Ansichtskarte "Gruss aus Necker*

Samstag, 2. Februar 1918 – Jung-männerzweifel: Gedanken über die «sittliche Geschlechtsliebe»

Fortsetzung der Liebesgeschichte des Ernst Kind, späterer Rektor der Kantonsschule St.Gallen (vgl. früher erschienene Beiträge):

2. Februar 1918. Heute habe ich einen Vortrag von Prof. Ludwig Köhler über «Sittliche u. natürliche Geschlechtsliebe» gehört. Seine klaren u. in ihrer tiefen Menschlichkeit so reinen, vornehmen Auseinandersetzungen haben mich tief berührt. Die Begründung einer sittlichen Geschlechtsliebe, die sich mit der natürlichen verbinden muss, steht auf dem erlösenden u. beglückenden Satz, hinter dem er mit seiner festen Überzeugung steht: Für jeden jungen Menschen wächst irgendwo in der Welt ein junges Mädchen auf, das ihm bestimmt ist, und er ist diesem Mädchen bestimmt. Ihre Bahnen werden zusammenlaufen; zur rechten Zeit werden sie sich begegnen, und beide werden einander erkennen als die Richtigen. Nur diese beiden können miteinander glücklich werden. Weil das aber so ist, so muss der junge Mensch seinen sinnlichen Trieb in der Faust halten, dass er sich rein erhalte [um seinetwillen und] um des ihm bestimmten Mädchen willen. Denn das Mädchen muss sich ganz an den Geliebten anlehnen können, muss an ihm Halt und Schutz haben. – Dass sich ein junger Mensch leicht verlieben kann, ist Natur, denn sein Trieb wird von der Schönheit des Weibes gezeigt; weil aber der Mensch gerade in der Liebe seinen «Menschen» gegenüber dem «Tier» zeigen muss, wird er solchen Reizen sich widersetzen. Das Tier muss, der Mensch will. Die Unterscheidung zwischen Liebe u. Verliebtheit ist leicht. Köhler drückt es ganz drastisch in mathematischer Formel aus: Liebe wächst mit dem Quadrate der Entfernung! Bei der Verliebtheit ist es umgekehrt. Verliebtheit muss zeitlich vor der Liebe kommen; das ist klar. Denn Verliebtheit, die doch das Objekt oft wechselt, ist einfach das Zeichen, dass man infolge des Geschlechtstriebes einfach begehrt, was weiblich ist. Aber das Ziel dieses Kampfes ist das, dass die Begehrlichkeit ganz persönlich wird, dass man die Richtige findet und dann mit seiner ganzen Kraft liebt. Das höchste Glück kann man nur so erlangen, wenn man in der Geliebten den Kameraden erkannt hat.

Auch das Sinnliche der Liebe wird etwas Heiliges. Denn die 2 Menschen, die sich als die besten Freunde erkannt haben, vereinigen sich miteinander[,] neues Leben zu erwecken und dieses heilige Gut der Menschheit weiterzugeben. Die Frau gibt dem Mann alles, ihren Körper u. ihre Seele; sie muss deshalb ganz in seinem unbedingten Schutz stehen; er muss geradezu ein Vater seiner Frau sein. Immer aber muss der Mann trotzdem fast vor seiner Frau knien können; sie lebt nur von seiner Achtung; denn jedes schwache Wesen lebt nur, wenn man ihm Achtung schenkt; sie sich zu verschaffen, ist es meist zu schwach.

Ich liebe Margrit Peter; das weiss ich sicher. Ich glaube, es kann nicht Verliebtheit sein; ist es denn nicht gewachsen mit dem Quadrat der Entfernung?! [5. April 1917.] Doch merke ich, dass ich viel leeres Geschwätz in dieses Buch geschrieben habe über diese Liebe. Warum mich aber doch der Zweifel plagt, ob sie wirklich die Rechte sei, das kommt daher, dass ich sie noch so wenig kenne. Bewahre mich der Himmel, dass nicht auch meine Liebe nur eine Halbheit ist wie sonst alles andere.

Der nächste Eintrag im Tagebuch Kind trägt das Datum vom 31. Oktober 1918, in der Zwischenzeit leistete er Militärdienst.

Die Zweifel, ob sie wirklich die Rechte sei, hatten offenbar ihre Berechtigung: Ernst Kind verheiratete sich schliesslich 1932 mit Wanda Bolter (1908-1995).

