Couvert

Freitag, 13. April 1917 – Ehekorrespondenz zum weiteren

Maria Wenner-Andreae schreibt an ihren Mann Fritz. Sie weilt immer noch im Parker’s Hotel am Corso Vittorio Emanuele in Neapel. Honig ist in Italien ein rares Gut:

Freitag, den 13. April 1917

Mein lieber Schatzel! Entschuldige, dass ich mit Bleistift schreibe, aber ich sitze in der sonne u. tro[c]kne meine Haare. Ich benutze diesen ruhigen morgen [sic] dazu. hoffentlich bist Du gut gereist u. verlief der gestrige gästereiche Tag gut. Marietta wird es schon gut gemacht haben. Ich wünsche Dir einen möglichst guten Sonntag, mein Schatz! Siehst Du auch nach den Bienen? Denke Dir[,] in Mailand [wo Marias Eltern lebten] bezahlt man jetzt 6-7 Lire für ein Kg. Honig. Hätte man jetzt, dann könnte man feine Geschäfte machen. Die Eltern baten mich[,] ihnen hier welchen zu besorgen, aber ich fürchte[,] die Preise werden auch hoch sein. So werde ich ihnen schreiben[,] sie mögen sich gedulden, bis wir ihnen senden können. Meinst Du nicht auch? Sorge dafür[,] dass die Familien recht stark werden. Die Eltern lassen Dich vielmals grüssen. – Unseren Buben geht es prächtig, Gianni behauptet[,] Du müsstest morgen kommen. Er wird dann bitter enttäuscht sein. Poverino! Nächste Woche kann Frl. Brogh [?] doch kommen[,] die Photos zu machen. – Heute werden wir hoffentlich mit dem Maler fertig. Wenn nur auch das Bild von Gianni netter wäre!! Die Kinder spielen in der Rampa unten u. Dimy huscht als echte Gallina überall herum. – Es ist doch eine penitenza [Strafe] so in der Sonne zu sitzen[,] um die Haare zu trocknen. Dafür findest Du aber ein ganz sauberes Frauchen!!! Gestern spazierte ich zu Elsa, die sich wohl fühlt. Auch dem Baby geht es ausgezeichnet. Ich wohnte auch einer Mahlzeit bei. Alles geht gut[.] Ich bin gespannt zu hören[,] wann Marietta abreist. A propos[:] Das Dienstmädchen sagte mir[,] sie sei für diesen Dienstag entlassen. Wenn Du wirklich nicht vor Mittwoch kommen kannst, dann bitte schreibe mir[,] was ich ihr geben soll. Du kannst ja einfach die Summe hinschreiben, ohne etwas dazu, wenn Du mir eine Karte sendest. Bitte vergiss es nicht, da ich sonst in Schwulitäten [sic] gerate. Bitte grüsse mir alle Schlaepfers!

Die Kinder umarmen u. küssen ihren Papa caro! Ich habe Dich innig lieb u. küsse Dich tausendmal Deine treue Mogliettina Maria.

Gleichentags schreibt auch Fritz Wenner an seine Ehefrau:

Fratte, 13. April 1917.

Liebstes Frauchen!

Ich hofe, am Sonntag mit dem 10.40 Uhr Zug nach Neapel reisen zu können, wo ich um halb 1 Uhr eintreffen sollte. Ich werde in diesem Falle von der Bahn zuerst in die Via Medina fahren, um zu hören, ob Du zum Mittagessen dort bist; wenn nicht, so fahre ich weiter ins Hotel.  Ich überlasse es natürlich Dir[,] für den Nachmittag zu arrangi[e]ren, was Dich freut; die Pferde können hoffentlich wieder regelmässiger Dienst tun. –

Die Schwestern u. Alex haben es gut getroffen mit dem Wetter hier u. in Pompei; auch für mich war es nett[,] Besuch zu haben. – Marietta wird also morgen um 10 Uhr morgens abreisen. Willst Du bitte das Mama sagen, dass ich mir erlauben werde[,] über diese Zeit drüben zu essen; ich hoffe[,] es wird ihr nicht unangenehm sein. –

Ich freue mich[,] Euch bald wieder zu sehen u. zu hören, was der Maler noch geleistet hat. Mit tausend herzlichen Grüssen u. einem Kuss meinem lieben Kleeblatt verbleibe ich Dein Dich herzinnig liebender

Fritz.

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/128.1

 

Briefkopf Platten

Ostermontag, 9. April 1917 – Ein St.Galler organisiert Lenins Reise nach Petrograd

Im April 1917 verhalf der Arbeiterführer und Linkssozialist Fritz Platten (1883-1942) dem im Zürcher Exil ausharrenden Lenin, in einem «versiegelten» Bahnwagen über deutsches, schwedisches und finnisches Gebiet nach Petrograd (St.Petersburg) zu gelangen. Hier rief Lenin zur sozialistischen Weltrevolution auf. Kein Geschoss, schrieb Stefan Zweig in seinen Sternstunden der Menschheit, war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte als dieser Zug. Es mag eine Randnotiz der Weltgeschichte sein, dass ausgerechnet ein St.Galler Bürger diese Reise mitorganisierte. Die Informationen zur Einbürgerung der Familie Platten finden sich unten im Text. Im Beitragsbild sieht man den Briefkopf des Schreibens, mit welchen sich der Vater von Fritz Platten an den Regierungsrat des Kantons St.Gallen wandte und um das Bürgerrecht nachsuchte.

