Alfred Schwarz

Mittwoch, 25. Dezember 1918 – Feiertage

Fortsetzung der Tagebucheinträge von Alfred Schwarz (vgl. Beiträge vom 23. und 24. Dezember 1918)

Was macht man an Feiertagen bei Tante und Onkel – ohne Fernsehen und ohne Radio?

25. XII. (Mittwoch) Ausgeschlafen bis 11 ¼ h. – Als letzter des «faulen Kleeblattes» (Hans, Evi & ich) im Weihnachtszimmer erschienen (nach ½ 12 h!). – Welti kommt! – Gleich darauf, auf dem Weg ins Esszimmer, entdeckt T. Martha «en Passant» im Musikzimmer «die strahlende Beleuchtung», so, wie wir sie am Weihnachtsabend zurückliessen!! – Nach dem Essen wieder im Christkindzimmer. – Schach mit T. Martha! – Welti kibitzt; Das Brautpaar geht spazieren, da das sonnige Wetter (mit Schneeluft!) dazu einlädt! – Mein Schachsieg! – Nun machen O. Ad., Hans & ich uns auf die Beine & fliegen ebenfalls aus. – Spaziergang an die Sihl, Kurfirstenstrasse (neue Villen) etc. – Bald nach unserer Rückkehr kommt auch das Brautpaar zurück. – Musizieren im Musikzimmer. Welti singt (Schubert: «Wanderer» etc.) – Dann Tante Martha! – Nochmaliges Vorspielen des Weihnachtsstücks von Hans! – etc. – Nachtessen. – Wieder im Weihnachtszimmer. – Plaudern, lesen etc. Nach Weltis Weggang auch bald allgemeines «Gute Nacht!» –

Beim Brautpaar handelt es sich um Eva Hug und Albert Jakob Welti. Sie heirateten 1920.

26. XII. (Donnerstag.) Um 10 Uhr beim Frühstück! – Dann wieder im Weih. Zimmer. – «Onkel Hans » (Langnese) kommt auf Besuch. (Ansehen der «Widmann-Bilder»!) – Schach mit Hans! – Mittagessen. – Wieder Schach. – Um ½ 3h Abmarsch von O. Ad., Hans & mir zur «Besteigung des Ütliberges.» – – Interessanter, «weicher» Aufstieg unter O. Ad. Führung. Hansens Fluchen! – Oben herrliche Aussicht! – Soldaten. – Noch interessanterer Abstieg! Glatteis! – Nirgends ein Halt! – Geländer – letzte Rettung! – Vergnügte Heimkehr um 6h. – T. Martha, Adölfli & Welti im Musikzimmer. – Musiziert! – Evi kommt heim. – Nachtessen. – Wieder im Weih. Zimmer. – Christbaum angezündet. – Punsch! (Evi’s interessante Frage punkto Zubereitung!) – Witze-Erzählen! (Shoking!) Verschiedene Spiele gemacht, Pfänder auflösen, etc. – Brissago [Zigarre] von Welti! – – Nachdem er aufgebrochen & adieu gesagt, kurz darauf: «Tableau!» (Wirkung!) – Dann ins Bett! –

Der im Text genannte «Onkel Hans» (Langnese) war der Schwiegersohn von Arnold Hug (1866-1905). Er leitete seit dem Tod seines Schwiegervaters die Leipziger Filiale des Musikhauses Hug, vgl. https://www.musikhug.ch/ueber-uns/geschichte/

27. XII. (Freitag) – Wecker auf 6 ¼h; Aufstehen, Packen & Abfahrt nach Winterthur um 7h.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/140.07-07 (Tagebuch Alfred Schwarz für die Weihnachts- und Neujahrstage 1917 und 1918) und W 054/144.03.10-02 (Alfred Schwarz, 1916)

Kronbergtour, Spiel

Sonntag, 23. Juni 1918 – Damen-tour auf den Kronberg

Der Schweizer Alpenclub SAC war lange Zeit eine reine Männerangelegenheit. Seit 1918 gab es zwar den Schweizerischen Frauenalpenclub, eine Fusion der beiden Gruppierungen fand jedoch erst 1980 nach intensiven Diskussionen statt. (vgl. u.a. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16457.php)

 

 

 

 

 

 

 

 

Der SAC St.Gallen führte für die Ehefrauen und Töchter der Clubmitglieder unter dem Titel «Damentour» jährlich eine leichtere Bergtour durch. Am Sonntag, 9.  Juni 1918, war man gemeinsam auf den Kronberg gewandert. Am Mittag hatte die Gruppe auf offenem Feuer gekocht (der den Männern aus dem Militär bekannte «eidgenössische Spatz»), danach getanzt und musiziert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Staatsarchiv St.Gallen ist momentan dabei, das Archiv des SAC St.Gallen aufzuarbeiten. Dabei sind auch Glasdiapositive zum Vorschein gekommen, welche die Tour dokumentieren. Im Gegensatz zu den digitalen Bildern von heute, die auf Knopfdruck sichtbar sind, mussten Negative früher erst entwickelt werden. Deshalb wird dieser Beitrag erst vierzehn Tage nach dem eigentlichen Ereignisdatum publiziert.

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 312/11.2.22.013 bis W 312/11.2.22.029 (Bestand SAC St.Gallen, Bilder der Damentour auf den Kronberg)

 

 

 

Naturfreunde

Sonntag, 2. Juni 1918 – Der sor-genbeladene Proletarier geniesst prächtige Fernsichten

Die Naturfreunde (und -freundinnen!) St.Gallen gingen wieder einmal auf Tour (vgl. frühere Beiträge zum 02.07.1916, 23.07.1916, 06.08.1916 und zum 27./28.05.1917). Hatte man in den Jahren zuvor anspruchsvolle Bergwanderungen im Alpstein und im Glarnerland unternommen, wanderte man nun auf bescheideneren Höhen kilometerweise und dadurch nicht weniger anstrengend durch das Appenzeller Vorderland.

St.Anton-Gebhardshöhe-Walzenhausen

Motto: Hinaus aus dem Hause, der Tag ist schön, / Hinaus auf die lieblichen, sonnigen Höhn! / Den Rucksack zur Stelle, den Bergstock zur Hand. / O herrliches Leben auf Bergeshöh’n, / Da wohnt der Friede, da ist es schön.

Was gibt es wohl Schöneres, als ein bis[s]chen Wandern im heimatlichen Hügelland, dazu noch im Frühling? Das ist ein Genuss, den sich auch der sorgenbeladene Proletarier leisten kann, denn noch sind Wanderlust und Lebensfreude nicht rationiert. Schon die blosse Aussicht der Teilnahme an einer Wanderfahrt lässt uns frohgestimmt sein und hebt uns hinaus über all den Alltagskram. – Die Sorgen hübsch zu Hause lassend, zieht man an einem milden Lenzmorgen hinaus in die blühende Natur. Mit oder ohne Ränzel und Wanderstab, Brot-, Fett-, Käse- und Landkarte in der Brusttasche wohl verwahrt, geht[‹]s früh morgens dem Appenzellerländli zu.