Ludwig Köhler (1880-1956) war Theologieprofessor an der Universität Zürich, vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10710.php

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/7.2 (Tagebuch Ernst Kind) und W 238/08.12-24 (Beitragsbild mit Vergissmeinnicht, Veilchen und Rosen: Auszug aus Ansichtskarte «Gruss aus Necker!», 1903)

Freitag, 21. Dezember 1917 – Ein Tag der romantischen Ironie

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Student mit St.Galler Wurzeln:

Heute hatte ich wieder einen merkwürdigen Tag. Ich möchte ihn einen Tag der «romantischen Ironie» nennen: Ich habe mit Margrit P. eine ganz komische Begegnung gehabt, und der Grund davon ist jämmerlich banal gewesen. In den 10 Wochen der Rekrutenschule habe ich sie nie gesehen, wohl aber immer im Gedächtnis gehabt. Ich habe ihr Haus vom Kasernenfenster aus (allerdings vergeblich) gesucht, ich habe es vom Albisgütli aus beinahe gesehen und bin auf dem Rückweg vom grossen Ausmarsch ganz nahe daran vorbeigekommen. Immer habe ich an sie denken müssen. Jetzt nach der Rekrutenschule, freute ich mich auf dem Weg in die Universität hinauf, denn er brachte grössere Begegnungsmöglichkeit als früher der in die Kantonsschule. Tatsächlich habe ich sie in den 2 Wochen seit meiner Zivilwerdung bis heute, da die Weihnachtsferien beginnen, 3 mal gesehen, nur so über die Strasse hin. Was bedeutet das aber, ein Gruss über die Strasse, wenn die Gesichter beinahe unkenntlich in den Krägen stecken? – Heute abends 5 Uhr war die letzte Vorlesung, der letzte Heimweg vor den Ferien, als die letzte Begegnungsmöglichkeit. Ich dachte natürlich schon von oben an wieder an sie. Da stand sie beim Pfauen mit 2 andern Mädchen. Ich wollte im Vorbeigehen grüssen; in diesem Augenblick sprang sie plötzlich, sobald sie mich gesehen hatte, über die Strasse auf mich zu. Nun, das erkannte ich ja gleich, dass es irgend eine unwichtige Frage sein werde, in der sie mich interpellieren würde, vielleicht eine Erkundigung nach Doris, die ja schon 3 Wochen daheim sein muss. Was sie aber wissen wollte, stellte mich wenigstens plötzlich wieder auf einen sehr nüchternen kalten Boden zurück, nachdem mir vorher doch eine kleine Hitze in den Kopf gefahren war. Sie wollte wissen, wie unsere bündnerischen Spezialitätswürste für Neujahr heissen! Natürlich Beinwürste, am besten bei Domenig in Chur zu bestellen! Das sagte ich auch, und dann war das Gespräch mit einer sehr freundlichen Verabschiedung zu Ende. –

Immerhin hat es doch gewiss etwas zu bedeuten, dass gerade sie mich fragte, während die beiden andern ruhig auf der anderen Strassenseite blieben. Das heisst für mich, sie hat das Gefühl, mich doch etwas besser zu kennen, mit mir doch eher bekannt zu sein, als es die andern sind, die doch auch in der Tanzstunde waren.

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897). Das Tagebuch war mit einem Schloss abschliessbar (vgl. Abbildung).

 

Sonntag, 23. August 1917 – Endlich ein Wiedersehen mit Margrit P.!

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Etwa 8 Wochen habe ich Margrit P. nicht mehr gesehen. Ich empfand das oft sehr stark während der Ferien, wenn das auch nicht so stark zum Bewusstsein drang wie in den Frühlingsferien in St.Gallen, wo es mir schon weh tat, aus Zürich wegzugehen und so die Entfernung zwischen ihr und mir noch zu vergrössern. Sind meine Empfindungen für sie unterdessen schwächer geworden? Ich bin sicher, dass das nicht wahr ist. Sie sind gemässigter; ich stehe aber nicht über ihnen und will es auch nicht in dieser Beziehung. Es ist meine erste Hoffnung, bald wieder eine Gelegenheit zu haben, um einige Worte zu ihr zu sprechen und von ihr zu hören. Ich weiss sicher, dass in diesen Ferien kein Tag verging, ohne dass ich, wenigstens für Augenblicke, an sie dachte; oft aber hing ich diesen Gedanken stundenlang nach. Ganz von selbst habe ich mir angewöhnt, bei allem, was ich tue, mir ihre Gegenwart vorzustellen; ich meine bei allem, was ich tue, nehme ich an, sie sehe es. Mein Tun hat viel Gewinn davon, wenn sich das Zusammennehmen auch oft auf Äusserlichkeiten beschränkt.

Seit letzten Montag (20. Aug.) hat die Schule wieder angefangen, und ich habe [sic] Margrit P. wieder begegnet, nach 8 Wochen zum erstenmal. (Sie hatte schon vor den Ferien einige Wochen ausgesetzt und war jedenfalls irgendwohin zur Erholung gegangen. Ich hatte sie ungefähr Ende Juni zum letztenmal gesehen.) Aber unser Gruss war nicht anders als sonst. Es ist eben immer ein Gruss wie zwischen zwei Leuten, die einander zwar durch eine Gelegenheit kennen gelernt haben, aber sich weiter nichts zu bedeuten haben. Was aber sie wenigstens für mich bedeutet, kann ich nur spüren, nicht sagen. Ihr Anblick ist für mich, wie eine notwendige Nahrung für den Körper ist; ohne sie vergeht er. Könnte ich doch noch einmal vor der Prüfung (Maturität) eine Gelegenheit finden zu einer ganz kleinen Unterhaltung mit ihr.