Die Zugfahrt nach Petrograd

Regelmässig besuchte ein ruhiger introvertierter Herr die Zentralbibliothek Zürich. Der unscheinbare Vielleser wohnte im Niederdorf an der schmalen Spiegelgasse 14 bei Schuhmacher Titus Kammerer. Heute erinnert eine Gedenktafel daran, dass hier Wladimir Ilitsch Ulianow Lenin vom 21. Febr. 1916 bis zu seiner Abreise am 2. April 1917 wohnte.

Von ganz anderem Kaliber war Fritz Platten, der Sekretär des Arbeiterbildungsvereins «Eintracht». Er war kein stiller und verbissener Ideologe, sondern leidenschaftlich und den Freuden des Lebens, wie dem Tanzen und Jassen, durchaus zugetan. Da Platten die Kasse des Hilfsvereins für russische Flüchtlinge und politische Gefangene betreute, lernte er Lenin kennen und nahm mit ihm zusammen 1915 an der Zimmerwalder Konferenz teil. In einem Brief bezeichnete Lenin seinen Mitstreiter Platten als unfähigen Wirrkopf. Wie sehr ihm dessen Verhandlungsgeschick aber entgegenkam, zeigte sich bald.

Platten führte erfolgreich die Verhandlungen mit Freiherr von Romberg, dem deutschen Botschafter in der Schweiz und organisierte nach Ludendorffs Bewilligung die Reise Lenins nach Petrograd. Lenin wollte auf schnellstem Wege nach Russland. Die Zeit drängte, denn bereits seit dem 8. März 1917 rebellierten dort die hungrigen Arbeiter. Soldaten liefen zu den Aufständischen über, und die Staatsduma proklamierte eine neue Provisorische Regierung. Der Zar hatte am 15. März abgedankt.

Die deutsche Kriegsseite erhoffte sich von der Infiltration radikaler Revolutionäre beim russischen Gegner den dringend benötigten separaten Friedenschluss im Osten, da die Provisorische Regierung, im Gegensatz zu Lenin, den Krieg gegen Deutschland nicht beendigen wollte. Jeder Verbündete zur Zersetzung der russischen Front war willkommen, und so akzeptierte man die von Lenin gestellten Reisebedingungen weitgehend.

Am Ostermontag, dem 9. April, rollte der Zug mit insgesamt 33 Emigranten, darunter war das Ehepaar Lenin und dessen engste Mitarbeiter Georg Sinowjew und Karl Radek, aus dem Zürcher Hauptbahnhof. Die Reiseleitung oblag Fritz Platten. Deklariert war der verschlossene Wagen als Rücktransport sibirischer, in die Schweiz entflohener Sträflinge nach Rußland: Streng geheim – Exterritorialer Transport – Zusteigen verboten. Plombiert waren aber nicht die zwei Wagen des Zugs, sondern das Gepäck. Später stieg der Deutsch-Schwede Wilhelm Jansson, als Mitglied der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften, hinzu. Als von General Luddendorff auserwählter Transportleiter auf deutscher Seite stieg Arwed Freiherr von Planitz, Rittmeister des Regiments der Sächsischen Gardereiter, an Bord.

Die Fahrt ging vom Grenzübergang Gottmadingen über deutschen Boden mit Zwischenhalt in Berlin nach Sassnitz. Von dort aus fuhr die Gruppe mit der Fähre nach Trelleborg in Schweden, dann über Stockholm nach Tornio im Norden Finnlands, das damals zu Russland gehörte. Während Platten an der schwedisch-russischen Grenze von der republikanischen Regierung aufgehalten wurde und deshalb zunächst in die Schweiz zurückreiste, ging Lenis Reise weiter nach Petrograd, dem heutigen Leningrad, wo die Gruppe am 16. April 1917 abends ankam.

Der Husarenstreich durch Feindesland gelang. Kaum war Lenin angekommen, hielt er vor versammelten Arbeitermassen eine erste Rede.

In der Oktoberrevolution siegten Lenins radikale Bolschewisten über die bürgerlich-liberale Regierung. Der Separatfrieden im Osten änderte jedoch nichts am deutschen Kriegsschicksal, und Lenin wurde auch vorgeworfen, mit dem Feind kooperiert zu haben.