So war es auch am ersten Juni-Sonntag des vierten Kriegsjahres, als sich um halb 6 Uhr ein Häuflein wanderfroher Naturfreunde beim «Mühleck» [in St.Gallen-St.Georgen] zusammenfand. Das Wetter sah zwar nicht gerade einladend aus, graue Wolken zogen von einem leichten Nordost getrieben, am Himmel dahin. Unsere neun Touristen schienen jedoch in den Wettergott ein grosses Vertrauen zu haben, nur wenige hatten sich in vorsorglicher Weise die Pelerine umgeschnallt. Unter allerlei anregenden Gesprächen, Rede und Gegenrede tauschend, ging man munter durchs Philosophental und am Wenigerweier vorbei nach Vögelinsegg. In Speicher gab die Dorfmusik just ein Morgenkonzert; während wir ihren klangvollen Weisen lauschten, schlossen sich uns noch zwei Nachzügler an. Ohne Aufenthalt passierte [man] Trogen und nach kaum drei Stunden war das so hübsch gelegene Wald erreicht. Im Hof «Waldebene» ob dem Dorf war der Bauer gerade am Melken, bereitwillig überliess er den Hungernden von der köstlichen Milch. Allgemein wurde der Inhalt des Rucksackes einer Inspektion unterzogen und ein besonders Freigebiger regalierte [beschenkte] die Wandergenossinnen mit feiner Konfitüre.

Eine umfassende Rundsicht entzückt hier das Auge; vom waldumsäumten Kaien und heimeligen Rehetobel schweift der Blick bis weit ins Oberthurgau hinaus; Heiligkreuz, Rotmonten und der Tannenberg grüssen aus der Tiefe heraus. Im Westen liegen hinter den eben durchwanderten Orten die Erhebungen des Appenzeller Hinterlandes mit Sitz, Hundwilerhöhe und Kronberg. Die bewaldete Kuppe des Gäbris beschliesst die Rundsicht, links davon hängen die Regenwolken sehr tief. Vom Alpstein, der sich von hier aus prächtig ausnehmen dürfte, ist nichts zu sehen. Der kalte Wind vermochte unsere gute Stimmung nicht zu beeinflussen, mahnte aber doch zum Aufbruch[,] und über Bühl und «Tanne» pilgerte die Gesellschaft gemächlich nach St.Anton.

Bei der «Tanne» öffnet sich der Blick nach Osten, grüne Wiesen, waldreiche Hügel und freundliche «Heimeli» [kleine Heimstätten] bieten für das Auge angenehme Ruhepunkte. Um halb 10 Uhr kam die Gruppe auf St.Anton an. Rechts die ehrwürdige Kapelle, links ein behäbiges Gasthaus, dehnt sich unvermittelt das mittlere Rheintal mit dem staatlichen Flecken Altstätten unter uns aus. Wir sind auf dem östlichen Ausläufer des Alpsteins; gegen das Rheintal fallen die Hänge ziemlich steil ab, hin und wieder treten die nackten Nagelfluhfelsen zutage, während von Nordosten her das Gelände eine Hochebene bildet und gegen Wald und Kaien hin allmählich sich senkt. Um mit beschaulicher Ruhe die Aussicht geniessen und den Znüni einnehmen zu können, einigte man sich auf einen kleinen Halt; die einen wollten sich in der Wirtschaft gütlich tun, während die andern in der Nähe mitten auf einem Fussweg es sich bequem machten. Eine holde Fee im blauen Kleide verteilte brotkartenfreie Süssigkeiten, und fand damit allgemeines Lob. Die Fama will wissen, , es seien nun auf einmal drei Paare gewesen und der siebente im Bunde habe, in seiner Zurücksetzung, die Pfeife in Brand gesteckt und sich damit hinter seinen umfangreichen Rucksack verkrochen. Mehr kann ich nicht verraten!

Weil die Herbeischaffung der notwendigsten Lebensmittel heute die grösste Sorge ist, freute es uns besonders, zu sehen, wie in der weiten Rheinebene alles Land in sorgfältiger Weise bebaut wird. Von oben betrachtet, nehmen sich die ausgedehnten felder hinter Rebstein-Marbach und Altstätten wie ein einziger wohlgepflegter Garten aus. Das dunkle Grün der Mais- und Getreidepflanzungen wechselt mit den hellgelben, schon «geheuten» Wiesen, nebenan lassen sich «Schöchli» [Gras- oder Heuhaufen] und langgezogene Kartoffeläcker unterscheiden. Die rotbraunen Hausdächer verschwinden beinahe in dem sattgrünen Blätterdach der unzählichen Obstbäume. Möge die Mhüe der Landwirte durch einene reichen Ertrag belohnt werden, es kommt auch uns Städtern zugute, denn die Zufuhren an Nahrungsmitteln aus dem Auslande waren noch nie so unsicher wie gerade jetzt.

Bald nach 10 Uhr ward Oberegg erreicht, auf angenehmen Fusswegen durch Wiesen und Wald. Man muss es den Appenzellern lassen, sie verstehen es, ihren Ortschaften ein heimeliges, sauberes Aussehen zu geben. Von der Höhe schon bewunderten wir die reizvolle, geschützte Lage dieses Dorfes mit seinen vielen neuen Ziegeldächern. Die kleinen Häuschen inmitten hübscher Gärten machen einen wohnlichen Eindruck; hier stört kein lärmendes Getriebe die idyllische Ruhe. Die uns zur Verfügung stehende Zeit gestattete leider keinen Aufenthalt, es wurde direkt nach Blatten marschiert und durch dunkeln, geheimnisvoll träumenden Tannenwald nach Gerschwendi. Von allen Höhen zwischen Wald und Walzenhausen gefiel dem Berichterstatter diese am besten, die Rundsicht ist selten schön. Die Naturfreunde sind an diesem Punkt viel zu schnell vorbeigegangen, ein kurzer Halt hätte sich wohl gelohnt, die Ruhebänke am Waldessaum haben ja förmlich zum Verweilen eingeladen. Denn inzwischen hatte das Wetter mehr und mehr gebessert, lachender Sonnenschein begleitete die Wandernden.