(Zufällig in einem Verzeichnis der hiesigen Offiziere blätternd, sah ich, dass ihr Vater Ingenieur und Genie-Oberst ist.)

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)

Sonntag, 3. Juni 1917 – Mütterliche Spionage, die Qual der Berufswahl und ein Romeo ohne seine Julia

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Die Tanzerei hat zwar am 16. Mai stattgefunden, aber gerade Margrit P. fehlte. Ich habe erst nachher gemerkt, dass es für mich so jedenfalls bedeutend einfacher war, als wenn sie dagewesen wäre; ich brauchte mich nicht lange zu besinnen, welche Seite ich herauskehren musste. Der Abend verlief ganz nett unter beständigem Tanzen. Etwa um 11 Uhr hörte man damit auf und machte noch ein Spiel. («Romeo und Julia», beide mit verbundenen Augen, wobei Romeo die Julia zu finden hat.) Zum Glück kam ich nicht in den Fall, Romeo zu sein. Ich hätte unter Umständen gerade heraus gesagt, ich finde keine Julia zum Mitspielen. Als man zum Schluss gemeinsam an einen Tisch sass und etwas trank, kam ich neben Margrit P.’s Freundin zu sitzen und erfuhr dabei, dass sie erkältet sei, was mir Gelegenheit gab, ihr gute Besserung zu wünschen durch Vermittlung dieser Freundin.

Seither weiss ich nichts weiteres von ihr. Doch habe ich das Gefühl, sie grüsse wieder deutlicher. Letzten Dienstag brachte mir Doris [Schwester von Ernst Kind] einen Gruss von ihr heim. Sie war in der «Elektra» gewesen, von der ich ihr früher ziemlich viel erzählt hatte; deshalb kam sie wohl darauf, mich das wissen zu lassen. –

Ich glaube, Mama hat mir in die obigen Zeilen gesehen, während ich mit Silvia [jüngere Schwester von Kind] eine etwas «bewegte Szene» erlebte, wie das ja oft vorkommt. Es wäre mir aber sehr unangenehm, wenn jemand hier hineinspürte; freilich wird sich Mama, wenn sie gelesen hat, alle Mühe geben, nichts merken zu lassen; bei Gelegenheit werde ich aber bald heraushaben, ob sie etwas von meinen Gefühlen in dieser Beziehung weiss.

Das Problem der Berufswahl fängt an für mich brennend zu werden. Ich erhielt schon das Aufgebot zur Rekrutenschule für den Juli, muss aber natürlich ein Urlaubsgesuch eingeben, weil ich sonst die Maturitätsprüfung nicht machen kann, die im September stattfindet und letzthin bereits mit einer Arbeit in Physik begonnen hat. Jetzt kommt nun mein künftiger Beruf sehr in Frage. Werde ich Arzt, so muss ich überhaupt eine ganz andere militärische Einteilung bekommen und eine Sanitäts-Rekrutenschule machen, während ich bisher zur Infanterie eingeordnet bin. (Ich habe nämlich stark daran gedacht, Medizin zu studieren, seit wir so ausgezeichnete Stunden in Anthropologie haben, (bei Prof. Dr. H. Bosshardt.) wobei wir uns vor allem sehr mit dem Nervensystem beschäftigen. Ich interessierte mich von jeher sehr für alle Lebensvorgänge in unserem Körper und dachte deshalb schon manchmal an das Studium der Psychiatrie.) Anderseits kämen noch in Betracht Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Zu diesen hätte ich grosse Lust; nur schreckt mich davon ab, dass man bei diesem Beruf notwendig Lehrer an irgend einer Schule werden muss. Denn vor dem Lehrer-werden graust mir. Die Entscheidung muss aber bald erfolgen; schon die eigene Unruhe zwingt mir den Entschluss ab. Woher kommt mir aber das Licht? Ich bin jetzt wie Chateaubriand auf Combourg [Bretagne], wo er und seine ganze Familie das «évènement» [gemeint ist wohl die Französische Revolution] abwarten, selbst aber eigentlich untätig dasitzen.

Das Grausen vor dem Pädagogendasein wird sich verflüchtigen: Ernst Kind wählt schliesslich doch den Lehrerberuf und unterrichtet ab 1925 an der Kantonsschule am Burggraben in St.Gallen. Von 1932-1963 wirkt er auch als deren Rektor. Seine Neigung zur Geschichte kann Kind auch im Historischen Verein des Kantons St.Gallen leben, dem er als Vorstandsmitglied und Präsident dient.

Das Tagebuch konnte mit einem kleinen Schloss gesichert werden (vgl. Abbildung).

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)

Sonntag, 13. Mai 1917 – Zufall? Schicksal? Oder doch göttliche Fügung?

Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, trifft zu seinem Leidwesen viel zu selten auf die von ihm verehrte Margrit Peter. Umso kostbarer sind deshalb diese Momente des Aufeinandertreffens:

Ich komme in Versuchung, an einen Zufall mit eigenem Willen zu glauben, und glaube, er ist mir günstig gesinnt. Es ist das dritte Mal, dass ich mit Margrit P. zusammengekommen bin, ohne es zu ahnen. Nein, das ist falsch; ich will sagen, ohne einen Anhaltspunkt für diese Möglichkeit zu haben; denn geahnt habe ich es jedesmal so ungefähr; jedesmal habe ich vorher immer noch viel mehr als sonst an sie denken müssen. – Dieses Zusammenkommen war gestern am 12. Mai.

Wir, die ganze Familie, machten einen Ausflug ins Nidelbad und wollten um 2 Uhr mit dem Schiff abfahren, haben dann dieses Schiff verpasst und warteten auf das nächste (um 3 Uhr ab). War jetzt das ein blinder Zufall, dass wir das erste Schiff verpassen mussten und erst das zweite nahmen, auf dem Margrit P. war? Und weiter war es gewiss auch nicht blinder Zufall, der sie allein auf das Schiff brachte, während sie es mit einer Freundin ausgemacht hatte. Sie wollte nämlich zu einer anderen Freundin nach Kilchberg; weil sie nun ganz allein war, setzte sie sich zu uns her und wir unterhielten uns, bis sie in Kilchberg ausstieg. Diese freundliche Begegnung ist mir umso wichtiger, weil ich gerade vorher noch mich ihretwegen sehr aufgeregt hatte. Sie hatte nämlich in der letzten Woche, wie es mir schien, absichtlich alles versucht, mich nicht zu sehen, wenn wir in der Rämistrasse uns begegneten. Einmal versteckte sie sich geradezu hinter einer andern und eben gestern Samstag Morgen bemerkte ich, dass nur ihre Freundin meinen Gruss erwiederte, sie hingegen gradaus sah. Das konnte ich mir nicht erklären; es regte mich sehr auf; zuerst war ich sehr erstaunt, dann unglücklich und schliesslich empört. Denn ich war mir keiner Dummheit oder Flegelhaftigkeit ihr gegenüber bewusst. Dass sie aber launisch sei und einfach nicht mehr grüssen wollte, konnte ich natürlich nicht glauben; deshalb quälte mich ihr Benehmen, aber immer mehr kam ich bei meinem eigenen ruhigen Gewissen in Ärger und Trotz. Es kostete mich allerdings viel, meinen Kummer in Trotz umzusetzen; aber da ich glaubte, ihn so schneller verwunden zu haben, bemühte ich mich darum und war schon im Begriff, ein paar wutentbrannte (d.h. im Innersten natürlich unwahr empfundene) Verse zu leimen, die etwa so begonnen hätten:

«Die Liebe ist zum Teufel,

Die Sehnsucht hat ein End.

Ich pfeife auf ein Mädchen,

Das mich mit Fleiss nicht kennt.»

Denn ich war schon ganz überzeugt, dass ich nichts mehr dagegen machen könne. Erklärung verlangen konnte ich nicht, da ich sie nicht einfach auf der Strasse anreden wollte und konnte, umso weniger, als sie mich ja scheinbar nicht mehr kannte. Und auf anderm Weg als durch mich selber wollte ich nichts erfahren, schon weil ich überhaupt niemand etwas davon wissen lassen wollte.

Und jetzt kam mir der gute Zufall wieder zu Hilfe, wie schon 2 mal. (Das erste Mal, dass ich mit ihr zusammen kam nach dem Konzert des Schülerorchesters, das andere Mal im Nikisch-Konzert.) Die Bekanntschaft wurde wieder aufgefrischt und gleichzeitig brachte sie die Nachricht, dass nächsten Mittwoch unsere Tanzgesellschaft im Zürichhorn zusammenkomme. Dort bietet sich mir vielleicht Gelegenheit, Aufschluss über ihr sehr rätselhaftes Gebahren zu bekommen. Denn soviel vertraue ich meinen Augen doch, dass sie auch noch nicht falsch sehen, selbst wenn sie Margrit P. sehen. Freilich schaue ich immer nur so ganz schnell hin beim Grüssen, dass ich doch nicht so ganz sicher bin. Immerhin bin ich jetzt sehr gespannt auf den Mittwoch-Abend.

Ich will hier noch einen Zettel abschreiben, den ich vor einigen Wochen vollgeschrieben habe. Woher ich damals den Gedanken bekam, weiss ich nicht:

Meine Lebensanschauungen haben immer gewechselt und haben in gewissem Sinn schon die meisten der unterschiedlichen Formen gehabt:

1.) Als Kind vor dem Beginn selbständigen Denkens: Realist; die Sachen, soweit man sie kennt, werden genommen, wie sie sich darstellen, und was sich nicht darstellt, existiert nicht. Der liebe Gott stellt sich auch dar; nämlich im Himmel sitzt er. Er ist nur zu weit weg, um gesehen zu werden. Aber hinter dem blauen Vorhang sitzt er und sieht uns doch, weil er ja durch alles durchsieht. (Mit 11 Jahren schwache Ahnung von Liebe, die sich aber mit Eintritt der Flegeljahre in eine Art trotzige Feindschaft gegen das betreffende Wesen umwandelt. Von da an eine Zeitlang überhaupt Mädchenfeind, nachher tritt an Stelle der Feindschaft Gleichgültigkeit, bis auf weiteres.