Höhen und Tiefen einer kommunistischen Karriere: Fritz Plattens Schicksal

Ende 1917 brach Platten erneut in Richtung Petrograd auf. Im Folgejahr soll er Lenin vor einem Revolverattentat gerettet haben und dabei an der Hand verletzt worden sein. Regelmässig pendelte Platten zwischen Russland und der Schweiz hin und her. 1921 wurde in der Schweiz die kommunistische Partei gegründet. Platten wurde ihr erster Sekretär sowie erster kommunistischer Nationalrat. Im Herbst 1923 gründete Platten eine schweizerische landwirtschaftliche Kommune in Simbirsk und bewog seine Eltern, mit ihm nach Russland auszuwandern. Dieses Unternehmen war erfolglos, und die Mutter verstarb 1928 verarmt im Altersasyl in Tablat. Platten selber wurde Opfer von Stalins Säuberungswellen und am 22. April 1942 in einem Arbeitslager erschossen.

Zeitgleich zu Plattens Rückführungsplanung der radikalen Exilanten versuchte der sozialistische Nationalrat Robert Grimm eine allgemeine Rückführung zu organisieren. Die selbständige Abreise der Bolschewisten wurde vom Emigrantenkomitee als Provokation wahrgenommen. In Zusammenarbeit mit Grimm hatte der St. Galler Bundesrat Arthur Hoffmann, ohne Kenntnis seiner Regierungskollegen, versucht, an der Weltkriegs-Ostfront einen Separatfrieden zu vermitteln. Obwohl er stets betonte, nur im Interesse der Schweiz gehandelt zu haben, wurde ihm von den Westmächten vorgeworfen, dass er Deutschland begünstigen wollte, damit deutsche Truppen zur Stärkung der Westfront hätten abgezogen werden können. Hoffmann trat auf Grund dieser Affäre am 19. Juni 1917 zurück.

Plattens Herkunft und Kindheit in St.Gallen

Das Staatsarchiv St.Gallen besitzt nur Quellen zu den frühen Jahren dieser abenteuerlichen, an Höhen und Tiefen reichen Biographie und Familiengeschichte, da die Familie bereits 1892 nach Zürich übersiedelte. Dort besuchte Fritz Platten die Sekundarschule.

Im Zivilstandsregister der vormals selbständigen St.Galler Gemeinde Tablat findet man im Geburtenregister A von 1883 unter der Nr. 169 die handschriftlich, zwischen die vorgedruckten Zeilen eingetragenen Angaben des Zivilstandsbeamten Carl Weyermann:

«Den achten Juli achtzehnhundert achtzig & drei um sieben Uhr Vormittags wurde in Hoggersberg lebend geboren: Friedrich ehelicher Sohn des Peter Platten, (Beruf: Schreiner von Mi[n]den, Bez[irk] Coblenz. Preuss[en] [heute: Nordrhein-Westfalen] in Hoggersberg [Höggerberg] und der Paulina Strässle von Bütschwyl. Eingetragen den neunten Juli achtzehnhundert achtzig & drei auf die Angabe des Vaters Peter Platten, Abgelesen und bestätigt: Peter Platten

Nachträglich vermerkte Staatsarchivar Josef Anton Müller am 8. Juli 1917 am Rand, dass Fritz Platten 1892 das Bürgerrecht von Tablat erhalten hatte.

Die Einbürgerungstaxe für die Familie betrug laut Quittung der Kantonsbuchhaltung 150 Franken.

Im Taufbuch der Dompfarrei von St.Gallen findet man zusätzlich auf Seite 164 unter der Nummer 289 den Taufeintrag des später konfessionslosen Kommunisten und erfährt, dass Friedrich, Sohn von Peter «Platen» (sic!) und Paulina Platten-Strässle (urspründlich aus Bütschwil SG), am 8. Juli morgens um 7 Uhr geboren und am 29. Juli getauft wurde. Als Wohnort der Eltern ist Rosenberg, Tablat angegeben.

Im Bürgerregister von Tablat findet sich das Blatt der Eltern von Fritz Platten: Peter Platten (08.07.1852-28.04.1925, Schmied!) und Maria Paulina Strässle (25.02.1851-11.12.1931). Sie hatten am 15. April 1879 in St.Gallen geheiratet. Neun Kinder sind aufgelistet, wobei die Reihenfolge in ein chronologisches Durcheinander ausartete:

1) Barbara Paulina (*16. Mai 1879)

2) Josefina Babetta (*28. Nov. 1880)

3) Franz (*23. Juni 1882)

4) Anton (*30. Aug. 1884)

6) Florian (*10. Nov. 1886)

5) Friedrich (*8. Juli 1883)

8) Veronika (*1. Juni 1891)

9) Albertina (*15. Jan. 1894)

7) Hugo Paul (*19. Jan. 1887)

Der zuständige Beamte legte der Familie ferner noch ein (unten fett markiertes) «Kuckucksei» ins Nest. Den Einträgen in den grossen blauen Zivilstandsregistern von St.Gallen und Tablat entnimmt man Folgendes:

Geburtsdatum Name Eltern Beruf d. V. Adresse
1 1879, 16. Mai Barbara Paulina Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Unterer Harfenberg 15 St.Gallen
2 1880, 28. Nov. Josefina Babetta Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Engelgasse 1, St. Gallen
3 1882, 23. Juni Franz Peter Platten Maria Paulina Strässle Schreiner Engelgasse 1. St.Gallen
4 1883, 8. Juli Friedrich Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Höggersberg
5 1884, 30. Aug. Anton Peter Platten Paulina Strässle Schreiner St. Fiden
6 1886, 10. Nov. Florian Peter Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Kleinberg
7 1887, 19. Jan. Hugo Paul Anton Anton Platten Maria Catharina Eberle Schreiner Kronthal
8 1891, 1. Juni Veronika Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Kleinberg
9 1894, 15. Jan. Albertina Peter Platten Paulina Strässle Schreiner Zürich

Die Eltern des unter Nr. 7 in der Liste aufgeführten Hugo Paul Anton hiessen Anton Platten und Maria Catharina Eberle. Da besagter Anton Platten wie obiger Peter Platten ebenfalls aus Minden kam, muss man annehmen, dass es sich um dessen Bruder handelt. Den Beweis hierfür liefert der Ehebucheintrag von Anton Platten (geboren 09.08.1861) und Maria Katharina Eberle (geboren 20.08.1858), die am 6. August 1885 in St.Gallen geheiratet hatten. Als Eltern des Bräutigams Anton Platten werden hier ebenfalls Johann Platten und Margaretha Jacobs aufgeführt. Die Brüder Anton und Peter ergriffen beide das Schreinerhandwerk und fanden in der Gemeinde Tablat eine neue Heimat, was die Verwechslung natürlich begünstigte.

Als Peter Platten am 6. Mai 1882 von St.Gallen nach Tablat kam, erwarb er ein eigenes Haus und ging neben dem Wirtschaftsbetriebe hauptsächlich der Schreinerei nach, wie man dem Schreiben des Tablater Ortsverwaltungsrats vom 13. November 1891 betreffend Einbürgerungsgesuch des Peter Platten entnehmen kann. Der Vater wurde als arbeitsamer wie tüchtiger Mann charakterisiert, der für seine musterhafte Wirtschaftsführung bekannt gewesen sei (vgl. Briefkopf im Beitragsbild).

Text und Recherche: Benno Hägeli, Staatsarchiv St.Gallen

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Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, ZVD 64.2 (Zivilstandsregister Tablat, Geburtenregister A, 1883, Nr. 169), ZLA 2b/77 (Bürgerregister Tablat, Band B, Nr. 605), ZLA 002/312 (St.Gallen, Dompfarrei: Taufbuch, 1879-1884, S. 164, Nr. 289), ZLA 002/315 (St.Gallen-Dompfarrei: Ehebuch, 1870-1892, S. 178, Nr. 80) und KA R.88-5-a (Einbürgerungen, Dossier Peter Platten, 1891)

Literatur über Fritz Platten:

Hahlweg, Werner: Lenins Rückkehr nach Russland. 1917, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte.5. Jg. 4. Heft von 1957, S. 307-333. (http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1957_4.pdf).

Belzner, Emil: Die Fahrt in die Revolution, oder Jene Reise. Aide-Memoire. München, 1988

Platten, Fritz N.: Mein Vater Fritz Platten: ein Leben für die Revolution, in: Turicum, Sept. 1972, S. 17-22

Zweig, Stefan: Der versiegelte Zug: Lenin, 9. April 1917, in: Ders.: Die Sternstunden der Menschheit: Zwölf historische Miniaturen. Zürich: Ex Libris, 1982, S. 240-252

Miller, Ignaz: Der geheime Zug. In: NZZ am Sonntag, 02.04.2017

Huber, Peter: Stalins Schatten in die Schweiz. Schweizer Kommunisten in Moskau: Verteidiger und Gefangene der Komintern. Zürich: Chronos, 1994, S. 275-293

 

Freitag, 30. März 1917 – Familienfreuden

Arbeitersekretär Josef Scherrer hat gute Nachrichten aus seiner Familie (vgl. Beitrag vom 27. März):

Ich bin heute wieder nach Wittenbach ans Krankenlager meiner Mutter gegangen. Der Krankenstand hat sich etwas gebessert, doch ist meine liebe Mutter stark geschwächt. Möge Gott ihr die Gesundheit bald wieder geben.

Zu Hause in meiner Familie ist Gott sei Dank alles gesund. Die lieben Kinderlein entwickeln sich ordentlich und erfreuen sich guter geistiger und körperlicher Gesundheit. Es ist ein herrliches gutes Geschenk, so gesunde Kinder zu haben. Mögen sie alle zu tüchtigen Menschen heranwachsen.

Mein liebes Frauchen ist in Erwartung des vierten Kindes. Kindersegen ist Gottes Segen. Möge sich das in meiner Familie erwahrheiten [bewahrheiten?].