Wieder trennte man sich in zwei Gruppen, die erstere fühlte sich durch die stolz im Winde flatternde weiss-rote Fahne unwillkürlich nach dem Restaurant Gebhardshöhe (892 Meter über Meer) hingezogen, die zweite zog eine Rast weiter unten am Waldrand vor, um in der eigenen Küche ein frugales Mahl zu bereiten. Auf der Terrasse der Sommerwirthschaft bietet sich eine prächtige Fernsicht: Von Fähnern und Hohen Kasten nach links folgen die bekannen Gipfel Falknis, Drei Schwestern, Scesaplana [Schesaplana], Zimbaspitze, Hoher Freschen, Staufen und weiterhin die Allgäuer Alpen. Unten die Ortschaften Dornbirn, Hohenems, Götzis und Rankweil. Im Vordergrund die ausgedehnte, vom Silberband des Rheins durchzogene Ebene, wo wir Lustenau, Heerbrugg, Diepoldsau, Schmitter, Altstätten, Oberriet usw. erkennen. Schnurgerade weisse Landstrassen verbinden die Dörfer untereinander und bringen wohltuende Abwechslung in das Landschaftsbild. Im Norden liegt der Bodensee vor dem Beschauer ausgebreitet. Von Bregenz schweift der Blick weit hinaus in schwäbische Gaue, um über das Schweizerufer nach Westen sich zu wenden, wo der Horizont durch waldige Höhen und einzelne Bauernhöfe abgeschlossen wird. Durch den Genuss einer solch weiten Rundschau wird die Anstrengung einiger Marschstunden reichlich aufgewogen. Aber auch für des Leibes Wohl ist gesorgt: wir wurden zu billigem Preise gut bedient, was hier ehrend erwähnt werden soll.

Beim Abstieg nach Walzenhausen ist leicht zu erkennen, dass hier ein rühriger Verkehrsverein an der Arbeit ist, die zahlreichen Waldwege und bequemen Ruhebänke sind gut unterhalten, die Wegweiser orientieren den Spaziergänger vortrefflich. Wo man sich auch befinden mag, überall gibt es herrliche Ausblicke. Am Hotel Rosenberg und prächtig gelegenen Friedhof vorbei sind wir bald auf dem Dorfplatz angelangt; nach einigem Zögern entschied sich die Gruppe dahin, bei der Strassenabzweigung nach Thal-Wolfhalden die Ankunft der zurückgebliebenen «Selbstversorger» abzuwarten. – Diese hatten beim Abkochen ein kleines Intermezzo. Freund Meyer offerierte von seiner Erbssuppe auch unserem jüngsten Mitglied Frl. Steinmann. Dabei ergoss sich das köstliche Eigenprodukt über ihr blaues Kleid. Dieses wurde kurz entschlossen an einem nahen Brunnen gewaschen[,] und bald waren alle Spuren des Missgeschickes verschwunden. Andere «Köche» befassten sich damit, die vom Baume fallenden Maikäfer vom Suppentopf fernzuhalten; sie wollten von dieser Würze, die eine Spassvogel ihnen zugedacht, absolut nichts wissen. Ueberhaupt ging es bei dieser Mahlzeit lustig und hoch her, von einer Einschränkung der Lebenshaltung war nichts zu bemerken!

In welchem Teil von Walzenhausen man sich auch aufhalten mag, überall überrascht das ausgedehnte Panorama. Der Bodensee aber wird – im Gegensatz zu früheren Zeiten – von keinem Schiffe belebt. Der einst rege Verkehr der Seeanwohner hat unter dem Einfluss des Krieges fast gänzlich aufgehört. –

Um 4 Uhr wurde der Weg nach Rorschach eingeschlagen. Bald ging es durch das windgeschützte, durch seinen Obstreichtum berühmte Dorf Thal. Am Buchberg rechts, mit seinem vielbesuchten Ausflugspunkt «Steinerner Tisch» am östlichen Ende, gedeiht der von Kennern gerühmte «Buchberger». Aber auch hier mussten die Rebberge zu einem schönen Teil dem heute so notwendigen und wohl nicht minder lohnenden Gemüsebau weichen. Beim Buchsteig, wo die Naturfreunde schon oft, das letzte Mal vor vier Wochen, bei ihrem altgewohnten Bluestbummel [sic] über den Fünfländerblick, Halt machten, gab[‹]s auch diesmal eine Rast. Der Rucksack wurde seines letzten Inhaltes beraubt und dann durch das idyllische Dörfchen Buchen und an der Kuranstalt Risegg vorbei dem See zu gepilgert. Der Weg ist heute von vielen Ausflüglern belebt, nicht minder die Hauptstrasse von Staad nach Rorschach, wo die zahlreichen Radler dem Spaziergänger den Staub um die Nase wirbeln. Zwei besonders Neugierige nahmen die im Entstehen begriffene moderne Seeparkanlage in Augenschein, welche wohl nicht wenige zur Hebung des Besuches unserer st.gallischen Hafenstadt beitragen wird. Schliesslich landeten die Naturfreunde alle wohlbehalten in der Volksküche zu Rorschach. Für das letzte Stück bis nach St.Gallen benützte ein Teil die Bahn, während die ganz Unentwegten auch diese Strecke noch unter die Füsse nahmen.

Wenn die zurückgelegte Tour auch ziemlich anstrengend war, hat sie dessenungeachtet durch ihre Abwechslung die Teilnehmer voll befriedigt. Ein schöner, genussreicher Tag liegt hinter uns, nach welchem man mit neuem Mute die Berufsarbeit wieder aufnimmt. Mögen den Naturfreunden noch viele ähnliche Sonnentage beschieden sein!

Berg frei!

Joh. Geuggis, Berichterstatter.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 285/2.06.1-2 (Naturfreunde St.Gallen, Tourenberichte 02.07.1916-12.04.1920, Text und Beitragsbild; zusätzliche Absätze der leichteren Lesbarkeit wegen eingefügt)

Giovanni Wenner

Dienstag, 11. September 1917 – Verwitwete Frau sucht Bleibe

Adele Berner-Wenner berichtete ihrer Schwester aus Zürich:

[Randnotiz:] Erhalten – i[n] Fratte

Zürich

Dienstag, 11. Sept. 1917.

Meine liebe Silvia

Ich will Euch auch wieder einmal Nachricht von uns geben, & hoffe es gehe Euch allen immer gut. – Zuletzt schrieb ich Dir beigeschlossen, in einem Brief an Mama, & unterdessen habe ich Mama’s Brief vom 25. Aug. bekommen, für den ich ihr sehr danken lasse.

Von Clara hörte ich gestern[,] dass Lili nicht mehr bei Maria ist, da stelle ich mir vor[,] dass Du gewiss öfter in Anspruch genommen bist. Wie geht es wo[h]l den Kindern? Kann Gianni jetzt ein wenig mehr zu essen bekommen? Wie [sic] entwickelt sich Valentin? nimmt [sic] er immer schön zu? – Ich frage mich oft[,] ob Ihr noch immer so warmes Wetter habt. Nimmst Du noch immer Meerbäder, & tun sie Dir gut?