2.) Selbständiges Denken. Trotz Konfirmation Ausbildung zum Skeptiker, aber gleichzeitig infolge vieler neuer Eindrücke starker Mystiker. Zeitweise verschwindet der Zweifel, kommt aber immer bald wieder.

3.) Mit 18 Jahren Sieg des Skeptizismus über die Mystik. Eine oberflächlich verstandene Religionsphilosphie in der Schule verschärft den Kampf um einen persönlichen Gott. Bald ist der persönliche Gott ganz verloren gegangen. (Abendmahl unmöglich geworden, ebenso Beten.) Oft beinahe Ausbruch der Verzweiflung oder bittere Resignation, die sich sogar manchmal Spöttereien gegen religiöse Dinge erlaubt. Allmählich geistige Erschlaffung; das Gedächtnis ist ganz unfähig.

4.) Erste Liebe (mit 19 Jahren), urplötzliches Aufrütteln des Lebensmutes. Romantik. Ein wenig: carpe diem!

Ich werde alles versuchen, mir den Glauben an einen persönlichen Gott wieder zu erringen und darauf eine eigene Religion aufzubauen; denn unsere Kirchenreligion kann ich nicht halten.

Nächster Beitrag: 31. Mai 1917 (erscheint am 31. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 076/3.27.109 (Hafen von Rheineck, Anlegestelle mit Schiff «Bavaria», ca. 1914)

Sonntag, 6. Mai 1917 – Jedem Rausche folgt Ernüchterung

Nach seinen Frühlingsferien ist der jugendliche Tagebuchschreiber mit St.Galler Wurzeln, Ernst Kind, wieder zurück in der Kantonsschule in Zürich:

Meine Mondschwärmerei hat gestern einen Hieb bekommen, als uns «Spatz» (Dr. Zollinger) im Deutschunterricht Wilhelm Raabe’s Novelle «Deutscher Mondschein» vorlas. Ich fühlte mich ein wenig vor den Kopf gestossen. Aber ich denke jetzt doch, mein bisschen romantischen Anhauch behalte ich ruhig, so lang er nicht von selbst geht. Dass es mit dem Schwärmen nicht getan ist und dass man sich das nur eine Zeitlang erlauben darf, weiss ich wohl. Aber umso mehr tue ich es jetzt noch, da ich das Gefühl habe, mir sei es noch erlaubt.

Nächster Beitrag: 7. Mai 1917 (erscheint morgen!)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 238/02.12-60 (Postkarte von 1906). Die Fotografie stammt wie das Tagebuch aus dem Nachlass von Ernst Kind.

Freitag, 4. Mai 1917 – Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte…

Der beginnende Frühling weckt – unterstützt durch die schönen Künste – auch beim Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln, Ernst Kind (Jg. 1897), die Lebensgeister:

Aus der Ferienreise in den Jura ist nichts geworden. Bis Schulanfang war das Wetter ganz abscheulich und Papa [Schweizer Berufsoffizier] hatte von der Grenze geschrieben, dass der Schnee im Jura das Fortkommen mit Wagen fast nicht möglich mache; also für eine Radfahrt absolut ungangbare Strassen. Nach Peseux bin ich nun natürlich auch nicht gekommen und habe darüber im Stillen viel getrauert. Aber schon am ersten Schultag haben wir uns wieder begegnet. –

Ungefähr seit 26. April ist das Wetter jetzt herrlich, auch warm, und das hat ein beinahe unglaublich plötzliches Wachstum in der Natur zustande gebracht, sodass der Maianfang mitten ins allererste Grünen gefallen ist. Mir ist dieser Mai ein Erlebnis geworden; ich habe den Frühling noch nie mit so starken Gefühlen erlebt; ich bin geradezu in ein romantisches Schwärmen geraten; es mag sein, dass dazu noch beigetragen hat, dass in den letzten herrlichen und warmen Nächten der Mond sich dem Vollmond nähert. Und ich glaube, ein seelisch irgendwie empfindsamer Mensch wird jedesmal zum Romantiker, wenn er eine warme Frühlingsnacht erlebt, besonders wenn er vorher wochenlang nichts als Regen und Schnee gesehen hat. Letzte Woche bin ich dreimal von Herrn Federer in die Konzerte des Klingler-Quartetts eingeladen worden und habe ihn nachher heimbegleitet; dann haben wir beide miteinander Mondscheinspaziergang gemacht und unsere romantische Sehnsucht zu stillen gesucht. Mein Sehnen hat ja einen realen lebendigen Hintergrund; er wird eben als Dichter gefühlt haben. –