Nächster Beitrag: 31. März 1917 (erscheint am 31. März 2017)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch Scherrer)

Geometrie

Dienstag, 27. März 1917 – Familiensolidarität

Josef Scherrer-Brisig (1891-1965), Arbeitersekretär und Politiker, beschreibt in seinem Tagebucheintrag, wie er für seine Familienmitglieder sorgte und insbesondere seinem jüngeren Bruder eine bessere Ausbildung ermöglichte:

Ich werde heute unerwartet von meinem Vater telefonisch an das Krankenbett meiner guten und lieben Mutter gerufen. Ich gehe am Mittag nach Wittenbach, um ans Krankenbett meiner herzensguten Mutter zu eilen. Eine hartnäckige Influenza & Lungenentzündung hat sie ins Bett geworfen. Der Arzt Dr. Trollich hält den Stand für etwas kritisch. Möge der liebe Gott meine liebe Mutter am Leben erhalten. Möchte doch ihr noch ein schönerer und besserer Lebensabend beschieden sein. Ich will helfen, so viel ich kann und in meinen Kräften liegt.

Mein Bruder Emil kommt nun aus der 6. Klasse. Man konnte ihn mit Rücksicht auf die gegenwärtigen Kriegsverhältnisse entgegen seinen Wünschen nicht in die Realschule anmelden. Ich halte nun aber dafür, dass er unbedingt in die Realschule gehen soll und ich erkläre mich bereit, ihm das Bahngeld zu vergüten. Wenn mein Bruder nicht eine tüchtige Schulung hat, so wird aus ihm nichts Rechtes werden. Die Verantwortung dafür kann und will ich nicht tragen, umso weniger, als Emil selbst den heissen Wunsch geltend macht[,] in die Realschule zu gehen. Ich will ihm dazu verhelfen.

Zur Geschichte der Realschulen in der Schweiz vgl. den Eintrag im Historischen Lexikon: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10426.php

Die Figur im Beitragsbild – Lernstoff im Fach Geometrie an Sekundar- und Realschulen – sollte folgende Eigenschaften eines pyhtagoräischen Dreiecks veranschaulichen: Das Hypotenusenquadrat [sic] ist gleich der Summe der Kathetenquadrate. […] umgekehrt [ist] […] ein Kathetenquadrat […] gleich dem Hypothenusenquadrat weniger das andere Kathetenquadrat. Im hinteren Teil des Schulbüchleins finden sich auch einige nützliche Übersichten über Masse und Gewichte wie die folgende Tabelle. Wer rechnete wohl mit Myriametern?

Masse

Nächster Beitrag: 30. März 1917 (erscheint am 30. März 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 108/1 (Tagebuch Scherrer) und ZNA 02/0079 (Ebneter, K.: Geometrie an Sekundar- und Realschulen, St.Gallen 1916, 2. Heft, S. 115, Beitragsbild und Kommentar)

Briefkopf Wenner

Mittwoch, 7. März 1917 – Ehekorrespondenz

Fritz Wenner schreibt an seine Ehefrau – Papiertaschentücher waren noch nicht erfunden:

Fratte [di Salerno, Süditalien, Wohnort von Fritz und Maria Wenner-Andreae], 7. März 1917.

Mein liebes Frauchen

Ich hoffe es geht Dir immer besser u. dass Du ordentliche Nächte habest; ebenso die Kleinen. Durch Max Salis hörte ich, dass Du am Montag bei seiner Frau warst, u. das ist mir ja ein gutes Zeichen. – Also ich denke[,] Euch morgen früh zu sehen; aber am Abend muss ich wieder zurückreisen, damit ich am Freitag tüchtig hier arbeiten kann; denn es giebt [sic] in diesen Tagen recht viel zu tun und mann wird so wie so während der Arbeit immer so häufig gestört, dass es nicht viel ausgiebt. – Die Wäsche schicke ich Dir durch unsern Kurier. Brot, Honig u. Mellins’s Food hoffe ich Dir selbst morgen zu bringen. – Ich wäre Dir dankbar, wenn Du mir gelegentlich ein Dutzend ganz einfacher Taschentücher (nicht zu gross u. mittelfein) besorgen könntest, denn ich bin sehr schlecht drank in diesem Artikel, natürlich ohne gestickten Namen, da es sonst zu lange gehen würde, denn ich möchte sie gerne bald haben. – Grüsse alle Lieben von mir tausend mal [sic], besonder die l. Bübchen u. sei Du selbst von ganzen Herzen umarmt von Deinem Dich innigst liebenden

Maritino.

In einem früheren Brief vom 26. Februar 1917 verabschiedete sich Fritz Wenner mit den Worten: Mille bacioni a tè[,] Gianni e Dimy [die Söhne Giovanni und Diethelm]! Es umarmt Dich in Eile[,] aber von ganzem Herzen Dein Fritz.

Maria Wenner-Andreae weilte zusammen mit ihren beiden ältesten Söhnen, Giovanni (genannt Gianni) und Diethelm (genannt Dimy/Dimi) im Parker Hotel in Neapel. Sie war in dieser Zeit zum dritten Mal schwanger. Valentin (genannt Pipo) Wenner kam im Sommer 1917 zur Welt.

Zu Fritz und Maria Wenner-Andreae vgl. auch die Beiträge vom 12. Januar 1916 und vom 24. Januar 1916.