Meine Pläne sind sehr unbestimmt, dadurch das man noch nicht festgestellt hat ob, & wann die Herbstferien sein werden. Der letzte Vorschlag wäre[,] dass die Kinder vom 26. Oct. an, etwa 3 Wochen Ferien hätten & dann vom 20. Dec. an, bis Ende Januar. Man sucht nach dem besten Mittel[,] Kohlen zu sparen, aber es ist sehr schwierig, weil es für arme Kinder ein grosser Nachteil ist, in der kalten Jahreszeit so lange Ferien zu haben. Auf jeden Fall will ich jetzt etwa am 22ten. zu Paul’s nach Bellevue gehen, & wenn es dann eben so spat wird[,] dass Alex für die Ferien nicht mehr zu ihnen kann, so muss ich mir einen Ort ausdenken, wo wir diese Zeit verbringen können. Für den Winter ist es auch schwer[,] etwas einzurichten, heute morgen hatte ich die grosse Enttäuschung von Fr. Pfarrer Leckner [?] zu hören, dass sie wahrscheinlich keine Pensionäre werde nehmen können. Ich muss mich nun noch da hinein denken. –

Heute haben wir seit langer Zeit zum ersten mal [sic] schreckliches Regenwetter, nachdem wir wundervolle Tage gehabt haben. Ich habe [2 Wörter unlesbar], mit Commissionen viel zu tun, aber ich habe doch oft Zeit[,] mit den Cousinen zusammen, mit Buch oder Arbeit bis nach dem Thee auf der Terrasse oder im Garten zu sitzen, was herrlich ist; nur diese Woche kann ich am Nachm. fast nie zu Hause sein. Alex sehe ich sehr oft, eigentlich fast jeden Tag, & er ist überglücklich mit seinem Velo, nur hat es letzthin einen Fall gegeben, wobei er zu Glück besser davongekommen ist, als sein Schutzblech! – Am Sonntag durften wir zum ersten mal [sic] Lorly sehen, die eine sehr schwere Operation durchgemacht hat, es musste ganz radical gemacht werden, aber der Arzt versichert[,] dass sie nachher wieder ganz gesund sein werde. Nach den ersten schlimmen Tagen erholt sie sich auch merkwürdig rasch. –

Rose ist erst vorgestern von Zermatt heim gekommen, & ich habe sie noch nicht sehen können. Jean musste schon früher heim kommen für die Schule, & habe ich einmal mit ihm und Alex im Sonnenberg zu abend gegessen. Er hat sich verändert seit letztem Jahr, er ist so recht in den männlichen Backfischjahren, hoffentlich gewinnt er nachher wieder nach jeglicher Richtung. Er ist so complet vom Sportstaumel ergriffen, dass Alex dagegen gar nichts ist; leider ist er sehr klein geblieben, & mit den langen Hose & dem “langen” Haar fällt es noch mehr auf.

Mama Berner ist seit bald 2 Wochen bei Dr. Bircher installiert, wo es ihr sehr gut gefällt.

Beppina gefällt es aber bedeutend weniger & sie behauptet[,] sie sei ganz schwach auf den Beinen vom wenig essen; das Müsli [Birchermüesli] schmeckt ihr eben gar nicht.

Wie sind wo[h]l die Photos gelungen, die Du von Gianni & Alex beim sägen [sic] gemacht hast?

Habt Ihr etwas über Arnold’s Hochzeit gehört, & bleibt dass junge Paar wirklcih in der Villa Predengano [?]?

Nun lebe recht wohl, liebes Kleinsele, grüsse die Eltern & Geschwister sehr herzlich, & Dich selbst auch von mir & von den Cousinen. Es umarmt Dich mit einem innigen Kuss

Deine Dich herzlich liebende

Adèle

Die Brüder Gianni (Giovanni) und Valentin Wenner waren die Kinder von Fritz und Maria Wenner-Andreae (vgl. u.a. Beiträge vom 7. März, 13., 20. und 21. April 1917). Über die Ess- und Trinkgewohnheiten sowie über die Verdauungsbeschwerden der Kleinen wird berichtet im Beitrag vom 12. Januar 1916.

Giovanni Wenner-Legler (1914-2010) war der Chronist der süditalienischen Textilindustrie mit Schweizer Wurzeln. Ihm ist es im Wesentlichen zu verdanken, dass das umfangreiche Familienarchiv gesammelt und im Staatsarchiv St.Gallen gesichert werden konnte.

Nächster Beitrag: September 1917 (erscheint amSeptember 2017)

 Quellen: W 054/127.4.2 (Briefe an Silvia Wenner) und W 054/74.41 (Beitragsbild: Giovanni Wenner auf Esel, ca. 1922)

Heuen in Pfäfers, zwischen 1901 und 1919

Samstag, 1. September 1917 – Landleben

Tagebucheintrag von Architekt Johann Baptist Thürlemann (1852-1939), Oberbüren:

Samstag, den 1. September 1917

meist heller & sonniger Tag. – Morgen angenehm kühl, etwas wolkig, doch ziemlich schön. Tagsüber vorherrschend Ostwind; gegen Abend Westwind. Himmel stets mit leichtem, wechselndem Gewölke besetzt. Nachmittag warm; es wurde geemdet; abend wolkig, Nacht ebenso; zeitweilig mondhell (Vollmond). Gegen Morgen trübe & bedeckt.

Morgens 6 h stand ich auf & trank den Kaffee. –

Von 7 bis gegen ¾ 8 h wohnte ich der Dreifaltigkeitsmesse bei. Hernach Grabbesuch.

Vormittags nahm ich die üblichen Samstagsarbeiten vor.

Nachmittags bereinigte ich mein Tagebuch & beschrieb hernach die Rückseite einer Photographie unseres sel. Grossvaters mit den Personalien desselben, in lateinischer Druckschrift.

Abends von 6 ¼ h bis gegen ½ 9 Uhr machte ich einen Spaziergang über das «Bild«, zum «Reckholder[«], zur Thur & deren Ufer entlang abwärts. Hernach quer über die Thurau zum «Burg«, Rütti, Buchen, Obergstalden & durch den Wald & die Wiesen nach Hause zurück. –

Hier durchgieng [sic] ich kurz die Zeitungen, nahm noch eine kleine Kollation & begab mich um ¾ 10 Uhr zu Bette. –

Mein Bruder Carl führte heute noch ein Fuder Emd vom «Unterziel» heim.

Nächster Beitrag: 3. September 1917 (erscheint am 3. September 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035b (Familie Thürlemann zum Hirschen, Tagebücher von Architekt Johann Baptist Thürlemann, 1852-1939, Text) und ZOF 002/01.56 (Bildarchiv Psychiatrische Klinik Pfäfers, Fotograf unbekannt, zwischen 1901 und 1919, Beitragsbild)

Lumiere Glasplatten

Freitag, 31. August 1917 – Architekt Thürlemann entwickelt Fotos

Tagebucheintrag von Architekt Johann Baptist Thürlemann (1852-1939), Oberbüren:

Freitag den 31. August 1917

trüber, bedeckter & kühler Herbstmorgen. Zeitweilig Regen. – Tagsüber meist wolkig & windig. Frischer Westwind. Hie & da ein Sonnenblick. Nachmittag meist düster & zuweilen etwas regnerisch. Sehr kühl. Abend eine Zeit lang sonnig; hernach stark bewölkt & dunkel. Nacht theils mondhell, theils bewölkt und regnerisch.