Ein grösseres Erlebnis aber war für mich der Konzert-Abend von Nikisch am 30. April. Ich hatte ewas wie eine Ahnung; ich hoffte heimlich, Margrit P. dort zu sehen. In der Pause sah ich sie mit ihrer Freundin. Aber ich wagte nur einen Gruss mit dem Kopf; angesprochen habe ich sie nicht. Nachher fühlte ich, dass das eigentlich etwas ganz natürliches gewesen wäre; gekannt hätte ich sie doch genug dazu, nachdem ich einen ganzen Winter mit ihr zusammen Tanzstunde gehabt habe. Aber ich bin eben so viel in Gedanken mit ihr beschäftigt, dass ich fürchtete, ein Anreden hätte auffallen müssen. Aber ich bin eigentlich glücklich gewesen, dass ich es doch nicht tat. Ich glaube, sie geht auch nicht gleichgültig an mir vorbei. In meinen aufgeregten und sehnlichen Stimmung habe ich auf dem Heimweg vom Konzert noch auf der Strasse (bei einer Laterne) ein paar seltsame Verse geschrieben, die ich aber nicht verbessern will, trotzdem sie nur im ersten Taumel geschrieben wurden. Auch weiss ich wohl, dass ich mich (damals zwar kaum bewusst) in den letzten 4 Zeilen an eines aus der Müller-Liedern anlehne. Übrigens haben die Verse keinen Anfang, ich begann eben gerade da, wo meine Erregung ihren Höhepunkt erreicht hatte, als ich an Margrit P. vorbei gegangen war, aber nach 10 Schritten, einem heftigen Zwang folgend, mich umgedreht hatte und in gleicher Richtung wie sie ging.

Die Liebste sah ich wohl,

Wie sie ihr Köpfchen wandte und ihr ängstlich Auge

Schon durch die Menge streifte.

Doch als meinen Blick sie traf,

(Der ich beklommen in die Ecke war getreten)

Da schlug sie schnell die Augen nieder

Und ihr Köpfchen drehte rasch sich weg.

Mir aber ist der Blick

Ins Herz gedrungen, und es bebte lange. –

Ich gehe langsam heim durch stille Strassen.

Der Mond spielt mit den Wolken seltsam Spiel;

Sie gleiten schnell an ihm vorbei und ziehen weiter

Am einsam funkelnden Nachthimmel hin,

Wie weisse Schwäne ziehen auf dem dunkeln Wasser.

Ihr stillen Wolken, fragen wollt ich euch

– Doch wüsstet ihrs, ihr könntets doch nicht sagen –

Hat wohl das liebe Mädchen mich gesucht,

Als es sein Köpfchen scheu und ängstlich wandte?

(Geschrieben auf Notizblatt unter einer Strassenlaterne beim Mühlebachschulhaus Nachts 11 Uhr, 30 April.)

Vor 3 Tagen, also am ersten Mai, war Herr Federer Abends ein wenig bei uns, und ich musste ihm u.a. auch das herrliche Lied «Frühlingsglaube»: «Die linden Lüfte sind erwacht», vorspielen. Die Singstimme konnten wir uns jeder selbst denken, (Mama war ja nicht da; also wurde sie nicht gesungen) und die Begleitung ist schon für sich etwas Wunderbares. Jetzt erst verstehe ich dieses Lied und fühle, wie tief es in Wort und Melodie ist. Ausser diesem Lied gehen mir jetzt noch einige andere immer wieder durch den Kopf, die ich alle jetzt so recht mitfühle, vor allem die ersten Verse von Lenau’s Lied: «Lieblich war die Maiennacht», … dann auch ein einfaches Mittelhochdeutsches mit unbekanntem Verfasser: In liehter varve stât der walt, der vogel schal nu doenet …. . Und schliesslich habe ich wieder Horazens einzigartig schönes Lied auswendig gelernt: «Solvitur acris hiems…» (carm. I, 4) Es liegt etwas Sehnsuchtstärkendes darin, diese schönen Lieder wieder zu lesen; aber ich tue es deswegen doch, denn eigentlich ist dieses ständige Hoffen und Denken an etwas, das einem lieb ist, etwas Schönes, Belebendes, trotzdem es verzehrt, wie zwar eine grosse Flamme sich schneller verzehrt, aber dafür auch desto heller und schöner brennt. Einmal verbrennt auch die kleine, trotzdem sie nie hell gebrannt hat. Mein Lieben hat mich gerettet vor einem immer ärger werdenden philiströsen Pessimismus. Jetzt muss ich vor allem etwas zustande bringen: Ein Zurückfinden aus dem träumenden romantischen Schwärmerzustand zur Fähigkeit, zu arbeiten (das kann ich nämlich jetzt nicht recht und muss es doch wegen der nahenden Matura tun) und daneben die Kunst, meine Liebe in aller ihrer jetzigen Kraft und Sehnsucht zu erhalten. Das erstere wird schwer sein, das zweite nicht; sonst müsste ich an mir selbst irre werden.

