 42.— Schmerikon 63.45
Eggersriet 73.— Rapperswil 267.55
Rorschacherberg 86.35 Jona 203.—
Rorschach 466.40 Eschenbach 96.—
Thal 307.80 Goldingen 68.50
Rheineck 220.— St.Gallenkappel 68.30
St.Margrethen 162.— Wildhaus 107.—
Au 135.— Alt St.Johann 152.—
Berneck 215.— Stein 55.—
Balgach 116.60 Nesslau 229.—
Diepoldsau 135.— Krummenau 220.10
Widnau 162.— Ebnat 241.70
Rebstein 197.30 Kappel 195.20
Marbach 155.— Wattwil 379.—
Altstätten 409.32 Lichtensteig 300.—
Eichberg 57.10 Oberhelfenschwil 57.20
Oberriet 218.30 Brunnadern 37.—
Rüthi 76.— Hemberg 109.85
Sennwald 110.— St.Peterzell 100.60
Gams 238.20 Krinau 43.—
Grabs 510.— Bütschwil 181.50
Buchs 405.50 Lütisburg 151.—
Sevelen 155.90 Mosnang 80.—
Wartau 170.— Kirchberg 143.54
Sargans 126.— Mogelsberg 85.—
Vilters 50.90 Ganterschwil 54.20
Ragaz 140.50 Jonschwil 50.—
Pfäfers 76.60 Oberuzwil 229.—
Mels 200.— Henau 287.50
Flums 254.10 Flawil 510.—
Wallenstadt [sic] 269.70 Degersheim 266.60
Wil 448.75 Gossau 282.12
Bronschhofen 67.— Andwil 81.05
Zuzwil 88.80 Waldkirch 98.20
Oberbüren 174.— Gaiserwald 113.80
Niederbüren 103.— Straubenzell 705.94
Niederhelfenschwil 125.50 Total 19,763.56
   

 

   
  Bezirke:

 

   
St.Gallen 3,990.83 See 950.75
Tablat 1,180.03 Obertoggenburg 1,200.—
Rorschach 1,150.38 Neutoggenburg 1,026.65
Unterrheintal 1,453.40 Alttoggenburg 556.04
Oberrheintal 1,113.02 Untertoggenburg 1,482.30
Werdenberg 1,589.60 Wil 1,007.05
Sargans 1,355.80 Gossau 1,381.11
Gaster 508.10 Total Fr. 19,945.06

                                 Publiziert im Auftrage des Regierungsrates.

                                 St.Gallen, den 11. Dezember 1916.

                                                                                 Die Staatskanzlei.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZA 001 (Amtsblatt für den Kanton St.Gallen, 91. Jg., Bd. II, Nr. 24 vom 15. Dezember 1916, S. 884f.) und P 720 (1880 erbaute Synagoge an der Frongartenstrasse in St.Gallen, in: Die Eisenbahn, Bd. 13, Heft 14 vom 2.10.1880, S. 88a)