Vormittags bereinigte ich mein Tagebuch & besorgte Büreauarbeiten. Von 1 bis 4 Uhr nachmittags war ich mit Tonen & Fixieren der 6, gestern hergestellten Photographien beschäftigt. (1- ¾ 3h Tonen & Fixieren, ¾ 3 h bis 4 ¼ Uhr Wässern der Copien am Küchenbrunnen. – Die 4 Bilder 13 x 18 waren sehr befriedigend.

Abends stellte ich frischen Kleister her & zog die obigen 4 Bilder auf Carton auf.

Von 7 bis ½ 8 h abends besuchte mich mein Bruder Ludwig, wobei ich ihm ein Exemplar von obigen Bildern zum Geschenke machte. Er hatte grosse Freude daran & war voll Lobes über die gelungene vergrösserte Copie von Grossvaters Bildnis. –

Später las ich die Zeitungen und begab mich um ¾ 10 Uhr zur Ruhe.

Thürlemann verwendete Glasplatten der Firma A. Lumière & Ses Fils, Paris in drei Negativgrössen. In seinem Nachlass findet sich auch die im Beitragsbild zu sehende, nicht angebrochene Schachtel unbelichteter Negativplatten – sie sind über 100 Jahre alt. Die belichteten Negative bewahrte er in diesen Originalschachteln auf und schrieb auf die Deckel in seiner kleinen Schrift Sujets und Aufnahmedatum auf.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035b (Familie Thürlemann zum Hirschen, Tagebücher von Architekt Johann Baptist Thürlemann, 1852-1939 und Negativschachtel)

Donnerstag, 30. August 1917 – Caroline streitet

Tagebucheintrag von Architekt Johann Baptist Thürlemann (1852-1939), Oberbüren:

Donnerstag den 30. August 1917 –

trüber, kühler & regnerischer Morgen. – Herbstlich kühl. – Frischer Westwind. Bis Mitte Vormittag regnerisch, hernach allmälig aufheiternd; zuweilen ein Sonnenblick. Tagsüber meist wolkig & windig; doch im Ganzen hell & sonnig; Abend düster & bewölkt. Nacht vorherrschend mondhell. Gegen Morgen bedeckt & kalt.

Vormittags bereinigte ich mein Tagebuch & besorgte verschiedene Arbeiten.

Von ½ 9 h bis 9 h hatten Caroline, meine Haushälterin, und Wittwe [sic] Josepha ScheiwillerDudli (in der obern Wohnung) einen äusserst heftigen & widerlichen Streit wegen des Putzens im Hause, wobei es von [sic] gegenseitigen Beschuldigungen und Injurien hagelte. Mir war der Auftritt – an dem ich mich nicht betheiligte – äusserst unangenehm & peinlich. – Caroline war nachher sehr aufgeregt & zornig.

Auf Mittag hatten wir Ludwig zum Essen eingeladen, wozu Caroline vormittags die nöthigen [sic] Vorbereitungen traf. –

Von ½ 12 Uhr bis gegen ½ 2 h nachmittags war mein Bruder Ludwig bei uns.

Das Mittagessen bestand aus: Zwiebelsuppe; Schüblingen mit neuen, vortrefflichen Kartoffeln (Magnum bonum) in kleinen Schnitten an Mehlbrühe; eingemachten Birnen & als Getränk Most. Das Essen war sehr gut & Ludwig rühmte es sehr. –

Mittags 1 Uhr brachte mir mein Neffe Franz Most (16 Liter) & nachmittags brachte er mir einen Korb der prächtigsten Kochäpfel («Augstenäpfel»). –

Von 2 bis 3 Uhr nachmittags stellte ich 6 Copien vom Bilde meines Grossvaters her. 4 Abzüge 13 x 18 cm & 2 Abzüge 9 x 14 cm. Sie befriedigte mich nicht. –

Von 4 Uhr bis ¾ 5 Uhr nachmittags hatten wir den Kaminfeger Jacob Kutter von Brübach. Er war von seinem Sohne, der Lehrling ist, begleitet. –

Die Arbeit kostete: 80 rp.

Abends von ½ 5 h bis 6 Uhr fand beim «Hirschen» Pferdeeinschatzung statt.

Caroline putzte & scheuerte den ganzen Abend.

Ich bereitete abends aus Quarz kleine Stücke, behufs jeweiliger Auffüllung der photograph. Flüssigkeiten (: Entwickler) in den versch. Flaschen.

Um 9 Uhr setzte ich noch 2 phot. Platten (Lumière: 13 x 18 cm) in eine Kassette. –

Nachdem ich die Zeitungen gelesen, begab ich mich bald nach ½ 10 Uhr zu Bette.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035b (Familie Thürlemann zum Hirschen, Tagebücher von Architekt Johann Baptist Thürlemann, 1852-1939)

Morgenturnen in der Kuranstalt Sennrueti

Sonntag, 26. August 1917 – Vollständig nackt

Der Architekt Johann Baptist Thürlemann ging im Sommer öfters in der Thur baden. Die Badeplätze waren (ohne spezielle Signalisierung) streng nach Geschlechtern getrennt.

In seinem Tagebuch notierte Thürlemann jeden einzelnen dieser Badeausflüge, den ersten unternahm er am Dienstag, 19. Juni 1917. Auch am schwül-gewitterhaften Sonntagnachmittag des 26. August hatte er vor, sich an und in der Thur abzukühlen. Aber die Freude wurde dem strengen Katholiken gründlich vergällt:

Von 110 Uhr nachmittags bis 320 Uhr war ich an der Thur, um zu baden. An der Stelle, wo ich gewöhnlich bade[,] war ein junger Mann, vollständig nackt auf dem Uferkies ausgestreckt, um vermutlich ein «Sonnenbad» zu nehmen. Sein Körper war ganz braun, jedoch gut genährt & kräftig. – Ich wollte den Burschen nicht stören & zog Thurabwärts bis nach der Niederbürer Grenze, wo ich mit Mühe & Durchwaten eines Wasserstranges zu einer Badestelle gelangte. – Die Thur war gross, trübe & grüngelb von Farbe & das Wasser kalt. Ich badete ca. 1/4 Stunde & fühlte mich unbehaglich. Ich kehrte miss[ge]stimmt & unbefriedigt nach Hause zurück.

Mit dem jungen «Nacktbader» war die Lebensreformbewegung auch nach Oberbüren gekommen. Thürlemann war offenbar über diese Bestrebungen informiert, was aber nicht hiess, dass er sie billigte. Das Beitragsbild zeigt Frauen in der Kuranstalt Sennrüti bei Degersheim, die jeweils am Morgen im «Damenluftbad», zwar nicht nackt, aber für die Zeit des Ersten Weltkriegs doch sehr freizügig, Turnübungen im Sinn dieser Reformbewegung verrichteten.