Am zweiten Mai habe ich vor dem zu Bette gehen im Schlafzimmer versucht, meine Stimmung festzuhalten und mir einige Sätze aufs Papier geschrieben: «Die Maiennacht hat ihren Zauber über der Erde ausgebreitet, und die linde Luft fliesst durch mein Fenster herein. Ich fühle, dass etwas treibt und schafft in der stillen Natur. Der Nachtwind ist wie ein leises Streicheln, und er streicht über mein Gesicht wie beim Tanz das weiche Haar der Liebsten, wenn sie ihr Gesicht zur Seite neigt. Der herrliche Himmel glänzt aus unendlicher Ferne; seine strahlenden Sterne leuchten der Liebsten so hell wie mir. Alle Bäume stehen in ihrem Licht und wachsen; die volle Knospe ist zersprengt und hält das Leben nicht mehr, das jetzt zart aus ihr entspriesst.»

Nächster Beitrag: 6. Mai 1917 (erscheint am 6. Mai 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897) und W 238/04.06-07 (Postkarte um 1900, Originaltitel: «Schloss Werdenberg: Mondschein, Gruss aus Buchs»)

 

Donnerstag, 5. April 1917 – Worauf es letztlich ankommt

Die Liebe ist ein Ding, Das ewig sich erneut

Und immer gleich sich bleibt. Es wechseln nur die Leut.

Der letzte Satz soll aber nicht etwa heissen, dass der Gegenstand der Liebe immer wechselt, sondern die Liebe ist etwas, das von einer Generation weitergeht auf die andere, ewig, solange es Menschen gibt.

Nächster Beitrag: 8. April 1917 (erscheint am 8. April 2017)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897), W 200/58 (Ausschnitt aus einer Liebesbrief-Postkarte)

Mittwoch, 4. April 1917 – Sleepless in St.Gallen

Auch bei seinem Aufenthalt in St.Gallen denkt der Kantonsschüler Ernst Kind unentwegt an seine Tanzstundenbekanntschaft:

(St.Gallen.)

Fern von der Liebsten bin ich jetzt

Und denke Stund um Stunde nur an sie,

Die Augen tränenfeucht, im Herzen süsse Furcht

Und hilflos wie ein Kind, das nach der Mutter weint.

In tiefem Sehnen liegt mein Sinn,

Mein Geist ist wach und sieht doch einen Traum,

Denn wach und träumend seh die eine ich allein,

Die meinen Geist erweckt und Liebe mich gelehrt.

Ich glaube, schon lange ist mit mir keine so starke Veränderung vorgegangen wie jetzt, seit ich Margrit Peter kenne. Ich bin überhaupt in allem anders; ich erkenne in mir einen andern Menschen als vorher. Ohne Pause trage ich denselben Gedanken mit mir herum und lebe nur noch für diesen Gedanken. War ich früher so leidenschaftlich? Jetzt bin ich es.

Und ich, den sie «Cato» nennen und der als Mädchenverächter bekannt ist, gerate wegen einem Mädchen in diesen kuriosen Traumzustand; ich fange sogar an zu dichten; ich möchte immer nur von diesem Mädchen reden und wage es doch nicht; ich spüre, wie ich tiefrot werde, wenn ihr Name einmal über meine Lippen kommt; ich betrachte auf dem kleinen Bild, das ich von unserer Tanzgesellschaft habe, nur dieses einzige Gesicht und (am merkwürdigsten bei meinem schlechten Gedächtnis) ich erinnere mich an jedes Wort, das sie zu mir sprach, an jedes kleine Ferienerlebnis, das sie mir erzählte; ich erfahre von ihr, dass sie diese Frühlingsferien in Peseux ob Neuenburg sein wird, und sofort steht mein Plan fest, meine Velotour nicht nur bis Solothurn, sondern weiter bis zum Neuenburgersee auszudehnen und einen kleinen Abstecher auf gut Glück eines zufälligen Begegnens nach Peseux hinauf zu machen. –

(Margrit P. ist gar nicht etwa hübsch zum Ansehen. Aber sie hat ein liebes Gesicht und ihre Art ist natürlich und vertrauend.)

 

Nächster Beitrag: 5. April 1917 (erscheint morgen!)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)

Samstag, 31. März 1917 – Nächtlicher Heimweg in lyrischer Stimmung

Aus dem Tagebuch von Ernst Kind, Zürcher Kantonsschüler mit St.Galler Wurzeln:

Ich glaube, heute kann ich nicht so schreiben, wie es mir zumute ist. Und doch kann ich an ein Erlebnis denken, das mir unerwartet kam und eine tiefinnere Freude gebracht hat: Ich bin einen ganzen Abend neben Margrit Peter gesessen und habe mit ihr reden können! Und zum Schluss konnte ich sie noch heimbegleiten, einen langen Weg und in erhobenster Stimmung. (Übrigens muss ich jetzt über meinen Patrouillengang vom 24. März lachen; ich bin mit meiner Sehnsucht an den falschen Ort gekommen. Dort in der Nähe wohnt wohl ihre Freundin, die ich übrigens vorgestern gerade auch heimspedieren musste, aber sie wohnt noch weiter draussen in der Blümlisalpstrasse. (Die Nummer habe ich nicht nachgesehen, das Haus weiss ich aber.)

