Sonntag, 13. Mai 1917 – Zufall? Schicksal? Oder doch göttliche Fügung?

Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, trifft zu seinem Leidwesen viel zu selten auf die von ihm verehrte Margrit Peter. Umso kostbarer sind deshalb diese Momente des Aufeinandertreffens:

Ich komme in Versuchung, an einen Zufall mit eigenem Willen zu glauben, und glaube, er ist mir günstig gesinnt. Es ist das dritte Mal, dass ich mit Margrit P. zusammengekommen bin, ohne es zu ahnen. Nein, das ist falsch; ich will sagen, ohne einen Anhaltspunkt für diese Möglichkeit zu haben; denn geahnt habe ich es jedesmal so ungefähr; jedesmal habe ich vorher immer noch viel mehr als sonst an sie denken müssen. – Dieses Zusammenkommen war gestern am 12. Mai.

Wir, die ganze Familie, machten einen Ausflug ins Nidelbad und wollten um 2 Uhr mit dem Schiff abfahren, haben dann dieses Schiff verpasst und warteten auf das nächste (um 3 Uhr ab). War jetzt das ein blinder Zufall, dass wir das erste Schiff verpassen mussten und erst das zweite nahmen, auf dem Margrit P. war? Und weiter war es gewiss auch nicht blinder Zufall, der sie allein auf das Schiff brachte, während sie es mit einer Freundin ausgemacht hatte. Sie wollte nämlich zu einer anderen Freundin nach Kilchberg; weil sie nun ganz allein war, setzte sie sich zu uns her und wir unterhielten uns, bis sie in Kilchberg ausstieg. Diese freundliche Begegnung ist mir umso wichtiger, weil ich gerade vorher noch mich ihretwegen sehr aufgeregt hatte. Sie hatte nämlich in der letzten Woche, wie es mir schien, absichtlich alles versucht, mich nicht zu sehen, wenn wir in der Rämistrasse uns begegneten. Einmal versteckte sie sich geradezu hinter einer andern und eben gestern Samstag Morgen bemerkte ich, dass nur ihre Freundin meinen Gruss erwiederte, sie hingegen gradaus sah. Das konnte ich mir nicht erklären; es regte mich sehr auf; zuerst war ich sehr erstaunt, dann unglücklich und schliesslich empört. Denn ich war mir keiner Dummheit oder Flegelhaftigkeit ihr gegenüber bewusst. Dass sie aber launisch sei und einfach nicht mehr grüssen wollte, konnte ich natürlich nicht glauben; deshalb quälte mich ihr Benehmen, aber immer mehr kam ich bei meinem eigenen ruhigen Gewissen in Ärger und Trotz. Es kostete mich allerdings viel, meinen Kummer in Trotz umzusetzen; aber da ich glaubte, ihn so schneller verwunden zu haben, bemühte ich mich darum und war schon im Begriff, ein paar wutentbrannte (d.h. im Innersten natürlich unwahr empfundene) Verse zu leimen, die etwa so begonnen hätten:

«Die Liebe ist zum Teufel,

Die Sehnsucht hat ein End.

Ich pfeife auf ein Mädchen,

Das mich mit Fleiss nicht kennt.»

Denn ich war schon ganz überzeugt, dass ich nichts mehr dagegen machen könne. Erklärung verlangen konnte ich nicht, da ich sie nicht einfach auf der Strasse anreden wollte und konnte, umso weniger, als sie mich ja scheinbar nicht mehr kannte. Und auf anderm Weg als durch mich selber wollte ich nichts erfahren, schon weil ich überhaupt niemand etwas davon wissen lassen wollte.

Und jetzt kam mir der gute Zufall wieder zu Hilfe, wie schon 2 mal. (Das erste Mal, dass ich mit ihr zusammen kam nach dem Konzert des Schülerorchesters, das andere Mal im Nikisch-Konzert.) Die Bekanntschaft wurde wieder aufgefrischt und gleichzeitig brachte sie die Nachricht, dass nächsten Mittwoch unsere Tanzgesellschaft im Zürichhorn zusammenkomme. Dort bietet sich mir vielleicht Gelegenheit, Aufschluss über ihr sehr rätselhaftes Gebahren zu bekommen. Denn soviel vertraue ich meinen Augen doch, dass sie auch noch nicht falsch sehen, selbst wenn sie Margrit P. sehen. Freilich schaue ich immer nur so ganz schnell hin beim Grüssen, dass ich doch nicht so ganz sicher bin. Immerhin bin ich jetzt sehr gespannt auf den Mittwoch-Abend.

Ich will hier noch einen Zettel abschreiben, den ich vor einigen Wochen vollgeschrieben habe. Woher ich damals den Gedanken bekam, weiss ich nicht:

Meine Lebensanschauungen haben immer gewechselt und haben in gewissem Sinn schon die meisten der unterschiedlichen Formen gehabt:

1.) Als Kind vor dem Beginn selbständigen Denkens: Realist; die Sachen, soweit man sie kennt, werden genommen, wie sie sich darstellen, und was sich nicht darstellt, existiert nicht. Der liebe Gott stellt sich auch dar; nämlich im Himmel sitzt er. Er ist nur zu weit weg, um gesehen zu werden. Aber hinter dem blauen Vorhang sitzt er und sieht uns doch, weil er ja durch alles durchsieht. (Mit 11 Jahren schwache Ahnung von Liebe, die sich aber mit Eintritt der Flegeljahre in eine Art trotzige Feindschaft gegen das betreffende Wesen umwandelt. Von da an eine Zeitlang überhaupt Mädchenfeind, nachher tritt an Stelle der Feindschaft Gleichgültigkeit, bis auf weiteres.