Das war für eine Weile das letzte Mal gewesen, dass Thürlemann gebadet hatte. Erst am Mittwoch, 5. September notierte er wieder in sein Tagebuch:

Von 2 Uhr nachmittags bis 3/4 4 h war ich an der Thur & badete dort zum 16ten Male. Ich fand die Thur immer noch gross & das Wasser trübe & kalt. Ich badete von 1/2 3 – 3 Uhr & watete hinüber, an’s Billwiler Ufer. Hernach kehrte ich Thur-aufwärts über Steinufer & Wuhre zur «Dole» [von Thürlemann für den Gemüseanbau gepachteter Pflanzplatz], dann zum «Reckholder» & «Bild» nach Hause zurück.

Nächster Beitrag: 30. August 1917 (erscheint am 30. August 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, Wy 035a (Tagebuch Thürlemann) und ZMA 18/09.05-21(Kurhaus Sennrüti, Damenluftbad, zwischen 1910 und 1920)

 

Huetten

Pfingstmontag, 28. Mai 1917 – Das St.Galler Bachstelzentrio (Teil 2)

Das Aufwachen in der Alphütte am andern Morgen war für die Naturfreunde auf Pfingsttour alles andere als gemütlich. Der Berichterstatter notierte: […] meine Zähne klapperten mit wahrer Virtuosität, hielt der Autor des Berichts fest. Hier die Fortsetzung seines Berichts (Teil 1 vgl. Beitrag vom 27. Mai):

Morgens halb 5 weckte mich ein Juchzer aus dem Halbschlummer, denn ich konnte vor Frieren kaum schlafen, u. meine Zähne klapperten mit wahrer Virtuosität. Die andern beiden schliefen noch ruhig, als ich Sie [sic] durch türaushängen [sic] wekte, dieselbe vor die Schwelle legte u. die Herrschaften einlud[,] auf die so geschaffene Terrasse hinauszutreten[,] um den herrlich anbrechenden Tag zu bewundern. Das Morgenessen wurde auf später verschoben[,] wenn die Sonne uns mit Ihren wärmenden Strahlen durchdringen würde[,] was jetzt noch nicht der Fall war[,] denn es war noch ziemlich kühl, also war man schnell Marschbereit [sic] u. weiter gings zur Obersee-Alp hinunter, doch kaum hatten wir etwa 100 Schritte gemacht, welch trauriger Anblick bot sich uns? wo [sic] ehemals schöner Hochwald gestanden hatte, ragten nur noch abgebrochene Strünke in die Luft u. die Stämme lagen in wilden [sic] Chaos durcheinander. Hier musste eine ungeheure Lawine oder ein Orkan gewütet haben. ca [sic] 5 hektaren [sic] gross war die verwüstete Fläche. Bald haben wir uns durchgearbeitet u. gelangten zur Oberseealp vor der Hütte tummelten sich einige Touristen, über magere Alpweide gings in Südlicher [sic] Richtung der Sulzalp zu. Vor der Alp Kreuzegg an einem muntern Bächlein wird gelagert[,] um den Kulinarischen [sic] Genüssen zu fröhnen [sic], kaum fertig mit Essen u. Waschen eröffnet unser Photo-Fritze eine Tannzapfenschlacht[,] in dessen Verlauf der Berichterstatter einen Volltreffer an den Kürbis erhielt, u Hans einen in den Kochenden [sic] Thee als Zuputz.

Nach ca ¾ Stdg. Rast gehts weiter mit erst mässiger[,] dann starker Steigung einem Bach entlang über den Sulzboden zur Sulz 1387 m hinauf [.] Hier beginnt der Schnee, er ist aber schön zu begehen[,] denn er trägt. Die Vegetation bleibt immer mehr zurük u. die Gegend nimmt hochalpinen Charakter an. So erreichten wir nach 2 Std. steigen [sic] die Alp Lachen 1500 m. Hier befionden sich 2 offene gute Hütten mit schönem Heulager, nur an Wasser fehlts, so löschen wir halt den Durst mit Schnee u. Citronen[,] welche letztere Menzer noch mit Zuker versüste [sic] u. nach kurzer Rast gings weiter der Passhöhe zu[,] welche wir nach schönem Steigen in 1 Std erreichten. Nun eröffnet sich uns eine neue Welt, vor uns das gewaltige Glärnisch-Massiv, rechts davon schaut die schöne Pyramide des bösen Faulen herfor [sic] als schöne Fortsetzung Pfannenstock, Silbern, Pragelpasshöhe u. Schwarzstock. Direkt zu unserer rechten [sic] erhebt sich der Rädertenstock in schönen Schichtenbildungen, dreht man sich um[,] so reiht sich Stock an Stock[,] worunter der Brünnelistock mit 2150 m als höchster regiert, als letzter ist noch die Scheye mit 2261 m zu bemerken. Soeben beginnt der Photograph seine Arbeit[,] um die Umgebung auf seine Platten zu fesseln, auch auf uns zwei arme Sünder hat er es abgesehen, wir hatten gerade ein schönes Rasenplätzchen ausgemacht[,] um auszuruhen, da ertönt sein Kommando: rückwärts, etwas links, noch etwas, halt; wir wollens uns wieder bequem machen, doch welche Gemeinheit! unser [sic] Kommandeur hatte uns in den grössten Dreck hinein dirigiert, wi’s [sic] beim Militär üblich ist, unser Protest fand jedoch taube Ohren u. da er unerbittlich blieb[,] so fügten wir uns drein u. legten uns hien [sic,] sonst wären die Berge im Hintergrund eifersüchtig geworden auf unsere Grösse u. da dacht ich[,] Bescheidenheit ist eine schöe Zier, wenns auch einen drekigen Hintern kostet.