Ein weiterer Beitrag zum Ehepaar, diesmal mit einem Brief von Maria Wenner-Andreae an ihren Ehemann wird am 13. April erscheinen.

Mellin’s Food war ein spezielles Kleinkinder-Milch-Getreidepräparat, hergestellt in Boston USA, vermutlich ähnlich wie das Nestlé-Kindermehl aus Lausanne.

Nächster Beitrag: 8. März 1917 (erscheint am 8. März 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/128.1

Tagebuch Kind

Sonntag, 4. Februar 1917 – Kriegsbilanz 1916

Der Gymnasiast Ernst Kind, später Rektor der Kantonsschule St.Gallen, hielt in seinem Tagebuch fest:

4. Februar 1917. Schon ist wieder ein Jahr seit der letzten Eintragung vorbei, und immer noch dauert der Krieg. Im Verhältnis, wie die Sehnsucht nach Frieden wäschst, wächst aber auch die Kriegsrüstung: Seit letztem Herbst hat Deutschland die Zivildienstpflicht; jeder gesunde Erwachsene, Frauen wie Männer, haben [Wort «sich» gestrichen] ihre Arbeitskraft der Landesverteidigung auf irgend eine Weise zur Verfügung zu stellen. Der Lebensmittelmangel macht sich jedenfalls stark fühlbar, wenn auch die Ernte von 1916 besser war als die von 1915. Es fehlt sehr an Fetten. Militärisch haben sich die Mittelmächte dieses Jahr defensiv verhalten mit einer Ausnahme. Gegen Rumänien, das Ende August ohne eigentliche Gründe auch den Krieg erklärte, wurde ein schneller zweiseitiger Angriff geführt und hat zur Eroberung von etwas 2/3 des Landes mit den wichtigsten Städten (Bukarest, Konstanza, Braila etc) geführt. Zwei andere Offensiven der Mittelmächte (im Frühling 1916) haben ihr Ziel nicht erreicht und wurden abgebrochen, besonders diejenigen gegen Italien. Dagegen war die gesamte Entente offensiv. Am meisten erreichte von diesen verschiedenen Offensiven die russische, die ein Stück Galizien und die Bukowina widereroberte. Die Hauptoffensive an der Somme (Franzosen, Engländer und Farbige, mit eigenem und amerikanischem Material) hatte keinen Erfolg; sie führte nur zur Eroberung eines etwa 40 km langen und bis 15 km tiefen Landstreifens und zu beiderseits furchtbaren Verlusten. 3 Anläufe der Italiener erreichten auch ausser der Besetzung von Görz nichts. Eine grosse Seeschlacht am Skagerrak führte zu keiner Entscheidung, keine der heimfahrenden Flotten verfolgte die andere; die Verluste der Engländer sind etwas 2-3 mal so gross wie die deutschen. – Zusammengefasst: militärisch hat sich noch nichts entschieden; strategisch sind die Mittelmächte immer noch sehr im Vorteil; an Mitteln sind die andern jedenfalls reicher.

Im Dezember 1916 kam der Friedensvorschlag der Zentralmächte. Wilson und die andern Neutralen suchten die Gelegenheit zu benutzen und förderten die Bestrebungen. Die Entente wies schroff ab. Die Folge davon ist, um die Entscheidung schnell herbeizuführen, als letztes furchtbares Radikalmittel, die Ankündigung des uneingeschränkten Unberseebootskrieges durch Deutschland. Um England, Frankreiche, Italien und das östliche Mittelmeer wird eine Sperrlinie beschrieben, innert welcher jedes Schiff ohne Umstände versenkt werden soll. Der Plan ist eine gleiche Aushungerung, wie sie die englische Blokade [sic] in Deutschland herbeiführen soll.

Heute, am 4. Februar, also 3 Tage nach dem Beginn der U-Bootsblokade, trifft die Nachricht vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika ein. Der deutsche Gesandte in Washington hat seine Pässe bekommen. Ob das zur Kriegserklärung führt? Dann wird, abgesehen von allem andern, die Zufuhr für die Schweiz vernichtet sein. Die Folgen werden sich dann bald zeigen. –

Das Jahr 1916 hat in der Familie eine grosse Lücke gerissen. Die liebe Grossmama Aldinger ist im Mai in St.Gallen gestorben (mit 83 Jahren.) Sie war zuletzt fast blind; auch mit dem Gehör schlecht dran, aber immer noch frisch im Geist und voll Liebe für alle. Der Mittelpunkt der Familie ist in ihr verloren gegangen und durch ihren Tod das liebe Grosseltern-Haus verödet, mein eigentliches Heimathaus, denn meine Eltern besassen nie eines und wohnten in Miete. –

Papa steht an der Grenze; seit Neujahr ist [Wort «der» gestrichen] er Kommandant der Gebirgs-Infanteriebrigade 15, nachdem er bisher eine Landwehrbrigade geführt hatte. 