2.) Selbständiges Denken. Trotz Konfirmation Ausbildung zum Skeptiker, aber gleichzeitig infolge vieler neuer Eindrücke starker Mystiker. Zeitweise verschwindet der Zweifel, kommt aber immer bald wieder.

3.) Mit 18 Jahren Sieg des Skeptizismus über die Mystik. Eine oberflächlich verstandene Religionsphilosphie in der Schule verschärft den Kampf um einen persönlichen Gott. Bald ist der persönliche Gott ganz verloren gegangen. (Abendmahl unmöglich geworden, ebenso Beten.) Oft beinahe Ausbruch der Verzweiflung oder bittere Resignation, die sich sogar manchmal Spöttereien gegen religiöse Dinge erlaubt. Allmählich geistige Erschlaffung; das Gedächtnis ist ganz unfähig.

4.) Erste Liebe (mit 19 Jahren), urplötzliches Aufrütteln des Lebensmutes. Romantik. Ein wenig: carpe diem!

Ich werde alles versuchen, mir den Glauben an einen persönlichen Gott wieder zu erringen und darauf eine eigene Religion aufzubauen; denn unsere Kirchenreligion kann ich nicht halten.

Nächster Beitrag: 31. Mai 1917 (erscheint am 31. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 076/3.27.109 (Hafen von Rheineck, Anlegestelle mit Schiff «Bavaria», ca. 1914)

Freitag, 1. Dezember 1916 – Die Artistenfamilie Nock logiert im Hotel Bahnhof in Gossau

Oben: Seiltänzer auf einem Bild von Eugen Blondin, 1897.

Am 1. Dezember 1916 findet man im Fremdenbuch des Hotels Bahnhof in Gossau folgende Gäste eingetragen:

Fremdenbuch

Beim Cinematographenbesitzer Nok Vater und seinem Sohn Nok Carl handelte es sich um Mitglieder der aus Baden-Württemberg stammenden Artistenfamilie Nock. Diese Familie verbindet man weniger mit dem Kanton St.Gallen als die Zirkusfamilie Knie, welche in Rapperswil ansässig ist.

Wohnwagen

Eugen Blondin (1871-1960), der Maler der Beitragsbilder, war der Sohn von Henri Eugen und Nina Blondin-Knie (1844-1916, Schwester von Ludwig Knie-Heim). Zunächst wie seine Eltern als Zirkuskünstler tätig, ging er ab 1887 bei einem Deokorationsmaler in die Lehre. Nach mehreren Jahren der Wanderschaft erhielt er 1900 eine Anstellung in der Firma Reinwald in Stuttgart, wo er nebenberuflich zusätzlich mehrere Semester an der Kunstgewerbeschule studierte. 1912-1914 war er als Gehilfe des Professors Cissarz, dem Vorstand der grafischen Abteilung der Stuttgarter Kunstgewerbeschule, tätig. Nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit konnte er 1915 wieder bei Reinwald eintreten. 1917 zog man ihn in den Landsturm ein. Nach Kriegsende war er nochmals zwei Jahre bei Reinwald angestellt. Ab 1921 wohnte Blondin in der Schweiz, wo er bis Anfang der 1930er Jahre im Zirkus Knie den Kassierdienst versah. Danach arbeitete er wieder als Dekorationsmaler.

Unterschrift Blondin

1897 malte er ein Bild (s. Ausschnitte oben), das die Grössenverhältnisse zwischen Zirkusartisten, Arbeitern und einzelnen Maschinenteilen des englischen Schnelldampfers Lucania darstellt. Die Lucania war bis 1897 das weltgrösste Schiff und mit dem Blauen Band ausgezeichnet. Letzteres wurde an Passagierschiffe vergeben, welche einen Schelligkeitsrekord bei der Überquerung des nördlichen Atlantik aufgestellt hatten:

Bild

Es ist das bisher einzige Bild im Staatsarchiv St.Gallen, welches Leben und Arbeiten von Zirkusartisten illustriert.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 037 (Auszug aus dem Fremdenbuch des Hotels Bahnhof in Gossau) und W 236 (Bild von Eugen Blondin, 1893)

Samstag, 29. Juli 1916 – Kühne Pläne für Kraftwerke und die Hochrheinschiffahrt

Bericht über eine Exkursion der Sektion St.Gallen des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins:

Exkursion nach der Baustelle für das Kraftwerk Eglisau.

29. Juli 1916.

10 Mitglieder beteiligten sich an der Fahrt nach Eglisau resp. Station Zweidlen, in deren Nähe die Bauten für das Kraftwerk im Entstehen begriffen sind. Nach erfolgter Erläuterung des Projectes durch die Herren Ing. Gugler & Biveroni boten die Fundationen des Stauwehres grosses Interesse. Befriedigt über den Verlauf dieser Samstags-Nachmittag Excursion kehrten die Teilnehmer 9h Abends [sic] nach St.Gallen zurück.

C.K. [C. Kirchhofer, Ingenieur, Präsident der Sektion St.Gallen des SIA]

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 024 (Protokollbuch und Copie de lettres) und ZMH 64/703 (Neben dem Kraftwerk in Eglisau sollte auch eine Schleuse für die damals geplante Hochrheinschiffahrt gebaut werden (Briefkopf 1918). Der Grosse Rat des Kantons St.Gallen beriet 1916 über einen Staatsbeitrag an diese Schleuse.)