Halb 2 Uhr began der Abstieg, bis zur Alp Ober Längenegg gings Pfadlos [sic] über ziemlich steile[,] aber üppige Alpweide hinunter, dann ca 10 Min das Tälchen hinaus in Westlicher [sic] Richtung, dann begann ein Weg[,] wie wir noch keinen unter den Füssen hatten u. yeder [sic] Beschreibung spottet, der berüchtigte Brühltobelweg [im Alpstein] ist ohne Übertreibung ein Spaziergang dagegen, so geröllbesät u. steil wie er war[,] musste man springen[,] ob man wollte oder nicht, ein Wunder[,] dass dabei keiner den Fuss verstaucht hat, Freund Menzer sprang mit wahrer Todesverachtung voraus u. erreichte dann auch als erster die Pragelstr. Endlich hat die hüpferei [sic] ein Ende u so sind wir die 1000 m in 50 Min hinuntergesprungen. Nach 10 Min war das Gasthaus Vorauen erreicht[,] wo wir bei einer Flasche Bier etwas verpusteten, dann gings im Stechschritt dem Klönthalersee entlang. Unterwegs überholte uns ein Bauernfuhrwerk[,] welches wir aber etliche Male wieder einholten. Yedesmal [sic] wenn wir wieder in der Nähe desselben waren[,] bekam das Pferd wieder ein Fitz [einen leichten Schlag], denn der Bauer wollte nicht[,] dass wir Ihn [sic] überholten. Da gabs für un sein[en] lustiger [sic] Zwischenfall, das Wägeli war bereits wieder eingeholt, als dasselbe sich plötzlich vorne rechts runter neigte u. die biedern Leutchen beinahe mit dem Strahsengraben [sic] Bekanntschaft gemacht hätten[,] denn das vordere rechte Rad war herausgefallen, der Schaden war aber schnell wieder gut gemacht u. weiter gings 4 ¼ Uhr kam Netstal in Sicht[,] ehe wir ins Dorf hineinmarschierten[,] schlugen wir uns seitwärts in die Büsche[,] um etwas Toilette zu Machen, uner Photograph folgte zwar nur murrend, denn Ihn [sic] plagte der Durst[,] uns zwar auch nicht minder[,] doch war die Sache bald in Ordnung, dann gings am berühmten Löntschenwerk vorbei ins Dorf hinein zum Bahnhof. Die 5/4 Std Aufenthalt wurd[en] zu einer Erfrischung benützt.

10 Min vor der Zeit kam ein Extrazug angefahren[,] wihr [sic] verstauten uns dort drin trotz dem Ruf der Schaffner: nicht einsteigen, dann gings fort hinaus aus dem schönen Linththal [sic]. In Ziegelbrüke hiess es ausstigen[,] der Zug fahre nicht über Uznach, wider [sic] mehr als 1 Std. Aufenthalt u. endlich konnten wir wider [sic] einsteigen u. kamen mit ziemlicher Verspätung in Uznach an[,] wo der Toggenburger Zug schon auf uns wartete. Glüklicherweise war dieser schon dermahsen überfüllt[,] dass wihr 2. Cl. fahren konnten [damals gab es noch 3 Klassen in den Zügen], wie fuhr sichs da schön auf den weichen Polstern. Freund Menzer u. der Berichterstatter waren denn auch bald eingeschlafen, wä[h]rend Hans noch seinen Ruksak nach etwas essbarem [sic] durchstöberte u. sich an den Überbleibseln gütlich tat. Da wurden wir plötzlich Morpheus Armen entrissen, St.Gallen war erreicht.

Froh über die prächtig verlaufene Pfingsttour trennten wir uns u. 2 Tage der Freiheit waren vorüber.

Berg frei!

Teilnehmer: H. Weber, Menzer

der Berichterstatter: O. Schlegel.

Obwohl im Bericht immer wieder davon die Rede ist, dass einer der Teilnehmer fotografierte, finden sich keine Bilder der Tour, und auch Zeichnungen oder Skizzen der Berichterstatter, wie sie in anderen Schilderungen zu finden sind (vgl. z.B. Beiträge zum 2. Juli 1916 und vom 6. August 1916), gibt es keine. Das Beitragsbild ist dem zweiten Band der Tourenberichte der St.Galler Naturfreunde entnommen, man findet es dort auf der Titelseite.

Nächster Beitrag: 31. Mai 1917 (erscheint am 31. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 285/2.06.1-1 (Tourenbericht, der besseren Lesbarkeit wegen durch Absätze gegliedert) und W 285/2.06.2-1 (2. Band der Tourenberichte)

Berg frei

Pfingstsonntag, 27. Mai 1917 -Das St.Galler Bachstelzentrio (Teil 1)

Die St.Galler Naturfreunde begaben sich auf Pfingsttour. Der Autor des Tourenberichts, O. Schlegel (vgl. Unterschrift im Beitragsbild), pflegte eine eigenwillige Orthographie, weitgehend ohne Interpunktion. Er kannte offenbar das “ck” nicht, “Strasse” heisst “Strahse”, und “wir” schrieb er (fast) konsequent als “wihr”:

Tourenbericht 27./28. Mai 1917 Thalwilerhütte Klönthal

Ein prächtiger Pfingstsonntag-Morgen hatte uns aus den Federn gelokt, um die abgemachte Tour im Tubsthal [?] zur Thalwilerhütte anzutreten. Um 6 Uhr 50 dampfte unser Zug ab u. langte nach kurzer[,] aber schöner Fahrt mit einiger Verspätung um 8 ¼ Uhr in Uznach an. Hier luden wihr [sic] unser Kreuz in Form des schwerbepakten Ruksakes auf den Bukel u. schoben los. Vom Bahnhof gings Westlich [sic] ca 500 m der Bahnlinie entlang zum Bahnübergang, aber kaum über der Brücke gerieten wihr schon auf Abwege[,] aber unverdrossen gings in Südl. [sic] Richtung weiter durch hohes Riedgras einem Lebhang entlang. Nach ca 10 Min[.] gelangten wihr auf die Strahse [sic,] die nach Tuggen führt, kurz vor diesem Dorfe stand ein Mann auf einsamer Feldwache auf unsere Frage? ob er Durst habe[,] gab er keine Antwort[,] denn nun en[t]pup[p]te er sich als Vogelscheuche. 9 Uhr durchwanderten wihr das Dörfchen[,] um am Ausgang Desselben [,] die herrlich entwikelte Sumpfflora zu bewundern. In Schübelbach angelangt, wurde beschlossen[,] Siebnen rechts liegen zu lassen[,] um den Weg abzukürzen, etwaigen Nachfolgern möchte ich davon abraten, denn, dann wäre uns viel Mühe u. mehr als 1 Std Zeitverlust erspart geblieben[,] nun item wihr gingen weiter u. wären beinahe auf den Schübelbacher Friedhof geraten, wonach jedoch keinen von uns gelüstete[,] also zurück auf die Strahse eine kurze Streke verfolgten wihr dieselbe, dann kamen wir auf den richtigen Weg u. nun giengs bergan. Nachdem ca ½ Wegstunde zurükgelegt war, erinnerte uns Freund Weber daran, dass der Magen seit Samstag Abend keine schwere Arbeit me[h]r zu verrichten hatte. Ein Blik auf die Uhr zeigte schon 10 Uhr, ein schattiges Plätzchen nahm uns auf u. rasch wurde abgekocht[,] dann giengs weiter mit schöner Steigung. An einer Wegkreuzung wurde halt [sic] gemacht u. unser Photograph trat in Aktion[,] dabei konnte er erfahren, wie rasch der Mensch sinken kann[,] denn er stand rükwärtsschreitend plötzlich in einem tiefen Graben u. starrte uns verwundert an, indess [sic] wir laut auflachen mussten über die komische Situation[.] Da stieg er rasch aus dem Loch heraus, knipste ab u. pakte dann brummend zusammen[,] worauf wihr den Weg wieder unter die Füsse nahmen.