Nächster Beitrag: 5. Februar 1917 (erscheint am 5. Februar 2017)

Quelle: Staatsarchiv St.Gallen, W 073/2.1 (Tagebuch Ernst Kind)

August Andreae-Korff

Dienstag, 2. Januar 1917 – «die Schlechtigkeit der Welt»

August Andreae-Korff (1880-1943) war Textilingenieur und Farmer in Lakemont, Georgia, USA. 1906 hatte er sich mit Minna Korff (1878-?) verheiratet. Am 2. Januar schrieb er an seinen Vater, Alexander Andreae-Stumpf (1846-1926). Als Absendeadresse ist angegeben: 144 South Boulevard, Atlanta, G.a. [Georgia] U.S.A. Der schreibmaschinengeschriebene, orthografisch und interpunktionsmässig fehlerhafte Brief gelangte anschliessend in den Besitz seiner Schwester Maria Wenner-Andreae (1889-1969) in Fratte di Salerno bei Neapel. Bei der im Brief erwähnten «Pima» handelt es sich um Pauline Maria Andreae-Andreae (1873-1953), bei «Rita» um Rita Momm-Andreae (1879-1924), beides Schwestern von August Andreae.

Die weitverzweigte Familie Andreae hat ihren Bürgerort in St.Gallen.

Lieber Papa

Deinen lieben Brief[,] den Du nach Lakemont schick[t]est[,] habe ich ein[i]ge Tage vor Weihnachten erhalten. Es thut [sic] mir sehr leid[,] dass ihr Lieben Euch noch Sorgen um uns machtet. Ihr habt ja der Sorgen so wie so [sic] schon genug, und wenn wir für Missgeschick selbst daran Schuld sind, sollen wir selbst dafür büssen.

Wie ich Euch schrieb bin ich jetzt in Atlanta und habe Anstellung in einer grossen Baumwoll Firma gefunden, deren Angehörige auch in Cannstadt und Ludwigs-Haven, Baumwollspinnereien und Webereien haben. Die Firma hier hat fünf Fabriken in America. Ich bin in der Engineur [sic] und Einkaufsabteilung untergebracht, habe sehr viel zu rechnen und hauptsächlich darauf [zu] sehen[,] dass die Rechnungen, Discontoes [sic] und Quantitäten stimmen. Meine techni[s]che Bildung findet leider noch nicht viel Verwendung und als Anfänger ist mein Gehalt noch bescheiden.

Leider habe ich Minna noch nicht bewegen können[,] ihre Anstellung bei der gleichen Fabrik aufzugeben, d[e]ren Arbeit dort mir übelgenommen wird. Es wird von mir auch verlangt, dass ich mit der Schreibma[s]chine schreibe. Da Deren [sic] Schreibma[s]chinen ein ganz andere Tastenbuchstabierungen als meine hat[,] macht mir die fortwährende Verwechselung viel Schwierigkeiten. Auch muss ich mit Rechenma[s]chinen arbeiten und die Ausgabe der Fabrik und Office Formulare und sonstigen Notwendigkeiten kontrollieren. Siewie [sic] mithelfen am Ausbezahlen und die Angestellten für ihre Ankäufe in der Fabrik zu belasten.

Das Ganze erfordert besonders für einen Neuling sehr viel Aufmerksamkeit und Kopfanstrengung, doch sehe ich[,] dass ich mich ganz gut einarbeiten kann. Dass die armen Kinderchen ganz allein zu Hause gelassen werden, macht mir ziemlich Sorge, zumahl [sic] da sie nachdem sie auf der Farm alle Freiheit genossen haben, ebenso hier auf der Strasse sich einbilden, die gleiche Freiheit aneignen zu dürfen. Auch bieten Ihnen die Schleckereien der Stadt manche Versuchungen und erheilten [sic] sie sich die Süssigkeiten[,] indem sie die Äpfel[,] die ich ihnen von der Farm aus geschickt habe für diese umtauschten. Martha konnte noch nicht in die Schule aufgenommen werden[,] weil sie noch zu jung war, doch kann sie im Februar in die Schule eintreten. Während Ritchen [sic] in die Schule ging[,] musste der armer Wurm ganz allein zu Hause bleiben. Gedeihen tun die Kinder nicht[,] wie auf der Farm.

Wir leben in einer zweizimmerigen Behausung im Arbeiterviertel. Die Arbeiter hier sind alle von einer tiefen Bildungsstufe.

Vor dem Haus ist eine viel mit Outomobil [sic] befahrene Strasse und dahinter ein grosser Friedhof, so dass wir die Grabsteine leicht sehen können. Der Weichkohlenverbrauch hier in der Fabrik und den Häusern lässt einem meisten[s] dreckig aussehen und ist die Luft selten [… unlesbar]. Alles lässt einen den Unterschied mit dem Landleben deutlich fühlen.

An Weihnachten brachte ich die Familie in die Deu[t]sch Lutherische Kirche, woh [sic] am Abend nette Feierlichkeiten aufgeführt wurden, was die Kinder  recht interessierte.