Dieser glückliche Tag war vorgestern, Donnerstag, am ersten Ferientag. Am Morgen hatten die Examen aufgehört und am Abend war das Konzert des Schülerorchesters. Ich hatte sowieso im Sinn gehabt, mit Doris [Schwester von Kind] hinzugehen. Als ich erfuhr, dass die Klasse 2 b, das bedeutet mir vor allem Margrit Peter, zu diesem Konzert eingeladen worden sei, war das ein Anziehungspunkt, der noch stärker als die Musik war, obschon ich noch nicht wusste, dass nach dem Konzert noch eine Zusammenkunft im «Zimmerleuten» vorausgesehen war. Doris und ich gingen mit Herrn Federer ins Konzert. (Ich will bei Gelegenheit einmal über diese Freundschaft mit Heinrich Federer [der Dichter!] schreiben, die ich seit letztem Herbst habe; jetzt ist mir für den Augenblick sogar Federer im Hintergrund!) Die erste Freude erlebte ich, als ich bemerkte, dass Margrit P. wirklich auch da war, und ich habe während des ganzen Konzertleins (das übrigens sehr hübsch war), immer abwechselnd auf das Orchester und dann flüchtig zu ihr hinüberschauen müssen. Das konnte ich umso leichter, als ich wegen der vielen Leute an der Wand stand. Vielleicht habe ich meinen Platz diesmal nicht nur aus Höflichkeit aufgegeben! Ich konnte an der Wand beim Stehen weiter sehen. Zum zweitenmal freute ich mich, als zwischen zwei Nummern meine Augen unversehens zu Margrit P. hinsahen, als sie zu unserer Wand herüberschaute. Sie erkannte mich und grüsste schnell herüber. In der Pause sah ich sie wieder.

Aber für die «Zimmerleuten» hatte ich keine Einladung, also keine Gelegenheit, mitzukommen. Nach dem Konzert erfuhr ich aber, dass man keine besondere Einladung geschickt habe und konnte also ohne Aufdringlichkeit mit Doris hingehen, nachdem ich von einem der Mitmachenden wiederholt aufgefordert worden war. – Wie es zugegangen ist, dass ich neben Margrit Peter zu sitzen kam, weiss ich kaum mehr recht. Ich weiss nur noch, dass wir während des ganzen Abends zusammen blieben und uns mancherlei erzählten. Wievielmal ich mit ihr getanzt habe, weiss ich nicht; aber es war beinahe jeder dritte Tanz. Während unserer Unterhaltung ist auch das Thema vom Katerbummelgespräch, der Egoismus, wieder aufgetaucht und hat den Erfolg gehabt, dass wir uns darin einigten, es sei doch nicht alles an unserem Tun bloss durch den Egoismus bedingt. Ich glaube das auch, seit ich in ihre ruhigfreundlichen Augen sah, deren Ausdruck nicht der eines Menschen ist, welcher nur an sich denkt. –

Als wir um 4 Uhr aufbrachen, hatte ich mich anerboten, sie heim zu begleiten. Weil aber Doris mit einem Husten zu tun hat, musste zuerst sie heimbefördert werden. So zogen wir also zu vieren nach unserer Wohnung, Margrit P. mit ihrer Freundin, Doris und ich. Nachdem dort Doris versorgt war, ging die Reise weiter bis ins Rigiviertel, und ich fühlte mich in geradezu lyrischer Stimmung! Sie erzählte viel von ihrem Sommeraufenthalt in Sertig [bei Davos], wo einige Mädchen ein Häuslein gemietet hatten und natürlich gefährliche Abenteuer zu bestehen hatten. (Das sind ja eigentlich Sachen, die kaum wert sind, aufgeschrieben zu werden; aber ich habe mich eben recht gefreut, und schreibe überhaupt, was mir in den Sinn kommt. Wie es mir zumute war, das kann ich ja doch nicht schreiben.) Als wir endlich miteinander zu ihrem Haus kamen, fing es schon an, hell zu werden; (es war etwa 5 ¼ Uhr.) Mein Heimweg war natürlich ziemlich trübselig. Erstens war ich wieder allein, dann brach jetzt die Müdigkeit durch, und der entstehende Katzenjammer ist immer stimmungslos. – Ich will mich jetzt über jenen Abend freuen, nachdem der gestrige Kater mehr oder weniger weg ist, dass ich wieder Gelegenheit gefunden habe, mit einem lieben Menschen zusammen zu sein. Dass das nicht jeden Tag möglich ist, soll mir kein Grund sein, um in Erwartung zu vergehen; es würde auch seinen Reiz verlieren, wenn es sich so oft wiederholen würde. Aber ich freue mich doch jetzt schon wieder auf die Maifahrt, die von unserer Tanzgesellschaft in Aussicht genommen ist.

Jetzt möchte ich gern hie und da an der Blümlisalpstrasse vorbeireiten, wobei ich dann sehr auf guten Zufall rechnen würde.

Ich hoffe, dass dieser Ferienanfang nicht der einzige Glanzpunkt dieser Ferien sein wird; aber es wird schwer halten, ohne sie nochmals so vergnügt und zufrieden sein zu können.

 

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Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch von Ernst Kind, Jg. 1897)