Am Eingang ins Wäggithal begrüsste uns als erster der grosse Anberg 1648 m, ca 1 Std gehts auf schöner Strahse vorwärts[,] dann folgt schlechter Fahrweg auf[,] auf welchem wihr uns im Gatter auf und zumachen üben können, denn bereits alle 100 m war ein solcher[,] obwohl noch kein Vieh weidete. So führte uns der Weg durch schönen Wald u. über saftige Weiden zum Trebsenbach in einsamer Waldschlucht. Ein Blik auf die Karte zeigte uns, dass das Ramseli [?] dicht an letztgenantem [sic] liege u. wihr beschlossen[,] das Bachbett als Führer zu nehmen. Mittlerweile war’s 2 ½ [?] Uhr geworden u. wihr hatten gerechnet[,] bis 3 Uhr in der Hütte zu sein, also gieng die Hüpferei von Stein zu Stein los zum Glück war wenig Wasser[,] sonst hätte sich die Sache schon schwieriger gestaltet, aber komisch müsste es auf einen Zuschauer gewirkt haben[,] wie das St.Galler Bachstelzentrio im Bach herumhüpfte, wihr sahen dabei allerdings auch manches schöne[,] was uns auf dem richtigen Weg entgangen wäre. Bald gings über mächtige Felsblöke[,] bald über stellen [sic,] die ein rasches vorwärtskommen [sic] unmöglichten [sic]. Endlich kamen wir nach 1 ½ Stdg. Kletterei auf den Weg[,] wonach in wenigen Min. die Hütte im Ramseli erreicht wurde.

Die Hütte ist sehr schön gelegen u. in gutem Zustand[,] nur schien Sie mir etwas zu klein für einen grössern Andrang[,] wie das heute auch der Fall war[.] Sie bietet für höchstens 25 Personen Unterkunft, allerdings steht in der Nähe auch noch ein Stall zur verfügung [sic]. Eine schöne Umgebung ladet zu Exkursionen ein, zum Beispiel: Bokmattisattel [Bockmattlipass] zum Bokmattli 1993 m oder Scheinberg [?] evt. auch Brünnelistock, oder auf den zerrissenen Köpfenstok 1893 m[,] ferner ein schöner Spaziergang im hint. Wäggithal.

Nachdem wir für unser leibliches Wohl gesorgt hatten[,] verewigten wir [sic!] uns im dortigen Hüttenbuch, bezahlten die Tagesgebühr 20 Rp. u. zogen weiter, da wir uns Hier nicht recht heimisch fühlten u. die Uhr erst die 6. Abendstunde anzeigte, beschlossen wir, den schönen Abend zum Aufstieg zu benützen u. mit ! Berg frei!; wurde von den Anwesenden Abschied genommen[,] dann führt uns der Weg ca 200 m den Felsenbach hinauf[,] um dann rechts abzubiegen, so schreiten wir einen Waldweg bergan (der übrigens sehr schlecht markiert ist) zu Punkt 1443 m. Von Hier windet sich der Weg in kurzen Serpentinen mit Starker [sic] Steigung zum Bokmattlisattel hinauf, dampfend langen wir oben an[,] da wird erst der Rok u die Zipfelmütze angezogen[,] denn Hier oben ziehts ordentlich[,] sind wir doch schon 1840 m hoch. Die Mühe des 2 Stdg. Auf- Aufstiegs [sic] wurde aber glänzend belohnt durch eine wunderschöne Aussicht. Vom fernen Säntisgebiet schweift unser Blik über das Zürcher-Oberland zu den Schwyzer-Glarner- u. St.Galleralpen, wie gebannt standen wir da u. konnten den Blik kaum abwenden von der scheidenden Sonne[,] welche die umliegenden Berge in allen Farben erscheinen liess.

Doch nun müssen wir uns sputen, sonst werden wir von der Nacht überrascht[,] ehe unser heutiges Ziel, die Ahornen Alp erreicht ist[,] wozu wir noch 435 m abzusteigen haben. Nach kurzer Anstrengung wird der höchste Punkt der Konnes [?] 1900 [m] erreicht[,] welchen wir dann in Nordöstlicher Richtung ca 300 m verfolgen, um dann den Abstieg über einen gefährlich steilen Rasenhang hinunter anzutreten, den Weg wähnten wihr ein Stük weiter unten zu sehen, die Dämmerung hatte uns aber schwer getäuscht[,] wie wir später sahen, dazu bekam es unser Photograph Menzer noch mit einem Schwindelanfall zu tun[,] wodurch das Tempo verlangsamt werden musste.

Ohne weitern Zwischenfall erreichten wir [sic] in Guloir [Couloir] auf Punkt 1681 m. Hans stieg als 1. hinunter[,] um zu sehen[,] ob sich unten keine Wand befinde, denn von oben konnte man nichts me[h]r sehen[,] da inzwischen die Nacht völlig hereingebrochen war, zum Glük kam gerade der Mond heraufgekrochen. Bald signalisierte Hans: nachkommen keine Wand da! Nun began eine höchst interessante Kletterei, Petrus muss wahrscheinlich gegrinst haben wie er uns zugeschaut hat u. uns für Mondsüchtig [sic] gehalten, glüklich gelangten wir ans untere Ende des Guloirs[,] wo sich noch Schnee vorfand[,] was von uns Mondscheinkraxlern freudig begrüsst wurde, denn nun konnten wir doch noch ein Stük abfahren[,] die Freude war jedoch nur solang wie das Schneefeld u. das war kurz, nun folgte flacheres Terrain u. bald war die Thalsole [sic] erreicht. Hier wurden die Laternen in Funktion gesetzt[,] um die Hütten der Ahornen Alp zu suchen[,] denn der Mond war wieder verschwunden hinter den Bergen. Bald stiessen wir auf die Hütten[,] die 1. zwei waren nicht verschlossen[,] dafür tönte uns der nicht gerade freundliche Ruf: besetzt; entgegen, nach verschiedenen weitern erfolglosen Versuchen[,] eine gute Unterkunft zu finden[,] gelangten wir zur letzten Hütte. In einem kleinen Anbäuli [Anbau] derselben befand sich noch etwas Heu[,] aber gerade noch soviel[,] dass man die härte [sic] des Bodens spüren konnte. Doch wir schikten uns ins Unfermeidliche [sic,] denn wir waren zu müde[,] um weiter zu gehen. Vom Bokmattli bis hinunter brauchten wir 3 Std[.,] was bei Tag 1 ½ Std in Anspruch nähme [sic]. Dank unsrer Müdigkeit schlieffen [sic] wir bald ein[,] nachdem wir es uns so bequem als es die Umstände zuliessen gemacht hatten. Nur unser Photograph war noch um sei[n]e Füsse besorgt[,] die er Mangels an Heu in den Ruksak stekte u. oben zuband[,] um dann sanft ins Land der Träume hinüber zu schlummern.

Nächster Beitrag: 28. Mai 1917 (erscheint am 28. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 285/2.06.1-1 (Tourenbericht)