August Andreae-Korff mit Familie in AtlantaAugust und Minna Andreae-Korff mit ihren Töchtern Hertha (geb. 1910) und Rita (geb. 1908) in Atlanta, USA, ca. 1913. Das Beitragsbild ist ein Ausschnitt aus dieser Familienfoto.  Fortsetzung des Briefs an seine Eltern:

Hier ist alles auch recht teuer. Doch glücklicherweise für uns, nicht so teuer wie im bedauerungswerten Europa und besonders in Italien.

Wann wird endlich der Friede kommen[?] Die Schlechtigkeit der Welt lässt sich nicht verleugnen, und anstatt dass die Welt besser geworden ist, ist sie nur brutahler [sic] geworden, roher, blutdürstiger und gehässiger. Zu bedauern sind die Menschen, die in einer solchen Welt geboren werden.

Über den freundlichen Vorschlag von Maria für Minna zu Sorgen [sic] danke ich sehr als wie für Euer liebes Angebot und der der guten Pima. Besser wäre es, wenn die Kinder und Minna überhaupt aus Europa bleiben würden, solange das Elend noch dort anherrscht.

Die Schulen hier sind ganz gut und Ritchen macht schon gut Fortschritte im Englischen. Eine Unterbrechung in ihren Studien wäre auch recht nachteiligh [sic]. In der Fabrik hier arbeiten mehrere[,] die von deutscher Abstammung sind.

Hoffentlich erhalten wir bald gute Nachrichten von Euch. Von Rita hörte ich schon lange nichts mehr und von Pima auch nur durch Euch[.]

Mit dem besten Wunsch[,] dass Neunahr Euch wieder guten Grund zum Frohsein giebt [sic], verbleibe ich [handschriftlich:] mit herzlichen Grüssen

Euer Euch liebender Sohn [handschriftlich] August

Nächster Beitrag: 5. Januar 1917 (erscheint am 5. Januar 2017)

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, W 054/128.1 (Text) und W 054/130.13.62 (August Andreae-Korff und Familie in Atlanta, ca. 1913)

 

 

Mittwoch, 29. November 1916 – Verführung von Frauenspersonen soll neuerdings bestraft werden

Oben: Ob der „ledige Herr gesetzten Alters“ aus dem St.Galler Tagblatt vom 29. November 1916 bis dato wohl enthaltsam gelebt hatte?

Am 29. November 1916 behandelt der Grosse Rat das „Nachtragsgesetz zum Strafgesetz über Verbrechen und Vergehen vom 4. Januar 1886“, darunter auch den Artikel 177 („einfache Unzucht“):

Als Art. 177 wird ohne Diskussion folgende von der Kommission vorgeschlagene neue Fassung angenommen:

„Art. 177. Einfache Unzucht wird im ersten Falle polizeilich mit einer Geldstrafe von Fr. 20.- bis Fr. 40.-, im Rückfalle gerichtlich mit Geldstrafe von Fr. 40.- bis Fr. 100.- allein oder in Verbindung mit Gefängnis bis auf drei Monate bestraft.

Das Strafverfahren ist aufzuheben:

a) gegenüber Personen, die schwerer Verführung erlagen;

b) gegenüber Frauenspersonen, die infolge der Schwangerschaft oder der Niederkunft in eine Notlage geraten, wenn nicht besondere Gründe dagegen sprechen.

Aus den gleichen Gründen hat auch der Richter auf Straflosigkeit zu erkennen.

Die Verehelichung der Fehlbaren hat die Aufhebung des Strafverfahrens oder die Ausserkraftsetzung eines noch nicht vollzogenen Straferkanntnisses zur Folge.“

Desgleichen erhält der von der Kommission neu vorgeschlagene Art. 177 bis, lautend

„Art. 177 bis. Wer eine unmündige Person von mehr als 16 Jahren durch Missbrauch ihrer Unerfahrenheit oder ihres Vertrauens, oder wer eine Frauensperson durch Ausnützung ihrer Notlage oder ihrer Abhängigkeit zur Unzucht verführt, wird mit Arbeitshaus bis auf 6 Monate oder mit Gefängnis bis auf ein Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Freiheitsstrafe und Geldstrafe können auch verbunden werden“

(…) die diskussionslose Zustimmung der Versammlung.

Das Strafgesetz sanktionierte eine ganze Reihe von sexuellen Aktivitäten, welche zumindest hierzulande heute längst keine Vergehen mehr darstellen. Während Homosexualität und Prostitution höhere Strafmasse nach sich ziehen konnten, zählte die „einfache Unzucht“ – d.h. der Geschlechtsverkehr zwischen zwei ledigen Erwachsenen – zu den leichteren Vergehen. Grundsätzlich konnte die zwischengeschlechtliche Sexualität aber nur innerhalb einer Ehe legal ausgelebt werden. Über ledigen Verliebten, Ehebrecherinnen und Ehebrechern sowie Freiern und Prostituierten hing somit stets der jeweilige Paragraph als Damoklesschwert.

Quellen: Staatsarchiv St.Gallen, AGR B 1 (Protokoll des Grossen Rates) und P 909 (St.Galler Tagblatt)